Skip to content
Menü

Arbeitslosengeldanspruch – Versäumung der Ausschlussfrist – verspätete Antragstellung

SG Gießen – Az.: S 14 AL 13/15 – Urteil vom 08.07.2015

Der Bescheid der Beklagten vom 11.12.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.12.2014 wird aufgehoben.

Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin Arbeitslosengeld ab dem 08.12.2014 im gesetzlichen Umfang zu zahlen.

Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten im notwendigen Umfang zu erstatten.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um Arbeitslosengeld.

Die 1980 geborene Klägerin war vom 01.11.2008 bis 30.11.2010 sozialversicherungspflichtig beim B.-Zentrum in C. beschäftigt, danach war sie arbeitslos und bezog vom 01.12.2010 bis 31.12.2010 und vom 25.03.2011 bis 03.04.2011 für insgesamt 40 Tage Arbeitslosengeld mit einem Restanspruch von 320 Kalendertagen.

Am 04.04.2011 nahm sie eine Beschäftigung als wissenschaftliche Mitarbeiterin am D.-Institut in Israel auf. Von dort kehrte sie am 05.12.2014 nach Deutschland zurück. Die Klägerin meldete sich dann am 08.12.2014 bei der Beklagten arbeitslos und beantragte Arbeitslosengeld.

Den Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 11.12.2014 unter Bezugnahme auf § 137 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) mit der Begründung ab, der am 01.12.2010 erworbene Anspruch auf Arbeitslosengeld sei erschöpft. Seither sei die Klägerin weniger als zwölf Monate versicherungspflichtig gewesen und habe daher keine neue Anwartschaftszeit erfüllt.

Gegen die Ablehnung legte die Klägerin Widerspruch ein und trug vor, eine Mitarbeiterin der Beklagten habe ihrer Mutter auf Anfrage am 01.09.2014 ausdrücklich erklärt, es bestehe ein Anspruch auf Arbeitslosengeld noch für 320 Tage und dieser Anspruch müsse bis zum Ende des Jahres 2014 persönlich bei der Arbeitsagentur in Büdingen beantragt werden. Diese telefonische Auskunft sei als Aktennotiz von der bei dem Telefonat anwesenden Sekretärin ihrer Mutter, Frau E., schriftlich fixiert und zusammen mit anderen ebenfalls relevanten Informationen an sie nach Israel weitergeleitet worden. Im Vertrauen auf die erteilte Auskunft, dass eine Antragstellung bis zum Ende des Jahres möglich sei, habe sie einer Bitte der Deutschen Botschaft in Tel Aviv entsprochen und eine Veranstaltung für in Israel lebende junge Wissenschaftler am 04.12.2014 durchgeführt. Sie sei dann am nächsten Tag, dem 05.12.2014, nach Deutschland geflogen. Da sie zu diesem Zeitpunkt bereits ihre Beschäftigung am D.-Institut beendet gehabt habe, wäre sie bei korrekter Auskunft vorher bei der Agentur für Arbeit erschienen. Ihrem Widerspruch fügte sie die Ablichtung der Aktennotiz und der E-Mail von Frau E. bei. Hierauf wird verwiesen.

Den Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 22.12.2014 zurück. In dem Widerspruchsbescheid wird ausgeführt, eine Auskunft „bis zum Ende des Jahres 2014“ sei zeitlich zu ungenau, um hieraus eine fehlerhafte Beratung abzuleiten. Selbst wenn man davon ausgehen würde, dass der Beklagten eine unzureichende Beratung vorzuwerfen sei (wovon sie aber nicht ausgehe), käme eine Gewährung des begehrten Arbeitslosengeldes im Rahmen eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs nicht in Betracht. Mithilfe des Herstellungsanspruchs könne nach ständiger Rechtsprechung ein Fehlverhalten des Leistungsträgers nur insoweit berichtigt werden, als die Korrektur mit dem Gesetzeszweck in Einklang stehe. Rein tatsächliche Gegebenheiten, wie die fehlende rechtszeitige Arbeitslosmeldung könnten nicht über den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch ersetzt werden (Hinweis auf BSG SozR 4100 § 105 Nr. 2).

