Kampf um Verletztenrente: Wie ein Unfall vor 29 Jahren ein Leben verändert
Das Landessozialgericht Hamburg wies die Berufung der Klägerin gegen die Ablehnung einer Verletztenrente zurück. Die Klägerin erlitt 1989 einen Unfall, der zu langanhaltenden Beschwerden führte. Die Gutachter und das Gericht erkannten eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 10% an, was für eine Verletztenrente nicht ausreicht. Zusätzliche Beschwerden, wie die von der Klägerin beschriebene Depression, wurden nicht als Unfallfolge anerkannt.
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✔ Das Wichtigste in Kürze
Die zentralen Punkte aus dem Urteil:
- Unfall im Jahr 1989: Die Klägerin erlitt als Schülerin einen Unfall, der zu einem Ausriss der linken Tibia-Apophyse führte.
- Anspruch auf Verletztenrente: Die Klägerin forderte aufgrund langanhaltender Beschwerden eine Verletztenrente.
- Bewertung der Erwerbsfähigkeit: Gutachter stellten eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 10% fest.
- Ablehnung der Rentengewährung: Die Beklagte lehnte die Gewährung einer Verletztenrente ab, da keine wesentliche Änderung der Erwerbsfähigkeit festgestellt wurde.
- Widerspruch und Klage: Die Klägerin legte Widerspruch und Klage ein, da sie ihre Beschwerden als erheblich ansah.
- Gerichtsurteil: Das Landessozialgericht Hamburg bestätigte die Entscheidung der Beklagten und wies die Berufung zurück.
- Keine kausale Verbindung zu weiteren Beschwerden: Die Klägerin schilderte weitere Gesundheitsprobleme, die aber nicht als Unfallfolgen anerkannt wurden.
- Rechtsgrundlage: Die Entscheidung basiert auf dem Maßstab der individuellen Erwerbsfähigkeit vor dem Unfall und allgemeinen sozialrechtlichen Prinzipien.
Übersicht
Die Relevanz der Verletztenrente im Sozialrecht
Im Bereich des Sozialrechts nimmt die Verletztenrente eine wesentliche Rolle ein. Sie ist ein zentraler Aspekt, wenn es um die Kompensation von langfristigen gesundheitlichen Beeinträchtigungen nach einem Unfallereignis geht. Besonders im Fokus stehen dabei die Auswirkungen solcher Ereignisse auf die Erwerbsfähigkeit der betroffenen Personen. Die Beurteilung, ob und inwiefern ein Unfall langfristige Folgen für das Opfer hat, basiert maßgeblich auf medizinischen Gutachten. Diese bewerten, inwieweit Unfallfolgen wie beispielsweise anhaltende Probleme im Kniegelenk die Fähigkeit einer Person, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, beeinflussen.
Der folgende Bericht befasst sich mit dem Fall einer Klägerin, die nach einem Unfall im Sportunterricht mit den langfristigen Folgen zu kämpfen hat. Die Auseinandersetzung mit der Versicherung und den rechtlichen Instanzen beleuchtet die Komplexität und Tragweite von Entscheidungen im Sozialrecht. Es wird deutlich, wie entscheidend die Interpretation von medizinischen Fakten und die Beurteilung der Erwerbsfähigkeit in solchen Fällen sind. Lesen Sie weiter, um einen tieferen Einblick in diesen spezifischen Fall und die damit verbundenen rechtlichen Überlegungen zu erhalten.
Langwieriger Rechtsstreit um Verletztenrente nach Schulunfall
Im Jahr 1989 erlitt eine Schülerin während des Sportunterrichts einen Unfall, der zu einem Ausriss der linken Tibia-Apophyse führte. Dieses Ereignis bildet den Ausgangspunkt eines langjährigen Rechtsstreits um die Verletztenrente. Die Klägerin machte geltend, dass die Unfallfolgen eine Verletztenrente rechtfertigen würden. Nachdem ihr zunächst eine Rente gewährt wurde, endete diese jedoch im Juni 1989. Über die Jahre klagte sie über zunehmende Beschwerden im Kniegelenk, die sie auf den Unfall zurückführte.
