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Anerkennung posttraumatische Belastungsstörung als Arbeitsunfallsfolge

SG Münster – Az.: S 10 U 200/14 – Urteil vom 08.09.2016

Die Klage wird abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

Streitig ist die Anerkennung einer posttraumatischen Belastungsstörung als Unfallfolge.

Der 1932 geborene Kläger erlitt am 28.06.1971 einen Arbeitsunfall, als er im Rahmen einer Dienstfahrt mit einem entgegenkommenden, ins Schleudern geratenen Fahrzeugs kollidierte. Er erlitt dabei zahlreiche Verletzungen, u.a. eine Schädelprellung mit Verdacht auf Gehirnerschütterung.

Die Beklagte gewährte dem Kläger zuletzt Rente auf unbestimmte Zeit nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 80 v. H. Im Jahre 2002 wurde Pflegebedürftigkeit anerkannt in Höhe von 20 Prozent.

An Unfallfolgen bestehen: Bewegungseinschränkungen des linken Hüft- und Kniegelenkes nach Oberschenkelfrakturen sowie des rechten oberen und unteren Sprunggelenkes nach Knöchelfrakturen, eine Beinverkürzung links, eine Muskelminderung des linken Beines, Weichteilverkalkungen am linken Hüftgelenk, eine O-Beinstellung links und Blutumlaufstörungen bei postthrombotischem Syndrom der Unterschenkel mit wiederkehrender Geschwürsbildung.

Unfallunabhängig bestehen folgende Gesundheitsstörungen: eine Krallenstellung der Zehen, arthrotische Veränderungen der Kniegelenke, degenerative Schultergelenksveränderungen mit Bewegungseinschränkung, eine Torsionsskoliose der Wirbelsäule, eine Blockwirbelbildung des 3. bis 5. Halswirbelkörpers, ein latentes Karpaltunnelsyndrom rechts, Bluthochdruck mit Herzleistungsschwäche, eine chronische Bronchitis, eine Hörminderung beiderseits, eine zerebrovaskuläre Insuffizienz bei Encephalopathie und Insult, Stenosen der A. carotis interna beiderseits, Konzentrationsstörungen, eine Minderung der Gedächtnisleistung, eine Affektlabilität, depressive Verstimmungen und ein hypokinetisch-rigides Syndrom.

Im Juli 2002 beantragte der Kläger u.a. eine posttraumatische Belastungsstörung als Unfallfolge anzuerkennen.

Die Beklagte legte dazu sämtliche medizinischen Unterlagen ihrem beratenden Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. Dr. X. zur Stellungnahme vor. Dieser gelangte zu dem Ergebnis, das der schlüssige Nachweis einer unfallursächlichen posttraumatischen Belastungsstörung nicht geführt werden könne, weil nachweislich bis zum Jahresende 1973 als ca. 2,5 Jahre nach dem Unfall, keine psychopathologischen Auffälligkeiten bei dem Kläger diagnostiziert worden seien. Zeitnah zum Unfall seien keine akuten seelischen Belastungsreaktionen aufgetreten.

Mit Bescheid vom 18.07.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.05.2014 lehnte die Beklagte daraufhin die Anerkennung einer posttraumatischen Belastungsstörung ab.

Wegen dieser Entscheidung hat der Kläger am 10.06.2014 Klage erhoben. Er behauptet im Wesentlichen, eine posttraumatische Belastungsstörung sei als Unfallfolge anzuerkennen.

Der Kläger beantragt, den Bescheid vom 18.07.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.05.2014 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, eine posttraumatische Belastungsstörung als Folge des Arbeitsunfalls vom 28.06.2971 anzuerkennen.

Die Beklagte beantragt,  die Klage abzuweisen.

Sie bezieht sich in ihrer Klageerwiderung im Wesentlichen auf die Gründe der angefochtenen Bescheide.

Auf Antrag des Klägers im Rahmen von § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat das Gericht ein Gutachten von dem Arzt für Neurologie und Psychiatrie Prof. Dr. T. eingeholt. Der Sachverständige ist zu dem Ergebnis gelangt, es liege eine depressive Anpassungsstörung mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit mit ausgeprägten depressiven, somatoformen und posttraumatischen Störungen vor.

Das Gericht hat den Kläger sodann von Amts wegen von dem Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. C. untersuchen und begutachten lassen. Der Sachverständige ist zu dem Ergebnis gelangt, dass auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet keine Unfallfolgen vorlägen. Bei einer posttraumatischen Belastungsstörung zeigten sich im Prinzip dieselben Verlaufsdaten wie bei körperlichen Verletzungsfolgen, nämlich die maximale Ausprägung der Symptomatik unfallnah mit dann langsamer Abschwächung bis zur Ausheilung oder auch zum chronischen Dauerzustand. Ein Unfall, wie er hier zur Debatte stehe, bedinge nicht als selbstverständliche Unfallfolge eine posttraumatische Belastungsstörung.