Die Klägerin, die derzeit Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch 2. Buch bezieht, hat am 22.01.2015 Klage erhoben.

Sie wiederholt ihr Vorbringen aus dem Widerspruchsverfahren und ergänzt dies dahingehend, es habe für sie keinen Grund gegeben, nicht rechtzeitig bei der Agentur für Arbeit vorzusprechen, da ihr Vertrag bereits am 31.10.2014 geendet habe. Sie sei der Meinung, dass die Formulierung „Ende des Jahres“ genau ein Datum bedeute, nämlich den 31.12. des Jahres. Zur weiteren Begründung bezieht die Klägerin sich auf eine eidesstattliche Versicherung ihrer Mutter vom 08.04.2015 und auf eine eidesstattliche Versicherung von Frau E. vom 03.07.2015. Hierauf wird Bezug genommen.

Die Klägerin beantragt, den Bescheid der Beklagten vom 11.12.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.12.2014 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr Arbeitslosengeld ab dem 08.12.2014 im gesetzlichen Umfange zu gewähren.

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Sie bezieht sich auf einen Vermerk ihrer Servicemitarbeiterin F. über ein Telefonat am 01.09.2014 mit der Mutter der Klägerin mit folgendem Inhalt:

„Frau G. (Mutter – Anscheinsvollmacht gegeben) bittet um Auskunft, ob Kd. noch einen Restanspruch auf ALG hat.

Erweiterter Datenabgleich anhand SV-Nr. erfolgt. Des Weiteren hat sie alle Unterlagen wie z. B. Bewilligungsbescheid, ÄB, etc. vorliegen, daher Auskunft lt. Colibri erteilt, dass Kd. noch über einen Restanspruch von 320 KT hat.“

Aus diesem Vermerk ergebe sich zweifelsfrei, dass die Mutter der Klägerin nach dem Restanspruch auf Arbeitslosengeld gefragt habe und auch hierzu eine Auskunft erteilt worden sei. Eine Frage, bis wann der Anspruch noch geltend gemacht werden könne, sei nicht gestellt worden. Im Übrigen komme ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch nicht in Betracht. Der sozialrechtliche Herstellungsanspruch habe nicht nur zur Voraussetzung, dass der Sozialleistungsträger eine ihm aufgrund Gesetzes oder eines Sozialrechtsverhältnisses obliegende Pflicht, insbesondere zur Beratung und Auskunft verletzt habe und zwischen der Pflichtverletzung des Sozialleistungsträgers und dem Nachteil des Betroffenen ein ursächlicher Zusammenhang bestehe. Im Gegensatz zum Amtshaftungsanspruch, der allein auf dem ordentlichen Rechtsweg verfolgt werden könne, und eine Fehlerkorrektur allein mittels Schadensausgleich vorsehe, müsse der durch das pflichtwidrige Verwaltungshandeln eingetretene Nachteil auch durch eine zulässige Amtshandlung beseitigt werden können. Schließlich dürfe die Korrektur durch den Herstellungsanspruch dem jeweiligen Gesetzeszweck nicht widersprechen. Die Arbeitslosmeldung, vor allem aber die objektive und subjektive Verfügbarkeit des Anspruchstellers, stellten aber tatsächliche Umstände dar, die die Beklagte nicht ersetzen könne.

Das Gericht hat zum Inhalt des Telefonats am 01.09.2014 Beweis erhoben durch uneidliche Vernehmung der Mutter der Klägerin, Frau A., und der Servicemitarbeiterin der Beklagten, Frau F. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen.

Die Leistungsakte der Beklagten ist zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht worden.

Entscheidungsgründe

Die form- und fristgerecht erhobene Klage ist zulässig.

Sie ist auch begründet.

Die Klägerin hat Anspruch auf Arbeitslosengeld ab dem 08.12.2014. Der Bescheid der Beklagten vom 11.12.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.12.2014 ist rechtswidrig.