Medizinische Gutachten als Dreh- und Angelpunkt
Im Laufe des Verfahrens wurden mehrere medizinische Gutachten erstellt, um die Erwerbsfähigkeit der Klägerin und den Zusammenhang zwischen ihren Beschwerden und dem Unfallereignis zu bewerten. Die Gutachter kamen zu dem Schluss, dass die Beschwerden der Klägerin, einschließlich der Verschleißumformungen des linken Kniegelenks und der mäßigen Minderung des Muskel-Weichteilmantels am linken Bein, eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 10 Prozent bedeuten. Allerdings wurden keine wesentlichen Funktionseinschränkungen in Bezug auf Streckung und Beugung des Knies festgestellt.
Die Entscheidung des Sozialgerichts
Das Landessozialgericht Hamburg wies die Berufung der Klägerin zurück. Es folgte den Ausführungen der medizinischen Sachverständigen, wonach die Beschwerden im Knie und die daraus resultierenden Folgen für die Erwerbsfähigkeit der Klägerin korrekt mit 10 Prozent bewertet wurden. Das Gericht vertrat die Ansicht, dass keine wesentliche Änderung der Unfallfolgen festzustellen sei und somit keine rentenberechtigte Minderung der Erwerbsfähigkeit vorliege. Dies bedeutet, dass die Klägerin keinen Anspruch auf eine höhere Verletztenrente hat.
Weiterführende Überlegungen und Konsequenzen
Die Klägerin argumentierte, dass ihre Beschwerden und die daraus resultierenden psychischen Belastungen, wie Depressionen und somatoforme Schmerzstörungen, direkt auf das Unfallereignis zurückzuführen seien. Doch das Gericht folgte dieser Auffassung nicht und stellte fest, dass die psychischen Erkrankungen der Klägerin nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit auf das Unfallereignis zurückzuführen sind. Dieses Urteil illustriert die Schwierigkeit, einen direkten kausalen Zusammenhang zwischen einem lange zurückliegenden Unfall und aktuellen gesundheitlichen Problemen herzustellen.
Das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg in dieser Angelegenheit ist somit ein Beispiel für die Komplexität von Fällen, in denen es um langfristige Folgen von Arbeitsunfällen und die damit verbundene Beurteilung der Erwerbsfähigkeit geht.
✔ Wichtige Begriffe kurz erklärt
Was ist eine Verletztenrente und unter welchen Bedingungen wird sie gewährt?
Die Verletztenrente ist eine Leistung der gesetzlichen Unfallversicherung in Deutschland. Sie wird Personen gewährt, die aufgrund eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit dauerhaft erwerbsgemindert sind und dadurch ihren Lebensunterhalt nicht mehr oder nur noch eingeschränkt aus eigener Erwerbstätigkeit bestreiten können.
Die Verletztenrente wird unter bestimmten Bedingungen gewährt. Eine wesentliche Voraussetzung ist, dass die Erwerbsfähigkeit des Versicherten um mindestens 20 Prozent für mindestens ein halbes Jahr aufgrund eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit gemindert ist. Wenn die Minderung der Erwerbsfähigkeit weniger als 20 Prozent beträgt, wird die Verletztenrente nur dann gezahlt, wenn die Erwerbsfähigkeit durch weitere Versicherungsfälle zusätzlich gemindert ist. Eine Ausnahme gilt bei Versicherungsfällen ab dem 1. Januar 2008 bei landwirtschaftlichen Unternehmern, deren Ehegatten und Familienangehörigen. Hier ist eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von wenigstens 30 Prozent Voraussetzung für einen Rentenanspruch.