Der Kläger beantragte daraufhin, das Einholen einer weiteren Stellungnahme von Dr. C.. Dem Sachverständigen sei zwingend das Urteil (Az.: L 7 VU 21/05) des LSG NRW vorzulegen. In dem Urteil seien die Anerkennungskriterien für eine posttraumatische Belastungsstörung definiert. Bei korrekter inhaltlicher Diskussion mit den Anerkennungskriterien hätte Dr. C. zu einer anderen Wertung kommen müssen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und die den Kläger betreffende Verwaltungsakte der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die Klage ist zulässig, jedoch nicht begründet.

Anerkennung posttraumatische Belastungsstörung als Arbeitsunfallsfolge
(Symbolfoto: Photographee.eu/Shutterstock.com)

Der Kläger ist durch den Bescheid vom 18.07.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.05.2014 nicht beschwert im Sinne des § 54 Abs. 2 S. 1 SGG, denn der Bescheid ist nicht rechtswidrig. Zu Recht hat die Beklagte es abgelehnt, Unfallfolgen auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet anzuerkennen.

Die Anerkennung von Unfallfolgen in der gesetzlichen Unfallversicherung setzt neben dem Vorliegen eines geeigneten Unfallherganges und des geltend gemachten Körperschadens voraus, dass dieser wesentlich ursächlich auf das Unfallereignis zurückzuführen ist. Nach der in der gesetzlichen Unfallversicherung geltende Lehre von der wesentlichen Bedingung sind nämlich von den Bedingungen im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinn als Ursache oder Mitursache unter Abwägung ihres verschiedenen Wertes nur diejenigen Bedingungen anzusehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben (BSGE 1, 72, 76; 61, 127, 129; 63, 273, 278). Wenn insoweit auch der Arbeitsunfall und der geltend gemachte Unfallschaden nachgewiesen sein müssen, reicht für den Nachweis des ursächlichen Zusammenhangs die hinreichende Wahrscheinlichkeit aus (BSG SozR 2200 § 548 Nr. 38; § 551 Nr. 1). Der Zusammenhang ist aber erst dann gegeben, wenn beim vernünftigen Abwägen aller Umstände die auf die unfallbedingte Verursachung deutenden Faktoren so stark überwiegen, dass darauf eine Entscheidung gestützt werden kann (BSG, a.a.O.). Eine Möglichkeit verdichtet sich dann zur Wahrscheinlichkeit, wenn nach der geltenden ärztlich-wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen Zusammenhang spricht und ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Verursachung ausscheiden (BSG Breithaupt 1963, 60, 61). Dabei müssen die für den Kausalzusammenhang sprechenden Gründe die gegenteiligen deutlich überwiegen; nicht ausreichend ist es, wenn die Schlussfolgerung lediglich durchaus möglich ist (so BSG, Urteil vom 14.05.1968 = MESO B 320/11).

Die unfallrechtliche Kausalitätslehre von der wesentlichen Bedingung gilt auch für die – besonders schwierige – Zusammenhangsbeurteilung psychoreaktiver Störungen nach körperlichen bzw. seelischen Traumen (vgl. BSGE 18, 172, 177; 19, 275, 277; BSG SozR 4-2700 § 8 Nr. 17). Diese besonderen Probleme rühren daher, dass seelische Empfindungsstörungen ohne organische Grundlage nach einem Unfallereignis und/oder -erlebnis höchst unterschiedlich ausfallen können und vielfach nicht direkt erfahrbar oder objektivierbar sind.

Voraussetzung für die Anerkennung von psychischen Gesundheitsstörungen als Unfallfolge und die Gewährung einer Verletztenrente aufgrund dieser Störungen ist zunächst die Feststellung der konkreten Gesundheitsstörungen, die beim Verletzten vorliegen und seine Erwerbsfähigkeit mindern (vgl. BSG, Urteil vom 19.08.2003

– B 2 U 50/02 R -; BSG SozR 4-2700 § 8 Nr. 17). Für die im nächsten Schritt erforderliche Beurteilung des Ursachenzusammenhangs muss dann geprüft werden, welche Ursachen für die festgestellte psychische Gesundheitsstörung nach der Bedingungstheorie gegeben sind und sodann, ob die versicherte Ursache – das Unfallereignis – direkt oder mittelbar für diese Gesundheitsstörung wesentlich im Sinne der Theorie der wesentlichen Bedingung war (BSG, a.a.O.).

Die auf der Grundlage des jeweils aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes durchzuführende Beurteilung im Einzelfall hat in Würdigung des konkreten Versicherten zu erfolgen und darf nicht von einem fiktiven Durchschnittsmenschen ausgehen, weshalb eine abnorme seelische Reaktionsbereitschaft die Annahme einer psychischen Reaktion als Unfallfolge im Prinzip nicht ausschließt (BSGE 18, 173, 176; BSG SozR 2200 § 581 Nr. 26; BSG SozR 4-2700 § 8 Nr. 17). Andererseits liegt es – wie das BSG (a.a.O.) ausdrücklich betont – auf der Hand, das wunschbedingte Vorstellungen von Seiten des Versicherten nach einem Unfall, z.B. allgemein nach einem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben oder konkret auf eine Verletztenrente, einen wesentlichen Ursachenzusammenhang zwischen dem Unfallereignis und der nun bestehenden psychischen Gesundheitsstörungen nicht zu begründen vermögen. Sie sind ggf. als konkurrierende Ursache zu würdigen und können der Bejahung eines wesentlichen Ursachenzusammenhangs zwischen dem Unfallereignis und der psychischen Gesundheitsstörung entgegen stehen (BSG, a.a.O.). Dass der medizinische Sachverständige in derartigen Fällen oft an die Grenze seiner diagnostischen und prognostischen Erkenntnismöglichkeiten stößt ist bekannt; gleichwohl ist von ihm eine deutlich abgrenzbare Beweisantwort zu verlangen und bei der Beweiswürdigung ein strenger Maßstab anzulegen (BSG SozR 2200 § 581 Nr. 26; BSG SozR 3-3800 § 1 Nr. 4).