Zwar hat die Klägerin die Frist des § 161 Abs. 2 SGB III, innerhalb der ein Anspruch auf Arbeitslosengeld geltend gemacht werden muss, versäumt. Danach kann ein Anspruch auf Arbeitslosengeld nicht mehr geltend gemacht werden, wenn nach seiner Entstehung vier Jahre verstrichen sind. Die Klägerin hat sich erst am 08.12.2014 bei der Beklagten arbeitslos gemeldet und Arbeitslosengeld beantragt. Der am 01.12.2010 erworbene Anspruch auf Arbeitslosengeld hätte daher spätestens bis zum 01.12.2014 geltend gemacht werden müssen.

Die Klägerin ist aber im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs so zu stellen, als habe sie den Antrag rechtzeitig gestellt.

Der von der Rechtsprechung entwickelte sozialrechtliche Herstellungsanspruch ist auf Vornahme einer Amtshandlung zur Herstellung desjenigen Zustandes gerichtet, der bestehen würde, wenn der Sozialleistungsträger eine ihm aus dem Sozialrechtsverhältnis erwachsene Nebenpflicht ordnungsgemäß wahrgenommen hätte, dies aber pflichtwidrig unterblieben ist. In solchen Fällen können gewisse sozialrechtliche Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen, wie etwa eine verspätete Antragstellung, eine verspätete Beitragsentrichtung, eine verspätete Vorlage von Unterlagen als erfüllt angesehen werden, wenn die Verspätung gerade auf einem pflichtwidrigen Verhalten des Leistungsträgers beruht.

Nach der durchgeführten Beweisaufnahme ist das Gericht davon überzeugt, dass die verspätete Arbeitslosmeldung auf einem pflichtwidrigen Handeln der Beklagten beruht. Das Gericht hält die Darstellung der als Zeugin gehörten Mutter der Klägerin von dem Ablauf des Telefonats am 01.09.2014 für glaubhaft. Danach ist davon auszugehen, dass die Mutter der Klägerin bei dem Telefonat gefragt hat, bis wann der Antrag auf Arbeitslosengeld bei der Agentur für Arbeit gestellt werden muss und ihr von der ebenfalls als Zeugin gehörten Mitarbeiterin F. der Beklagten die Auskunft gegeben worden ist, dass der Antrag bis Ende des Jahres gestellt werden müsse. Die Aussage stimmt überein mit dem Inhalt der von Frau E. an die Klägerin geschickten E-Mail vom 01.09.2014, die auf der über das Telefonat gefertigten Aktennotiz der Zeugin beruht. Die Zeugin hat auch nachvollziehbar erklären können, warum sie die Frage nach dem Antragsdatum gestellt hatte. Sie wusste, dass es mit der Frist für den Antrag knapp werden könnte. Das Gericht ist auch davon überzeugt, dass der Zeugin kein konkretes Datum genannt wurde, sondern sie die Auskunft erhalten hat, der Antrag müsse bis zum Ende des Jahres gestellt werden. Die Aussage der Mitarbeiterin F. der Beklagten ist nicht geeignet, Zweifel an der Darstellung der Zeugin G. zu begründen. Die Zeugin F. hatte keine Erinnerung mehr an das Telefonat. Frau F. hat ausgesagt, sie führe etwa 20 bis 40 Kundengespräche am Tag und erteile leistungsrechtliche Auskünfte. Das Gericht hält es angesichts der Arbeitsbelastung der Zeugin nicht für ausgeschlossen, dass der von der Zeugin F. gefertigte Vermerk über das Telefonat unvollständig ist und die Frage nach dem Antragszeitpunkt in dem Vermerk nicht erfasst wurde. Dass diese Frage gestellt wurde, ergibt sich aber aus der glaubhaften Aussage der Mutter der Klägerin.