Die Höhe der Verletztenrente richtet sich nach dem Grad der Erwerbsminderung und dem in den vollen zwölf Monaten vor dem Versicherungsfall bezogenen Verdienst. Bei vollständigem Verlust der Erwerbsfähigkeit (Minderung der Erwerbsfähigkeit 100 Prozent) beträgt die Verletztenrente zwei Drittel des vor dem Versicherungsfall erzielten Jahresarbeitsverdiensts. Bei einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um wenigstens 1/5 wird der Teil der Vollrente (Teilrente) gewährt, der dem Grad der Erwerbsminderung entspricht. Die Rente ist steuerfrei.
Die Verletztenrente wird zum gleichen Zeitpunkt und um den gleichen Prozentsatz erhöht wie die Renten der gesetzlichen Rentenversicherung. Die Zahlung der Verletztenrente beginnt an dem Tag, der auf den Tag folgt, an dem der Anspruch auf Verletztengeld endet.
Das vorliegende Urteil
Landessozialgericht Hamburg – Az.: L 2 U 34/21 – Urteil vom 19.04.2023
1. Die Berufung wird zurückgewiesen.
2. Außergerichtliche Kosten der Klägerin sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
3. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt von der Beklagten die Gewährung einer Verletztenrente aufgrund eines Unfallereignisses vom 12. Januar 1989.
Die Klägerin ist 1976 geboren und erlitt am 12. Januar 1989 als Schülerin einen Unfall im Sportunterricht, als sie beim Anlauf zu einem Hochsprung stürzte und auf das linke Knie fiel. Es wurde ein Ausriss der linken Tibia-Apophyse im Durchgangsarztbericht vom 12. Januar 1989 diagnostiziert.
Das Heilverfahren endete am 30. Juni 1989. Der Klägerin wurde nach dem ersten Rentengutachten des Dr. B3 vom 14. Juli 1989 mit Bescheid vom 24. November 1989 eine Verletztenrente abgestuft bis zum 30. Juni 1989 bewilligt. Als Folgen des Arbeitsunfalles wurden eine knöchern fest verheilte Abrissfraktur der linken Tibia-Apophyse, Verschwellung des linken Kniegelenkes und eine leichte Bandinstabilität im linken Kniegelenk anerkannt.
Die Klägerin meldete sich am 27. Oktober 2008 telefonisch bei der Beklagten und klagte über vermehrte Knieschmerzen. Sie suchte drei Tage später den Durchgangsarzt Dr. K. auf, der eine Chondromalacia patellae diagnostizierte, die keine Unfallfolge sei.
Vom 30. Dezember 2014 bis 03. Februar 2015 befand sich die Klägerin zu einer stationären Maßnahme der medizinischen Rehabilitation in der Klinik am H. in B.. Im Abschlussbericht vom 04. Februar 2015 diagnostizierten die behandelnden Ärzte unter anderem eine Gonarthrose 3. bis 4. Grades links nach Trauma mit Tibia-Splitter-Fraktur. Sie gaben in dem Bericht an, das linke Knie sei normal beweglich, es gebe vermehrte Reibegeräusche und der Umfang des linken Knies sei um 0,5 cm größer als im rechten Knie.
Am 30. Juli 2017 beantragte die Klägerin bei der Beklagten eine Verletztenrente. Sie sei arbeitsunfähig und beziehe seit dem 01. Juli 2014 eine Erwerbsminderungsrente. Sie legte ein Attest von Dr. B2 vom 21. April 2017 vor, der ihre Einschränkungen auf dem psychiatrischen Fachgebiet schilderte. Die Beklagte leitete medizinische Ermittlungen ein. Unter dem 21. Januar 2018 erstellten die medizinischen Sachverständigen Dr. G., Dr. P. und Prof. Dr. J. ein Zusammenhangsgutachten zur Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit aufgrund von Unfallfolgen. Zusammengefasst kamen die Sachverständigen zu dem Ergebnis, dass bei der Klägerin unfallbedingte fortgeschrittene Verschleißumformungen des linken Kniegelenkes nach einer erlittenen Verletzung des Schienbeinkopfes links vor 29 Jahren und eine mäßige Minderung des Muskel-Weichteilmantels am linken Bein vorlägen. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit sei mit 10 vom Hundert (v. H.) einzuschätzen. Nach dem Messblatt für untere Gliedmaßen, waren die Bewegungsdaten nach der Neutral-0-Methode in beiden Kniegelenken und Sprunggelenken seitengleich. Die Gutachter stellten keine messbare Funktionseinschränkung bezüglich der Streckung und Beugung fest.