Ausgehend von diesen Grundsätzen hat sich das Gericht – in Übereinstimmung mit Dr. Dr. X. und Dr. C. – nicht davon überzeugen können, dass bei dem Kläger eine posttraumatische Belastungsstörung (ICD-10: F 43.1) vorliegt. Dagegen sprechen die unzureichende (objektive) Bedrohungslage und die zeitliche Latenz.

Die posttraumatische Belastungsstörung entsteht als „Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde“ so die Definition der international classification off diseases [ICD-10: F 43.1], vgl. hierzu Schneyder, Entstehung und Verlauf der Posttraumatischen Belastungsstörung, Med Sach 99 (2003), S. 141; Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Auflage, S. 144 f.). Problematisch ist bereits, dass kein Ereignis oder eine Situation außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigen Ausmaßes vorliegt. Sicherlich hat der Kläger einen schweren Verkehrsunfall erlitten, jedoch ist dieser nicht vergleichbar etwa mit einem Kriegstrauma.

Unabhängig davon spricht eindeutig gegen eine posttraumatische Belastungsstörung die lange Latenz zwischen dem Unfallereignis und dem Auftreten der Störung. Nach den Feststellungen von Dr. C. ist bei dem Kläger als Primärschaden eine Hirnschütterung anzunehmen, die zu einer mehrwöchigen Beschwerdesymptomatik geführt haben dürfte. Eine über eine Hirnerschütterungsymptomatik hinausgehende neurologische Störung ist nicht dokumentiert. Es sind auch keine psychischen Störungen unfallnah beschrieben worden. Psychische Auffälligkeiten werden nach der bestehenden Aktenlage erstmals im Jahre 2003 beschrieben, wobei es sich damals um Folge einer vaskulären Hirnschädigung handelte (also Hirndurchblutungsstörung) die dann im Jahr 2010 erneut bestätigt wurde. Erstmals im Jahr 2012 wurde eine posttraumatische Belastungsstörung attestiert, wobei damals allerdings eine unspezifische Symptomatik referiert wurde, also kein Befund. Bei einer posttraumatischen Belastungsstörung zeigen sich im Prinzip dieselben Verlaufsdaten wie bei körperlichen Verletzungsfolgen, nämlich die maximale Ausprägung der Symptomatik unfallnah mit dann langsamer Abschwächung bis zur Ausheilung oder auch zum chronischen Dauerzustand. Man diskutiert in Einzelfällen sogenannte Late-onset-Formen der posttraumatischen Belastungsstörung, also eine Symptomatik, die im Einzelfall erst Jahrzehnte nach einem stattgehabten Ereignis manifestiert wird. Es handelt sich dabei allerdings um absolute Ausnahmen, die keineswegs unumstritten sind. Außerdem wird in diesen Fällen gefordert, dass als Primärschäden eine gravierende Bedrohung vorgelegen haben muss, etwa ein Kriegstrauma.

Prof. Dr. T. hält in seinem Gutachten das Vorhandensein einer posttraumatischen Teilsymptomatik für wahrscheinlich, legt sich allerdings nicht klar auf das Vorhandensein einer posttraumatischen Belastungsstörung fest. Er stellt die Diagnose einer depressiven Anpassungsstörung mit depressiven, somatoformen und posttraumatischen Störungen. Mit den Ausführungen von Dr. C., welchen die Kammer folgt, kann das bei dem Kläger bestehende Krankheitsbild nicht als Anpassungsstörung gewertet werden. Eine solche ist definitionsgemäß nur für einen Zeitraum von maximal 2 Jahren anzunehmen. Ein besonderes Merkmal der Anpassungsstörung ist, dass sie vorübergehend vorliegt. Im Falle des Klägers besteht dagegen eine als chronifiziert anzunehmende Symptomatik. Auch hat sich Prof. Dr. T. nicht mit dem unfallnahen Verlaufsdaten befasst. Das älteste Dokument seines Aktenauszuges stammt aus dem Jahre 2003. Maßgeblich für die Beurteilung war hier jedoch die Überprüfung der dokumentierten und damit beweisfähigen Verlaufsdaten seit dem Unfall vom 28.06.1971.

Zu weiteren medizinischen Ermittlungen bestand kein Anlass. Dr. C. sind die Kriterien zur Anerkennung einer posttraumatischen Belastungsstörung als Unfallfolge vollumfänglich bekannt.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

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