Zwar ist der Beklagten durchaus zuzugeben, dass eine Auskunft „bis zum Ende des Jahres 2014“ zeitlich ungenau ist. Diese Ungenauigkeit geht aber zu Lasten der Beklagten. Die Mutter der Klägerin hatte in dem Telefonat eine konkrete Frage gestellt. Erfolgt auf eine solche konkrete Frage eine ungenaue Auskunft, muss die Beklagte eine solche Ungenauigkeit gegen sich gelten lassen. Ein Antragsteller hat Anspruch darauf, dass seine Fragen vollständig und richtig beantwortet werden. Eine Auskunft „bis Ende des Jahres“ lässt im Übrigen durchaus den Schluss zu, dass der Anspruch bis zum 31.12. des Jahres geltend gemacht werden kann.

Schließlich teilt das Gericht nicht die Auffassung der Beklagten, der sozialrechtliche Herstellungsanspruch scheitere hier daran, der durch das pflichtwidrige Verwaltungshandeln eingetretene Nachteil könne nicht durch eine zulässige Amtshandlung beseitigt werden. Das Gericht bezieht sich hierzu auf das Urteil des Bundessozialgerichts vom 29.09.1987 mit dem Aktenzeichen 7 RAr 23/86. Das BSG hat in dieser Entscheidung einen Beratungsfehler der Agentur für Arbeit darin gesehen, dass ein Hinweis auf die rechtlich zulässige Beendigung des Bezugs von Mutterschaftsgeld unterblieben ist, um die rechtzeitige Geltendmachung des Rechtsanspruchs auf Arbeitslosengeld zu wahren. Der hier vorliegende Sachverhalt ist vergleichbar (siehe auch Reichel in jurisPK – SGB III, 1. Auflage 2014, § 161 SGB III, Rn. 46 und Valgolio in: Hauck/Noftz, SGB III, 05/12, § 161 SGB III Rn. 57).

Die von der Beklagten aufgeführte Rechtsprechung des Bundessozialgerichts und des Hessischen Landessozialgerichts steht dem nicht entgegen. Die Beklagte verkennt bei ihrer Argumentation, dass es hier nicht darum geht, die Verfügbarkeit der Klägerin im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs zu ersetzen, sondern allein das Antragsdatum korrigiert wird. Verfügbar war die Klägerin spätestens ab der am 08.12.2014 erfolgten Arbeitslosmeldung. Es wird somit kein tatsächlicher Vorgang wiederhergestellt, sondern nur das Antragsdatum vorverlegt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Die Berufung ist gemäß § 143 SGG zulässig.

Hinweis: Informationen in unserem Internetangebot dienen lediglich Informationszwecken. Sie stellen keine Rechtsberatung dar und können eine individuelle rechtliche Beratung auch nicht ersetzen, welche die Besonderheiten des jeweiligen Einzelfalles berücksichtigt. Ebenso kann sich die aktuelle Rechtslage durch aktuelle Urteile und Gesetze zwischenzeitlich geändert haben. Benötigen Sie eine rechtssichere Auskunft oder eine persönliche Rechtsberatung, kontaktieren Sie uns bitte.

Unsere Hilfe im Sozialrecht

Wir sind Ihr Ansprechpartner in Sachen Sozialrecht. Wir beraten uns vertreten Sie in sozialrechtlichen Fragen. Jetzt Ersteinschätzung anfragen.

Rechtsanwälte Kotz - Kreuztal

Urteile und Beiträge aus dem Sozialrecht

Unsere Kontaktinformationen

Rechtsanwälte Kotz GbR

Siegener Str. 104 – 106
D-57223 Kreuztal – Buschhütten
(Kreis Siegen – Wittgenstein)

Telefon: 02732 791079
(Tel. Auskünfte sind unverbindlich!)
Telefax: 02732 791078

E-Mail Anfragen:
info@ra-kotz.de
ra-kotz@web.de

Rechtsanwalt Hans Jürgen Kotz
Fachanwalt für Arbeitsrecht

Rechtsanwalt und Notar Dr. Christian Kotz
Fachanwalt für Verkehrsrecht
Fachanwalt für Versicherungsrecht
Notar mit Amtssitz in Kreuztal

Bürozeiten:
MO-FR: 8:00-18:00 Uhr
SA & außerhalb der Bürozeiten:
nach Vereinbarung

Für Besprechungen bitten wir Sie um eine Terminvereinbarung!