Mit Bescheid vom 23. Februar 2018 lehnte die Beklagte eine Rentengewährung aufgrund von Unfallfolgen des Arbeitsunfalles vom 12. Januar 1989 mit der Begründung ab, dass keine wesentliche Änderung eingetreten sei und keine Minderung der Erwerbsfähigkeit in rentenberechtigendem Grade vorliege.
Am 21. März 2018 erhob die Klägerin Widerspruch und führte zur Begründung aus, die Beschwerden seien so erheblich, dass eine Verletztenrente zu gewähren sei. Sie spüre in der Beugung/Streckung der Kniegelenke deutliche Unterschiede zwischen rechts und links. Das linke Bein sei zudem kürzer, die linke Ferse hebe sich beim Stehen ab. Durch die Unfallfolgen seien ihre sonstigen orthopädischen Beschwerden aufgrund ihrer Schon-/Fehlhaltung begünstigt worden. Sie leide unter erheblichen Schmerzen, sei eingeschränkt beim Treppensteigen, habe Stolperangst, fange nach vielem Laufen an zu humpeln und leide als Folge der Schmerzen an Schlafstörungen, die zu mangelnder Konzentration, Erschöpfung und Überforderungen führten.
Unter dem 19. November 2018 fertigte der Facharzt für Chirurgie und Unfallchirurgie Dr. T. ein chirurgisches Gutachten im Auftrag der Beklagten und kam zusammengefasst zu dem Ergebnis, dass als Unfallfolge eine endgradige Beugeeinschränkung am linken Kniegelenk, Verschleißumformungen des linken Kniegelenks nach knöcherner Refixation eines Apophysenausrisses mit Querfraktur an der Schienbeinkopfrauigkeit links sowie eine Schwellneigung des linken Kniegelenks, eine beklagte Belastungsbeschwerdesymptomatik am linken Kniegelenk und eine dezente Beinverkürzung links um 1 cm festzustellen seien. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit sei aufgrund der Beugeeinschränkung bei 120° mit 10 v. H. einzuschätzen. Es liege keine Instabilität vor und die geringe Beinverkürzung führe nicht zu einer Erhöhung der Minderung der Erwerbsfähigkeit. Ein isoliertes Schmerzsyndrom betreffend des linken Knies ist nach Auffassung von Dr. T. nicht anzunehmen und die Einschränkungen an der Hals- und Brustwirbelsäule sind seines Erachtens degenerative Erkrankungen und keine mittelbare Unfallfolge.
Die Klägerin hielt ihren Widerspruch in Kenntnis des Gutachtens aufrecht. Längeres Gehen sei nicht untersucht worden, sie trage zudem Einlagen zum Ausgleich der Beinverkürzung. Sie könne das linke nicht so beanspruchen wie das rechte Bein und leide an chronischen Schmerzen.
Mit Widerspruchsbescheid vom 17. Juni 2019 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin zurück und führte zusammengefasst aus, nach den Erfahrungswerten in der Literatur und den Feststellungen der medizinischen Sachverständigen sei die Minderung der Erwerbsfähigkeit aufgrund von Unfallfolgen weiterhin mit 10 v. H. einzuschätzen. Damit könne eine Verletztenrente nicht gewährt werden.
Am 28. Juni 2019 hat die Klägerin Klage erhoben mit der Begründung, ihr stünde aufgrund von Unfallfolgen eine Verletztenrente zu. Ein isoliertes Schmerzsyndrom des linken Kniegelenks sei unzutreffend nicht festgestellt worden.
Die Beklagte hat sich im Wesentlichen auf die Ausführungen in den angefochtenen Bescheiden bezogen.
Das Sozialgericht hat zur Aufklärung des Sachverhaltes die Verwaltungsunterlagen der Beklagten beigezogen und medizinische Ermittlungen durchgeführt. Die behandelnden Ärzte der Klägerin wurden als sachverständige Zeugen befragt. Der Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie Prof. Dr. B1 hat am 22. Januar 2020 ausgesagt, es bestehe bei der Klägerin eine Beinlängendifferenz von 0,5 bis 1 cm, er habe eine Krepitation festgestellt und einen Weichteilkonflikt. Die Bewegungsausmaße für das linke Knie teilt er mit 10-0-110° mit. Auf Veranlassung des Gerichts hat der Facharzt für Chirurgie und Unfallchirurgie, Chirotherapie, Sportmedizin und Sozialmedizin M. die Klägerin untersucht und unter dem 27. Oktober 2020 ein fachchirurgisches Gutachten erstattet. Zusammengefasst hat der medizinische Sachverständige die Minderung der Erwerbsfähigkeit mit 10 v. H. eingeschätzt, eine Änderung sei nicht eingetreten. Bei der Klägerin liege ein vielörtliches funktionelles Beschwerdebild im Bereich der Wirbelsäule vor. Die Funktionsstörungen der Wirbelsäule seien keine mittelbare Unfallfolge und die Beinverkürzung sei harmlos. Hinsichtlich der weiteren Ausführungen des Sachverständigen wird auf Bl. 108 bis 130 der Gerichtsakte ausdrücklich Bezug genommen.
Die Klägerin hat das Gutachten angegriffen. Die Schmerzen und dadurch verursachter Stress sowie die schlechte Schlafqualität hätten ihre Depression ausgelöst. Sie schildert ihre Schmerzen und Bewegungseinschränkungen.
In der ergänzenden Stellungnahme vom 6. Mai 2021 hat der Sachverständige ausgeführt, dass die degenerativen Veränderungen der Bandscheibe im Segment L3/L4, die Skoliose der oberen Brustwirbelsäule sowie degenerative Veränderungen der Halswirbelsäule in keinem kausalen Zusammenhang zum Unfallereignis stünden. Auf Bl. 148 bis 154 der Prozessakte wird ergänzend Bezug genommen.
Das Sozialgericht hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 1. Oktober 2021 abgewiesen. Die Klägerin habe keinen Anspruch auf die Feststellung einer höheren Minderung der Erwerbsfähigkeit und damit die Gewährung einer Verletztenrente, denn eine wesentliche Änderung der Unfallfolgen sei nicht festzustellen und eine rentenberechtigte Minderung der Erwerbsfähigkeit sei nicht eingetreten. Das Gericht folge allen Gutachten aus dem Verwaltungsverfahren sowie dem Gutachten des Sachverständigen M., die die unfallbedingt bestehenden Funktionseinschränkungen des linken Kniegelenks bei der Klägerin schlüssig und zutreffend mit 10 v.H. bewertet hätten. Ein Stützrententatbestand sei weder ersichtlich noch vorgetragen.
Gegen den ihr am 7. Oktober 2021 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 28. Oktober 2021 Berufung eingelegt. Der Sachverständige M. gehe davon aus, dass die bei ihr bestehende Depression sowie das funktionelle Beschwerdebild an der Wirbelsäule nicht auf den Unfall bzw. die Beinverkürzung zurückzuführen seien. Dies könne sie nicht nachvollziehen. Sie erlebe, dass durch eine Fehlfunktion/-haltung weitere zusammenhängende Bereiche physikalisch beeinflusst würden. Das linke Knie sei nicht so beweglich wie das rechte Knie. Sie habe Schwierigkeiten beim Hocken und Wiederaufrichten. Es seien bereits deutlich fortgeschrittene Verschleißumformungen nachgewiesen, sie leide an chronischen Schmerzen und Bewegungseinschränkungen.
Die Klägerin beantragt, den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Hamburg vom 01. Oktober 2021 aufzuheben und den Bescheid der Beklagten vom 23. Februar 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Juni 2019 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr eine Verletztenrente aufgrund der Unfallfolgen des Arbeitsunfalles vom 12. Januar 1989 zu bewilligen.
Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Sie bezieht sich auf die eingeholten Gutachten und die ihrer Ansicht nach zutreffenden Erwägungen des Sozialgerichts.
Mit Übertragungsbeschluss vom 22. Dezember 2021 hat der Senat der Berichterstatterin, die zusammen mit den ehrenamtlichen Richtern entscheidet, das Verfahren nach § 153 Abs. 5 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) übertragen.
Außer der Gerichtsakte haben die die Klägerin betreffenden Verwaltungsakten vorgelegen und waren Gegenstand der Entscheidungsfindung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Akten ergänzend Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die statthafte (§§ 143, 144 SGG) und auch im Übrigen zulässige, insbesondere form- und fristgerecht eingelegte (§ 151 SGG) Berufung ist unbegründet. Das Sozialgericht hat die zulässige kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 und 4 SGG) zu Recht und mit zutreffender Begründung, auf die nach eigener Überprüfung der Sach- und Rechtslage gemäß § 153 Abs. 2 SGG unter Absehen einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe Bezug genommen wird, abgewiesen. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Aufhebung der angefochtenen Bescheide und Gewährung einer Verletztenrente.
Ergänzend wird lediglich auf Folgendes hingewiesen:
Versicherte haben Anspruch auf eine Verletztenrente, wenn ihre Erwerbsfähigkeit in Folge eines Versicherungsfalles über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 v. H. gemindert ist (§ 56 Abs. 1 Satz 1 des Siebten Buches Sozialgesetzbuch <SGB VII>). Ist die Erwerbsfähigkeit infolge mehrerer Versicherungsfälle gemindert und erreichen die Vomhundertsätze zusammen wenigstens die Zahl 20, besteht für jeden, auch für einen früheren Versicherungsfall, Anspruch auf Rente.
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) müssen die anspruchsbegründenden Tatsachen, nämlich die versicherte Tätigkeit, die schädigende Einwirkung und der Gesundheitserstschaden bzw. der Tod erwiesen sein. Dies bedeutet, dass bei vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens der volle Beweis für das Vorliegen der genannten Tatsachen als erbracht angesehen werden kann (BSG, Urteil vom 30. April 1985, 2 RU 43/84, BSGE 58, 80). Dagegen genügt hinsichtlich des ursächlichen Zusammenhangs eine hinreichende Wahrscheinlichkeit (BSG, Urteil vom 18. Januar 2011 – B 2 U 5/10 R, SozR 4-2700 § 200 Nr. 3). Eine hinreichende Wahrscheinlichkeit ist dann anzunehmen, wenn bei vernünftiger Abwägung aller wesentlichen Gesichtspunkte des Einzelfalls mehr für als gegen einen Ursachenzusammenhang spricht, wobei dieser nicht schon dann wahrscheinlich ist, wenn er nicht auszuschließen oder nur möglich ist (BSG, Urteil vom 18. Januar 2011, a.a.O.).
Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) richtet sich gemäß § 56 Abs. 2 Satz 1 SGB VII nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens. Es ist auf den Maßstab der individuellen Erwerbsfähigkeit des Verletzten vor Eintritt des Versicherungsfalls abzustellen (BSG, Urteil vom 26. November 1987 – 2 RU 22/87, SozR 2200 § 581 Nr. 27). Maßgeblich ist aber nicht die konkrete Beeinträchtigung im Beruf des Versicherten, sondern eine abstrakte Berechnung (vgl. Bereiter-Hahn/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, Stand 3/2017, § 56 Rn. 10.1).
Die Klägerin hat unstreitig am 12. Januar 1989 einen Arbeitsunfall erlitten, als sie im Rahmen des Sportunterrichts als Schülerin stürzte. Durch den Arbeitsunfall ist es zu einem Ausriss der linken Tibia-Apophyse gekommen, die nunmehr zu Belastungsbeschwerden des linken Kniegelenks bei fortgeschrittener Verschleißumformung in allen Kniegelenksräumen, einer leichten Muskelverschmächtigung des linken Beines, einer Beinverkürzung des linken Unterschenkels nach Fraktur im Bereich der Wachstumsfuge des Schienbeinkopfes links und einer leichten Skoliose der Lendenwirbelsäule ohne Funktionsstörung und ohne strukturelle Veränderungen geführt hat.
Zu Recht hat die Beklagte die sich daraus ergebenden Folgen mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 10 v.H. bewertet. Dies ergibt sich aus den vom Sachverständigen M. festgestellten Bewegungsausmaßen von 10-0-110° (vgl. Schönberger-Mehrtens-Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Auflage, 2017, S. 685). Eine Knieinstabilität wurde nicht festgestellt.
Ein Stützrententatbestand kommt nicht in Betracht, da die Klägerin nach eigenen Angaben keinen weiteren Versicherungsfall erlitten hat. Die von der Klägerin subjektiv wahrgenommenen Einschränkungen bei der Streckung und Beugung des linken Kniegelenks ließen sich in dem geschilderten Ausmaß nicht objektivieren. Auch die Beinverkürzung ist ausweislich der erhobenen Befunde nicht so erheblich, dass sich hieraus weitere Beeinträchtigungen des Leistungsvermögens ableiten lassen.
Die weiteren von der Klägerin geltend gemachten Beschwerden in den verschiedenen Segmenten der Wirbelsäule sind nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit auf den Unfall vom 12. Januar 1989 zurückzuführen. Die Kausalität setzt zunächst einen naturwissenschaftlichen Ursachenzusammenhang zwischen dem Unfallereignis und dem Gesundheitsschaden voraus. Es ist daher in einem ersten Schritt zu klären, ob der Gesundheitsschaden auch ohne das Unfallereignis eingetreten wäre. Ist dies der Fall, war das Unfallereignis für den Gesundheitsschaden schon aus diesem Grund nicht ursächlich. Andernfalls ist in einem zweiten, wertenden Schritt zu prüfen, ob das versicherte Unfallereignis für den Gesundheitsschaden wesentlich war. Denn als im Sinne des Sozialrechts ursächlich und rechtserheblich werden nur solche Ursachen angesehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben. Dabei ist zunächst zu prüfen, ob neben der versicherten Ursache weitere Ursachen im naturwissenschaftlichen Sinn (erste Stufe) zum Gesundheitsschaden beitrugen. Gab es neben der versicherten Ursache noch andere, konkurrierende Ursachen (im naturwissenschaftlichen Sinn), z.B. Krankheitsanlagen, so war die versicherte Ursache wesentlich, sofern die unversicherte Ursache nicht von überragender Bedeutung war. Eine überwiegende oder auch nur gleichwertige Bedeutung der versicherten gegenüber der konkurrierenden Ursache ist damit für die Annahme des ursächlichen Zusammenhangs nicht Voraussetzung.
Der Sachverständige M. hat nachvollziehbar und schlüssig dargelegt, dass die degenerativen Veränderungen der Bandscheibe im Segment L3/L4, die Skoliose der oberen Brustwirbelsäule sowie die degenerativen Veränderungen der Halswirbelsäule in keinem kausalen Zusammenhang zum Unfallereignis stehen. Denn dazu bedürfte es statischer Veränderungen, z.B. Folgen einer nicht ausgeglichenen Beinverkürzung von 2,5 bis 3 cm. Dies ist bei der Klägerin jedoch nicht festzustellen, ihr linkes Bein ist nach den übereinstimmenden Angaben von Dr. T., Prof. Dr. B1 und des Sachverständigen M. um 1 cm gegenüber rechts verkürzt. Alternativ käme eine dynamische Fehlbelastung in Betracht, die bei der Klägerin ebenfalls nicht festzustellen ist. Dynamische Fehlbelastungen der Wirbelsäule erkennt man ausweislich der überzeugenden Darlegungen des Sachverständigen rückwirkend an einem veränderten Muskelrelief, d.h. an einem muskulären Ungleichgewicht. Dies sei nach der Literatur nur in extremen Ausnahmefällen bei Menschen nach einer Oberschenkelamputation mit kurzem Stumpf gesehen worden. Die bei der Klägerin vorliegende Beinverkürzung von 1 cm und die skoliotische Fehlhaltung von 7° kann nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen hingegen nicht zu einer strukturellen Änderung mit Bandscheibenschaden führen.
Die bei der Klägerin bestehenden Erkrankungen auf psychiatrischem Fachgebiet, insbesondere die Depression sowie die somatoforme Schmerzstörung sind nach Überzeugung des Gerichts ebenfalls nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit auf das Unfallereignis am 12. Januar 1989 zurückzuführen. Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass die von der Klägerin geltend gemachte Schlaflosigkeit, mangelnde Konzentrationsfähigkeit, Erschöpfung und Überforderung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit Folgen der unfallbedingten Beeinträchtigungen am linken Knie sein könnten. Aus den Aussagen der behandelnden Ärzte, den Ausführungen der Gutachter und des Sachverständigen sowie den Angaben im Bericht über die Maßnahme der stationären Rehabilitation vom 04. Februar 2015 ist nämlich ersichtlich, dass die Klägerin unter Schmerzen in verschiedenen Körperregionen leidet. Wie bereits dargelegt, sind allerdings nur die Beeinträchtigungen im Bereich des linken Knies auf den Unfall am 12. Januar 1989 zurückzuführen, nicht jedoch die weitergehenden Beeinträchtigungen im Bereich der Wirbelsäule. Zu den Schmerzen hinzu kommen verschiedene familiäre Belastungen der Klägerin, wie Dr. B2 in seinem Attest vom 23. November 2018 darlegt. Aus dem Bericht der Ärztin Bode vom 16. Juni 2017 über den teilstationären Aufenthalt der Klägerin in dem Asklepios Klinikum Harburg vom 15. Juni 2017 bis 04. August 2017 wird die Überforderungssituation der Klägerin innerhalb der Familie deutlich. Anhaltspunkte dafür, dass die Schmerzen im Knie gegenüber den anderen zahlreichen Ursachen rechtlich wesentlich die psychischen Erkrankungen der Klägerin beeinflusst haben könnten, bestehen hingegen nicht. Ein isoliertes Schmerzsyndrom des linken Kniegelenks haben weder die behandelnden Ärzte noch die gehörten Gutachter oder der Sachverständige festgestellt. Weder aus den Aussagen von Dr. B2 noch aus den übrigen Berichten ergibt sich, dass die Knieschmerzen überhaupt die festgestellte Depression beeinflusst haben könnten. Das Gericht sieht insoweit auch keine Anhaltspunkte für weitere Ermittlungen.
Die Entscheidungen des Sozialgerichts Hamburgs und der Beklagten sind nach alledem nicht zu beanstanden.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG. Gründe für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor.