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Arbeitsunfall – Bewertung geistig-psychischer Folgen

Landessozialgericht Hamburg – Az.: L 2 U 32/16 – Urteil vom 27.06.2018

1. Die Berufung wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass der Tenor wie folgt neu gefasst wird: Unter Aufhebung des Bescheids vom 25. November 2013 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 24. Juli 2014 sowie Abänderung des Bescheids vom 3. September 1987 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 8. November 1998 wird die Beklagte verurteilt, dem Kläger eine Rente aufgrund einer Minderung der Erwerbsfähigkeit infolge des Arbeitsunfalls vom 11. September 1985 in Höhe von 30 Prozent der Vollrente ab dem 1. Januar 2008 nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu zahlen.

2. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers auch im Berufungsverfahren.

3. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Der Kläger begehrt die Feststellung einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 30 v. H. seit dem 1. November 1987 aufgrund der Folgen eines Arbeitsunfalls.

Der am … 1955 geborene Kläger erlitt am 11. September 1985 im Rahmen seiner Tätigkeit als Schlosser einen Arbeitsunfall, als ihn bei der Montage eines Garagenschwingtores ein Federarm aus gespannter Stellung an den Kopf traf. Der Durchgangsarzt diagnostizierte eine frontale Schädelfraktur links. Nach dem Zwischenbericht des Chirurgen Prof. Dr. W. vom 27. November 1985 bestanden bei dem Kläger eine Impressionsfraktur des Os frontale links über Kalottenbreite mit ausgedehnter Weichteilverletzung über der Fraktur, ein frontaler Kontusionsherd links, ein Zustand nach gramnegativer Sepsis mit Nieren- und Lungeninsuffizienz mit konsekutiver Hämofiltration vom 21. September bis 14. Oktober 1985, ein Zustand nach Pneumonie sowie ein hirnorganisches Psychosyndrom.

In einem neurologischen Befundbericht vom 14. November 1985 gab Dr. W1 an, dass sich der Kläger bei seinem Unfall ein Schädel-Hirntrauma mit frontal linksseitiger Impressionsfraktur und einem linksseitigen frontalen Kontusionsherd zugezogen habe mit einem nachfolgenden Hirnödem, welches zu der jetzt noch geringfügigen linksseitigen Spastik und dem leichten hirnorganischen Durchgangssyndrom geführt habe. Im neurologischen Bericht vom 13. Februar 1986 führte Dr. W1 aus, dass sich im Verlauf des stationären Heilverfahrens das posttraumatische hirnorganische Psychosyndrom mit allgemeiner Verlangsamung und mit mnestischen Funktionsstörungen sowie dysphorischer Verstimmbarkeit allmählich habe bessern lassen.

In seinem neurologischen Zusatzgutachten vom 29. Oktober 1986 führte Prof. Dr. S. aus, dass sich der Kläger bei dem Arbeitsunfall ein Schädelhirntrauma mit Impressionsfraktur sowie beiderseits hemisphäralen Hirnkontusionen zugezogen habe. Als Residuum dieser Verletzungen fänden sich neben einem leichten Frontalhirnsyndrom Reflexbefunde, die angesichts des computertomographischen Verlaufs Ausdruck einer beiderseits hemisphäralen Schädigung seien. Bei der jetzigen Untersuchung würden noch sich verschlimmernde Kopfschmerzen bei Belastung und eine Einschränkung der Hirnleistungsfähigkeit mit Störung des Gedächtnisses und der Konzentration geklagt. Angesichts der bisherigen Besserung sowie des jugendlichen Alters des Untersuchten sei mit einer weitergehenden Besserung der nach wie vor geklagten Leistungsschwäche zu rechnen. Die MdE schätzte der Gutachter mit Beginn der Arbeitsfähigkeit mit 30 v. H. ein. Mit einer weitergehenden Besserung und einer rückläufigen Minderung der Erwerbsfähigkeit sei zu rechnen. Prof. Dr. W. erstellte am 20. Januar 1987 das erste Rentengutachten und schätzte die MdE ab Mai 1986 bis zum 30. September 1987 mit 30 v. H. ein, danach voraussichtlich mit 20 v. H. Der Kläger klage über einen Verlust des Kurzzeitgedächtnisses, selbst Kleinigkeiten bei der täglichen Arbeit wie das Behalten von Adressen bereite Schwierigkeiten. Im außerberuflichen Bereich gehe der Kläger keiner sportlichen Betätigung wie Fußball oder Tischtennis mehr nach. Auch das Lesen mache ihm große Mühe, so dass er jetzt mehr Fernsehen schaue. Es liege u. a. eine Einschränkung der Hirnleistungsfähigkeit mit Störungen des Gedächtnisses und der Konzentration vor.

Mit Bescheid vom 18. Februar 1987 gewährte die Beklagte dem Kläger ab dem 20. Mai 1986 eine vorläufige Rente nach einer MdE von 30 v. H. Als Folgen dieses Versicherungsfalls erkannte die Beklagte an: – Knöcherner Defekt an der linken Schädelseite unterhalb der Haargrenze – Frontalhirnsyndrom – Einschränkung der Hirnleistungsfähigkeit mit Störung des Gedächtnisses und der Konzentration – Reflexbefunde, als Ausdruck einer beiderseitigen Hirnschädigung – Kopfschmerzen sowie eine entstellende Tracheotomienarbe.

Im Rahmen eines zweiten Rentengutachtens vom 11. Juni 1987 führte der Chirurg und Priv. Doz. Dr. E. aus, dass die Bewertung der Unfallfolgen auf unfallchirurgischem Gebiet in der Beurteilung der Erwerbsfähigkeit durch das neurologische Zusatzgutachten aufgehen werde. Aus einem Aktenvermerk der Beklagten vom 31. August 1987 ergibt sich, dass Dr. L1 vorab eine Zusammenfassung seiner ärztlichen Stellungnahme mit folgendem Inhalt abgegeben haben soll: „Zusammenfassend ist – soweit sich das aus dem Akteninhalt ohne nochmalige Untersuchung ergibt – festzustellen, dass Herr B. am 11.09.1985 bei einem Unfall ein schweres Schädelhirntrauma wahrscheinlich mit Hirnsubstanzläsion und einen Impressionsbruch des Stirnbeines erlitten hatte. ( ) Immerhin konnte Herr B. bereits nach 8 Monaten die Arbeit wieder aufnehmen, und zwar ohne wesentliche Einschränkungen. ( ) Insgesamt handelt es sich damit aber um eine Hirnschädigung mit verbliebenen geringfügigen Leistungsbeeinträchtigungen, für die nach allen gutachterlichen Erfahrungen die MdE mit 20 v. H. einzuschätzen ist. Im Hinblick auf die bisherige gute Besserungstendenz müsste im vorliegenden Fall mit Beendigung des 2. Jahres nach dem Unfall, d.h. etwa ab 01.09.87, ein Zustand erreicht sein, der eine solche MdE-Einschätzung von 20 v.H. rechtfertigt.“

Daraufhin erließ die Beklagte am 3. September 1987 einen Dauerrentenbescheid und stellte die Rente auf der Grundlage einer MdE von 20 v. H. mit Wirkung vom 1. November 1987 fest. Die verbliebenen Unfallfolgen hätten sich gebessert. Als Folgen des Arbeitsunfalls würden noch anerkannt: Kopfschmerzneigung, ein leichtes hirnorganisches Syndrom, eine feste, etwas eingesunkene Knochennarbe im Stirnbereich und eine Hirnschädigung mit verbliebenen geringfügigen Leistungsbeeinträchtigungen.

Gegen diesen Bescheid legte der Kläger am 10. September 1987 Widerspruch ein. In seiner gutachterlichen nervenärztlichen Stellungnahme vom 7. September 1987 bestätigte Dr. L1 ohne erneute Untersuchung des Klägers seine Vorabeinschätzung nach Aktenlage. Der Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. W1 teilte in seinem Epikrisebericht vom 23. Dezember 1987 mit, dass die Behandlung nach Abschluss der Belastungserprobung beendet sei. Die MdE werde den Prozentsatz von 30 v. H. nicht unterschreiten. Bei der Untersuchung durch den Nervenarzt Dr. S1 gab der Kläger an, noch immer Gedächtnisstörungen zu haben. Besonders Namen könne er sich nicht mehr merken. Seine Frau sage ihm, dass er impulsiver aggressiver und häufig unbeherrscht sei. Dr. S1 schätzte in seinem nervenärztlichen Gutachten vom 10. März 1988 die MdE mit 20 v. H. ein. Der Zustand nach Schädelhirntrauma mit Hirnverletzung und verbliebenem kleinen Hirndefekt links frontal bedinge noch ein leichtes hirnorganisches Psychosyndrom mit Affektlabilität und geringer Leistungsbeeinträchtigung sowie eine subjektive Beeinträchtigung durch Kopfschmerzneigung. Im psychischen Befund beschrieb der Gutachter, dass der Kläger insbesondere bei der Testung eher etwas unkonzentriert und wenig bei der Sache gewesen sei. Hier zeige sich auch bei Unverständnis zu der Untersuchung eine gewisse Kritikschwäche. In der Stimmung sei er leicht affektlabil, nach der Schilderung glaubhaft gelegentlich gereizt und bei längerer psychischer Belastung konzentrationsgestört. Bei Reproduktion einer Geschichte zeigten sich doch leichte Merkfähigkeitsstörungen und Mängel in der Konzentration.

Die Beklagte wies den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 8. November 1988 zurück.

Der Kläger stellte durch seinen Prozessbevollmächtigten mit Schreiben vom 26. August 2008 einen Antrag auf Überprüfung der Unfallfolgen und auf Erhöhung der Unfallrente. Er leide unter erheblichen Depressionen, Herzproblemen, Gedächtnislücken und Kopfschmerzen mit einem erhöhten aggressiven Verhalten.

Dr. G. und der Arzt M. erklärten in ihrem neurologisch-psychiatrischen Gutachten vom 3. Februar 2009, dass sich eine wesentliche Verschlimmerung der Unfallfolgen nicht feststellen lasse. Die unfallbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit sei weiterhin mit 20 v. H. einzuschätzen. Verblieben seien ein leichtes organisches Psychosyndrom mit Hirnleistungsschwäche und Wesensänderung. Subjektiv werde nach wie vor über Kopfschmerzen geklagt. Unfallunabhängig bestehe der Verdacht auf eine koronare Herzkrankheit. Ferner seien als unfallunabhängig LWS-Beschwerden und der Verdacht auf ein beginnendes beidseitiges Carpaltunnel-Syndrom zu nennen. Darüber hinaus erstattete der Diplom-Psychologe G1 ein neuropsychologisches Zusatzgutachten vom 24. Februar 2009. Zusammenfassend sei festzustellen, dass der Kläger in der Folge des Unfallereignisses noch unter folgenden Gesundheitsstörungen leide: ein verlangsamtes Tempo bei der Informationsverarbeitung, Vigilanzstörungen und damit auch Probleme bei der Daueraufmerksamkeit, eine Störung der Fähigkeit zur Aufmerksamkeitsteilung, mäßiggradige verbal-mnestische Defizite sowie verstärkte Irritabilität, Antriebsminderung und subdepressive Verstimmungen.

Mit Bescheid vom 24. März 2009 lehnte die Beklagte eine Erhöhung der Rente ab. Gegen den Bescheid legte der Kläger mit Schreiben vom 30. März 2009 Widerspruch ein. Er wies darauf hin, dass die vom Diplom-Psychologen G1 genannten Unfallfolgen nicht in die Bewertung der MdE eingeflossen seien.

Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 4. Februar 2010 zurück. Die Diagnosen von Dr. G1 seien berücksichtigt worden. Der Gutachter komme jedoch insbesondere im Vergleich zu den Vorbefunden zu der Einschätzung, dass eine wesentliche Verschlimmerung der Unfallfolgen nicht erkennbar sei.

Der Kläger erhob am 15. März 2010 Klage beim Sozialgericht Hamburg (Az.: S 36 U 72/10) und verwies im Wesentlichen auf seine Argumentation in der Widerspruchsbegründung. Im Laufe des gerichtlichen Verfahrens führte der Facharzt für Psychiatrie Dr. L. am 20. November 2010 aus, dass sich auf der Computertomographieaufnahme des Kopfes ein posttraumatischer, links-frontaler Substanzdefekt gezeigt habe. Diese Schädigung sei aus behandlungsärztlicher Sicht unmittelbar ursächlich für die geschilderten Hirnleistungsdefizite. Auch die Impulskontrollstörung und eventuell eine Antriebsschwäche seien hierüber erklärbar. Die Depression scheine aber eher unabhängige Ursachen zu haben.

Dr. N. schilderte in seinem psychiatrisch-neurologischen Gutachten vom 26. Juli 2011, dass bei dem Kläger ein psychoorganisches Syndrom nach Schädel-Hirntrauma vorliege. Darüber hinaus bestehe eine subsyndromale, allenfalls leichte depressive Verstimmung. Der Arbeitsunfall sei im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne Bedingung für die Leistungsdefizite und Wesensänderung des Klägers. Die depressive Verstimmtheit sei nicht durch den Arbeitsunfall verursacht. Die unfallbedingte MdE schätzte der Gutachter mit 20 v. H. ein. Eine maßgebliche Verschlechterung lasse sich nicht feststellen. Diese Bewertung führte Dr. N. auf das bei dem Kläger noch vorhandene organische Psychosyndrom mit Reizbarkeit, leichten Störungen der Konzentration und des geistigen Leistungsvermögens sowie des Gedächtnisses, Störungen des Schlafes sowie eine verminderte Leistungsfähigkeit im Umgang mit Stress und emotionalen Belastungen zurück.

In der mündlichen Verhandlung am 8. November 2012 erklärte der Sachverständige Dr. N. zudem, dass er anlässlich der Untersuchung weder den Eindruck gewonnen habe, dass ein physiologischer altersbedingter Hirnabbauprozess die Kompensationsfähigkeit des Klägers beeinträchtige, noch hätten sich Hinweise darauf gefunden, dass ein das Altersmaß übersteigender Hirnabbauprozess vorliege, der in Zusammenhang mit der Hirnschädigung stehen könnte. Auch unter Berücksichtigung der neurologisch-psychologischen Testuntersuchungen aus dem Jahre 2009 hätten sich keine Anhaltspunkte dafür ergeben. Aus diesem Grunde seien auch die mit dem organischen Psychosyndrom verknüpften Hirnleistungsdefizite nicht stärker zu bewerten als zum Zeitpunkt der maßgeblichen Befunde vor der Begutachtung im Jahre 1987. Die verstärkt aggressiven Impulsdurchbrüche führe er nur zum Teil auf das organische Psychosyndrom zurück. Diese seien auch auf lebensbiographische Komponenten, die Unzufriedenheit mit der eigenen beruflichen Entwicklung, die Lebenssituation und später noch die Kündigung zurückzuführen. Die Annahme einer wesentlichen Verschlimmerung des organischen Psychosyndroms sei nicht abzuleiten. In der Folge nahm der Kläger die Klage zurück.

Der Kläger stellte am 19. November 2012 bei der Beklagten einen Antrag auf Überprüfung der Verwaltungsentscheidung aus dem Jahre 1987. In der Verhandlung habe der gerichtlich bestellte Sachverständige Dr. N. außerhalb des Protokolls ausgeführt, dass die damalige Herabsetzung der MdE von 30 v. H. auf 20 v. H. falsch gewesen sei. Auf die Anfrage einer ergänzenden Stellungnahme seitens der Beklagten reagierte Dr. N. nicht.

Die Beklagte holte daraufhin ein nervenärztliches Gutachten nach Aktenlage von Dr. H. vom 23. September 2013 ein. Dieser erklärte, dass Dr. S1 in seiner Begutachtung vom 10. März 1988 eine verbliebene Hirnschädigung mit leichtem hirnorganischen Psychosyndrom mit Affektlabilität und geringer Leistungsbeeinträchtigung beschrieben habe. Unter Berücksichtigung der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit von 1983 wäre damit rückblickend eine dauerhafte Bewertung mit einer MdE von 30 v. H. angemessen gewesen.

Mit Bescheid vom 25. November 2013 lehnte die Beklagte den Antrag auf Rücknahme des Verwaltungsaktes vom 3. September 1987 ab. Die damals festgestellten Unfallfolgen einer Kopfschmerzneigung, eines leichten hirnorganischen Syndroms, einer festen, etwas eingesunkenen Knochennarbe im Stirnbereich sowie einer Hirnschädigung mit verbliebenen geringfügigen Leistungsbeeinträchtigungen seien zu Recht mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 v. H. eingeschätzt worden. Der Gutachter setze sich nicht mit den ausführlichen Gutachten und Befunderhebungen aus den Jahren 1986 bis 1988 und 2008 auseinander. Zudem richte sich die vom Gutachter vorgenommene Bewertung ausschließlich nach den im Versorgungsrecht geltenden Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit aus dem Jahre 1983. Hinweise auf die in der gesetzlichen Unfallversicherung geltenden Bewertungskriterien, die der Entscheidung über die Dauerrente zugrunde gelegen hätten, fänden sich nicht. Es könne nicht festgestellt werden, dass das Recht damals unrichtig angewandt oder von einem falschen Sachverhalt ausgegangen worden sei. Hiergegen legte der Kläger Widerspruch ein, den die Beklagte am 24. Juli 2014 zurückwies.

Der Kläger hat am 11. August 2014 Klage beim Sozialgericht erhoben und sich auf sein Vorbringen im Widerspruchsverfahren berufen. Zudem sei auch Dr. H. zu dem Ergebnis gekommen, dass eine MdE von 30 v. H. hätte vergeben werden müssen.

Die Beklagte hat vorgetragen, dass der Nachweis, dass beim Erlass des Bescheids vom 3. September 1987 das Recht unrichtig angewandt oder von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen worden sei, nicht erbracht worden sei. Dr. H. gehe unzutreffend davon aus, dass zur damaligen Bemessung der MdE die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit aus dem Jahre 1983 heranzuziehen seien. Nach den in der gesetzlichen Unfallversicherung zu beachtenden MdE-Erfahrungswerten, z. B. abgedruckt in Schöneberger/Mehrtens/Valentin in der damals gültigen 3. Auflage von 1984, S. 226 f. sei die MdE bei Hirnschädigungen mit verbliebener geringer Leistungsminderung mit einer MdE von 10 bis 20 v. H. zu bewerten.

Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines psychiatrisch-neurologischen Gutachtens von Dr. N. vom 29. März 2015. Dr. N. hat ein organisches Psychosyndrom nach Schädel-Hirn-Trauma diagnostiziert. Er hat auf die im Jahre 1983 geltende Literatur zur Bemessung der MdE auf dem Gebiet der gesetzlichen Unfallversicherung verwiesen. Bei dem Kläger sei bereits früher aufgefallen, dass dieser durchaus leichte Symptome eines organischen Psychosyndroms aufgewiesen habe. Zusätzlich falle auf, dass der Kläger offenkundig glaubhaft Veränderungen seiner Persönlichkeit durch die Folgen des Schädel-Hirn-Traumas entwickelt habe. Diese führten auch zu tiefgreifenden Veränderungen im Privatleben. Die Reizbarkeit und die beeinträchtigte Affektregulation zeigten sich bereits in früheren Gutachten, als der Kläger auch noch nicht vom Arbeitsplatzverlust betroffen gewesen sei. Eine wesentliche Verschlimmerung des unfallbedingten organischen Psychosyndroms lasse sich zwar nicht nachweisen, bei freier Einschätzung jedoch wäre von Beginn an eine MdE von 30 v. H. mit Blick auf den Ausprägungsgrad des psychoorganischen Syndroms und den damit verknüpften Funktionsbeeinträchtigungen und Folgen nicht nur im beruflichen, sondern auch im privaten Bereich nicht nur vertretbar, sondern auch angemessen gewesen. Die Literatur habe zum damaligen Zeitpunkt ein uneinheitliches Bild gezeigt. Im Lehrbuch der Neurologie von W. Scheid, 5. Aufl. 1983, habe es geheißen, dass eine Hirnschädigung mit geringer Leistungsbeeinträchtigung in der gesetzlichen Unfallversicherung mit einer MdE von 10 bis 20 v. H. zu bewerten sei, ebenso sehe es Heitmann im Standardwerk zur neurologischen Begutachtung, 2. Aufl. 1987. Allerdings würden beide Autoren darauf hinweisen, dass Hirnschäden mit leichten organisch-psychischen Störungen nach dem Unfallversicherungsrecht mit einer MdE von 30 bis 40 einzuschätzen seien. Diese Auffassung vertrete auch Suchenwirth in seinem Standardwerk, der bei leichten hirnorganisch-psychischen Störungen in der Kriegsopferversorgung sogar einen Wert von 40 bis 50 annehme. Rückblickend betrachtet werde man die wesentliche Verbesserung des Gesundheitszustandes zwischen der Begutachtung von Professor Dr. S. und der nachfolgenden Einschätzung durch Dr. L1 und Dr. S1 im Lichte der zitierten Literatur nicht bestätigen können. Mit Eintritt der Arbeitsfähigkeit werde daher übereinstimmend mit der Auffassung von Professor Dr. S. die MdE mit 30 v. H. eingeschätzt.

Die Beklagte hat eine beratungsärztliche Stellungnahme von Dr. H1 vom 4. Mai 2015 vorgelegt. Grundsätzlich setzten die Erfahrungswerte in der Literatur für ein leichtes hirnorganisches Psychosyndrom für die gesetzliche Unfallversicherung eine MdE von 20 bis 40 v. H. an, d.h. einen durchaus breiten Ermessensspielraum. Es könne nicht sein, dass Dr. N. seine frühere Bewertung von 20 Prozent auf 30 Prozent ändere, obwohl sich das Psychosyndrom nicht verschlimmert habe. Im Übrigen hätten sich die Empfehlungen für die Erfahrungswerte in der Literatur in den zurückliegenden 30 Jahren auch nicht geändert. Die früheren Ausführungen im Schöneberger/Mehrtens/Valentin in der 3. Aufl., dass bei der Bemessung der MdE bei isoliertem Vorkommen von organisch-psychischen Störungen leichten Grades 30 bis 40 v. H. anzunehmen sei, sei missverständlich. Der Annahme einer Hirnschädigung mit einer geringen Leistungsbeeinträchtigung komme hier die entscheidende Bedeutung zu.

Der Sachverständige Dr. N. ist in der mündlichen Verhandlung des Sozialgerichts am 9. Juni 2016 angehört worden. Er hat ergänzend ausgeführt, dass nach seiner Einschätzung bei dem Verlust der Fähigkeit zur Ausübung von Vorarbeiteraufgaben nicht mehr nur von einer geringfügigen Leistungsbeeinträchtigung ausgegangen werden könne. Diese Beschreibung treffe auch die Symptomatik, die im psychopathologischen Befund auf verschiedenen Facetten psychopathologischer Phänomene geschildert werde, nämlich Mnestik, Affektregulation, Ausdauer und auch Umstellfähigkeit. Im Gegensatz zu einer leichten Hirnschädigung im unteren Bereich der dafür vorgesehenen MdE-Spannweite von 20 bis 40 v. H. sehe er hier die MdE nicht bei 20 v. H., sondern bei 30 v. H.

Das Sozialgericht hat mit Urteil vom 9. Juni 2016 die MdE des Klägers aufgrund der Folgen des Arbeitsunfalles vom 11. September 1985 ab dem 1. November 1987 mit 30 v. H. festgestellt und die Beklagte verpflichtet, dem Kläger eine Rente nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften zu gewähren. Soweit sich im Einzelfall ergebe, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden sei, der sich als unrichtig erweise, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden seien, sei gemäß § 44 Abs. 1 Satz 1 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden sei, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen. Diese Voraussetzungen lägen vor, denn die Beklagte habe mit Bescheid vom 3. September 1987 die Höhe der Rente nach einer MdE von 20 v. H. nicht korrekt festgestellt. Der Kläger habe sich bei seinem Unfall vom 11. September 1985 eine frontale Schädelfraktur links mit der Folge der Ausbildung eines hirnorganischen Psychosyndroms zugezogen. Die schließlich mit Dauerrentenbescheid vom 3. September 1987 festgestellten Unfallfolgen einer Kopfschmerzneigung, eines leichten hirnorganischen Syndroms, einer festen, etwas eingesunkenen Knochennarbe im Stirnbereich sowie einer Hirnschädigung mit verbliebenen geringfügigen Leistungsbeeinträchtigungen würden den tatsächlich damals vorliegenden Umständen nicht gerecht. Zu Unrecht sei der damalige Gutachter Dr. S1 in seinem Gutachten vom 10. März 1988 im Rahmen der Betrachtung des leichten vorliegenden Psychosyndroms von einer lediglich geringen Leistungsbeeinträchtigung ausgegangen, welche der MdE-Einschätzung letztlich zugrunde gelegt worden sei. Bereits Dr. L1 habe gegenüber der Beklagten fälschlicherweise berichtet, dass der Kläger bereits nach 8 Monaten die Arbeit ohne wesentliche Einschränkungen wieder habe aufnehmen können. Vor dem Hintergrund, dass der Kläger zum damaligen Zeitpunkt aufgrund seiner Leistungseinschränkungen nach dem Unfall zum einen seine Stellung als Vorarbeiter verloren habe und nur noch auf einem Nischenarbeitsplatz beschäftigt worden sei und im Übrigen vom Arbeitgeber die von ihm während seiner Tätigkeit häufiger als sonst begangenen Fehler großzügig in Kauf genommen worden seien, sei nicht nur von einer geringen, sondern von einer durch Dr. N. letztlich zu Recht angenommenen mittelschweren Leistungsbeeinträchtigung auszugehen. Nachvollziehbar habe Dr. N. sowohl in seinem Gutachten vom 26. Juli 2011 als auch während der mündlichen Verhandlung die MdE mit 30 v. H. eingeschätzt. Plausibel habe der Sachverständige darauf hingewiesen, dass sich die Bewertung der MdE mit 30 v. H. neben den deutlich bei der Arbeit wahrnehmbaren Leistungsdefiziten auch in der stattgehabten Wesensänderung des Klägers wiederfinde. Anschaulich habe der Sachverständige erläutert, dass eine mittelschwere Leistungsbeeinträchtigung durch die damals bereits beschriebene Symptomatik, die im psychopathologischen Befund auf verschiedene Facetten psychopathologischer Phänomene wie Mnestik, Affektregualtion, Ausdauer und auch Umstellfähigkeit zutreffe, begründet werde. Die Einschätzung von Dr. N. finde ihre Bestätigung in der ärztlich-wissenschaftlichen Lehrmeinung, wonach die MdE bei isoliertem Vorkommen von organisch-psychischen Störungen (organisches Psychosyndrom und organische Wesensänderung) – leichtgradig – mit 20 bis 40 v. H. einzuschätzen sei. Im Rahmen der Berücksichtigung einer nachvollziehbaren mittelschweren Leistungsbeeinträchtigung – neben der verminderten Leistungsfähigkeit am Arbeitsplatz, bestünden insbesondere auch eine durch die Hirnleistungsschwäche hervorgerufene vermehrte Reizbarkeit, Störungen der Konzentration und der Merkfähigkeit sowie eine verminderte Fähigkeit, mit Stress und emotionalen Belastungen umzugehen – durch das „leichtgradige“ Psychosyndrom und der damit einhergehenden nicht unerheblichen Wesensänderung des Klägers sei die Kammer den überzeugenden Ausführungen von Dr. N. gefolgt.

Die Beklagte hat gegen das ihr am 4. Juli 2016 zugestellte Urteil am 18. Juli 2016 Berufung eingelegt. Die Annahme des Gerichts, dass der Kläger seine Stellung als Vorarbeiter verloren habe und nur noch auf einem Nischenarbeitsplatz tätig gewesen sei, beruhe lediglich auf einer vom Kläger erstmals 2009 getätigten Aussage. Der Versicherte habe bei der Abschlussuntersuchung am 16. Mai 1986 gegenüber dem behandelnden Arzt Dr. W1 angegeben, dass Schwierigkeiten bei der beruflichen Belastungserprobung nicht eingetreten seien. Dies spiegele sich auch wieder in den Angaben gegenüber dem Gutachter Dr. S. anlässlich der Untersuchung am 28. Oktober 1986, wo der Kläger ausgesagt habe, er benötige zwar längere Zeit, könne seine Arbeitsaufgaben jedoch zur Zufriedenheit erledigen. Es werde nicht referiert, dass es sich hierbei um andere Arbeitsaufgaben als vor dem Unfall gehandelt haben solle. Dies hätte auch nicht zu der Angabe der Firma vom 29. September 1987 gepasst, in der explizit mitgeteilt worden sei, dass der Kläger die gleichen Aufgaben bzw. gleichwertige Aufgaben verrichte wie vor dem Unfall. Bei der Bewertung der MdE mit 20 v. H. sei zutreffend von einem leichtgradigen hirnorganischen Syndrom ausgegangen worden, das sich hauptsächlich in einer verminderten Leistungsfähigkeit, gering eingeschränkter Gedächtnis- und Konzentrationsfähigkeit, gelegentlichen Kopfschmerzen und einer vermehrten Aggressivität geäußert habe und heute noch äußere. Bei der Einschätzung von Dr. N. handele es sich nur um eine abweichende Beurteilung der Höhe der MdE. Eine unrichtige Rechtsanwendung im Sinne des § 44 SGB X liege jedoch nur vor, wenn die Grenzen des Einschätzungsspielraumes überschritten worden seien. Die Bemessung der MdE bei leichtgradigen hirnorganischen Beeinträchtigungen mit 20 v. H. entspreche den damals geltenden MdE-Erfahrungswerten.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 9. Juni 2016 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Der Kläger trägt vor, dass die Beklagte die MdE zu niedrig eingeschätzt habe. Er habe eine Unfallrente nach einer MdE von 20 v. H. erhalten. Tatsächlich habe ihm aber eine Unfallrente nach einer MdE von 30 v. H. zugestanden. Er habe auch erhebliche berufliche Nachteile in der Folge seines Arbeitsunfalls erlitten. Sein Psychosyndrom sei mit einer mittelschweren Leistungsbeeinträchtigung einzustufen. Es spiele nicht nur das Leistungsdefizit an seinem Arbeitsplatz, sondern auch seine erhebliche Wesensänderung eine entscheidende Rolle.

Der vormalige Berichterstatter hat am 13. Dezember 2016 einen Erörterungstermin durchgeführt und folgenden Hinweis erteilt: Die Feststellung der Dauerrente mit einer MdE von 20 v. H. mit Bescheid vom 3. September 1987 sei auf der Grundlage einer ohne eigene Untersuchung und ohne das Vorliegen irgendwelcher aktueller Befunde erstellten Stellungnahme des Dr. L1 ergangen. Insoweit dränge sich der Eindruck auf, dass Dr. L1 die von Prof. Dr. S. im Gutachten vom Oktober 1986 in Aussicht gestellte weitere Besserung als gegeben angesehen habe. Dem habe sich der Nervenarzt Dr. S1 in dem nachfolgenden Widerspruchsverfahren mit seinem Gutachten vom März 1988 angeschlossen. Die Begutachtungen im Jahre 2008 im B. hätten dann eine wesentliche Verschlimmerung in den Unfallfolgen verneint, jedoch aufgezeigt, dass das als Unfallfolge anerkannte leichte hirnorganische Psychosyndrom mit einer Hirnleistungsschwäche und einer Wesensänderung einhergehe. Letztlich hätten im Rahmen des Überprüfungsverfahrens Dr. H. im Gutachten vom September 2013 sowie Dr. N. im Gutachten vom März 2015 und der Stellungnahme vom Juni 2016 die Auffassung vertreten, die MdE habe durchgehend 30 v. H. betragen. Mit ihrer Berufung beziehe sich die Beklagte im Wesentlichen darauf, dass die vorliegende Hirnschädigung mit verbliebenen geringeren Leistungsbeeinträchtigungen nach den maßgeblichen Erfahrungswerten (Schönberger/Mehrtens/Valentin) mit einer MdE von 20 v. H. zutreffend bewertet worden sei. Die Beklagte übersehe insoweit aber, dass neben dieser Hirnschädigung anerkanntermaßen auch noch ein leichtes hirnorganisches Psychosyndrom mit zum einem einer Hirnleistungsschwäche und zum anderen einer Wesensänderung vorliege. Ein solches Psychosyndrom allein werde heute nach Schönberger/Mehrtens/Valentin mit einer MdE von 20 bis 40 v. H. bewertet. Nach den Ausführungen des die Beklagte beratenden Nervenarztes Dr. H1 vom 19. Mai 2015 sei es nach der zum Unfallzeitpunkt gültigen 3. Auflage sogar mit einer MdE von 30 bis 40 v. H. zu bewerten. Lege man diese Erfahrungswerte zu Grunde, sei eine MdE von 30 v. H. zum damaligen Zeitpunkt die für ein hirnorganisches Psychosyndrom zu vergebende Mindest-MdE, ohne dass die weiteren Unfallfolgen, zu denen neben der Hirnschädigung auch die Kopfschmerzen gehörten, mit berücksichtigt wären. Unter Berücksichtigung dieser Umstände sei für das Gericht nicht erkennbar, warum die Beklagte in die Berufung gegangen sei. Angesichts des gesamten Verlaufs lege der Berichterstatter der Beklagten deshalb nahe, ihre Berufung zurückzunehmen.

Die Beklagte hat daraufhin erneut Stellung genommen. Streitgegenstand sei ihrer Auffassung nach die beantragte Rücknahme des Verwaltungsaktes vom 3. September 1987 nach § 44 SGB X. Es gehe daher ausschließlich um die Frage, ob bei Erlass des Bescheids vom 3. September 1987 von einem unzutreffenden Sachverhalt ausgegangen worden sei, also insbesondere die MdE zu diesem Zeitpunkt unzutreffend nur mit 20 v. H. eingestuft worden sei. Es sei nicht erwiesen, dass nicht nur ein leichtes, sondern ein mittelgradiges Psychosyndrom von Anfang an vorgelegen habe. Der Kläger habe nach Mitteilung des Arbeitgebers nach dem Unfall die gleichen Aufgaben wie vor dem Unfall verrichtet. Die Nichtbeweisbarkeit der Tatsache gehe zu Lasten des Klägers. Es sei zutreffend von einem leichtgradigen hirnorganischen Syndrom auszugehen, das sich hauptsächlich in einer verminderten Leistungsfähigkeit, gering eingeschränkter Gedächtnis- und Konzentrationsfähigkeit, gelegentlichen Kopfschmerzen und einer vermehrten Aggressivität geäußert habe. Es sei dabei auch von dem Versicherten gegenüber den Gutachtern angegeben worden, dass es manchmal zu Fehlleistungen am Arbeitsplatz komme. Es sei davon auszugehen, dass auch dies bei der Bemessung der MdE zur erstmaligen Feststellung der Rente auf unbestimmte Zeit beachtet worden sei, auch wenn die Einschätzung mit 20 v. H. nicht der damals gängigen Einschätzung entsprochen habe. Eine – wenn auch eventuell von den geltenden Erfahrungswerten abweichende – Beurteilung einer MdE erfülle jedoch für sich allein nicht das Tatbestandsmerkmal eines unrichtigen Sachverhaltes nach § 44 SGB X.

Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Prozessakte, die Akte S 36 U 72/10, die Verwaltungsakten der Beklagten und die Sitzungsniederschrift vom 13. Dezember 2016 ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten hierzu ihr Einverständnis erteilt haben.

Die statthafte (§§ 143, 144 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG)) und auch im Übrigen zulässige, insbesondere form- und fristgerecht eingelegte (§ 151 SGG) Berufung ist unbegründet. Der Tenor des Sozialgerichts ist jedoch mit der Maßgabe zu ändern, dass die Beklagte verurteilt wird, dem Kläger eine Rente unter Berücksichtigung einer MdE von 30 Prozent ab dem 1. Januar 2008 nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu zahlen. Das Sozialgericht hat der Klage zu Recht und mit zutreffender Begründung stattgegeben. Die vom Kläger erhobene Klage war so, wie sie vom Senat ausgelegt wird (§ 123 SGG), zulässig und begründet. Zutreffende Klageart ist die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 S. 1 und Abs. 4 i.V.m. § 56 SGG). Der angefochtene Bescheid vom 25. November 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24. Juli 2014 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat Anspruch auf Rente wegen einer MdE in Höhe von 30 v. H.

Arbeitsunfall - Bewertung geistig-psychischer Folgen
(Symbolfoto: Von Roman Zaiets/Shutterstock.com)

Rechtsgrundlage für das Begehren des Klägers auf Abänderung des Bescheids vom 3. September 1987 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 8. November 1988 ist § 44 SGB X. Nach § 44 Abs. 1 S. 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich – unter anderem – im Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind. Der Bescheid vom 3. September 1987 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 8. November 1988 ist insoweit nicht begünstigend, als damit die Gewährung einer Rente aufgrund einer höheren MdE als 20 v. H. abgelehnt worden ist.

Der Bescheid vom 3. September 1987 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 8. November 1988 ist auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, zurückzunehmen, da zum Zeitpunkt seiner Bekanntgabe das Recht unrichtig angewandt worden ist. Nach § 581 Abs. 1 Nr. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) i.d.F. vom 31. Januar 1987 werden als Verletztenrente, solange infolge des Arbeitsunfalls die Erwerbsfähigkeit des Verletzten um wenigstens ein Fünftel gemindert ist, der Teil der Vollrente gewährt, der dem Grad der Minderung seiner Erwerbsfähigkeit entspricht (Teilrente). Nach Absatz 2 sind bei der Bemessung der MdE Nachteile zu berücksichtigen, die der Verletzte dadurch erleidet, dass er bestimmte, von ihm erworbene besondere berufliche Kenntnisse und Erfahrungen infolge des Unfalls nicht mehr oder nur noch in vermindertem Umfang nutzen kann, soweit sie nicht durch sonstige Fähigkeiten, deren Nutzung ihm zugemutet werden kann, ausgeglichen werden.

Die Bemessung des Grades der MdE, also die aufgrund von § 581 Abs. 1 RVO durch eine Schätzung vorzunehmende Festlegung des konkreten Umfangs der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens, ist eine tatsächliche Feststellung, die das Gericht gemäß § 128 Abs. 1 S. 1 SGG nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung trifft (vgl. BSG, Urteil vom 2. Mai 2001 – B 2 U 24/00 R, SozR 3-2200 § 581 Nr. 8). Neben der Feststellung der Beeinträchtigung des Leistungsvermögens des Versicherten ist dabei die Anwendung medizinischer sowie sonstiger Erfahrungssätze über die Auswirkungen bestimmter körperlicher oder seelischer Beeinträchtigungen auf die verbliebenen Arbeitsmöglichkeiten des Betroffenen auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens erforderlich. Als Ergebnis dieser Wertung ergibt sich die Erkenntnis über den Umfang der dem Versicherten versperrten Arbeitsmöglichkeiten. Hierbei kommt es stets auf die gesamten Umstände des Einzelfalles an (vgl. BSG, Urteil vom 19. Dezember 2000 – B 2 U 49/99 R, juris). Bei Berufskrankheiten richtet sich die MdE – wie bei den Unfallfolgen – einerseits nach der Schwere des noch vorhandenen akuten Krankheitszustands sowie andererseits nach dem Umfang der dem Erkrankten verbliebenen Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens (vgl. BSG a.a.O.). Die Beurteilung, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Verletzten oder des an einer Berufskrankheit Erkrankten durch die Folgen des Unfalls oder durch die Berufskrankheit beeinträchtigt sind, liegt in erster Linie auf ärztlich-wissenschaftlichem Gebiet. Bei der Beurteilung der MdE sind aber auch die zumeist in jahrzehntelanger Entwicklung von der Rechtsprechung sowie von dem versicherungsrechtlichen und versicherungsmedizinischen Schrifttum herausgearbeiteten allgemeinen Erfahrungssätze zu beachten, die zwar nicht für die Entscheidung im Einzelfall bindend sind, aber Grundlage für eine gleiche, gerechte Bewertung der MdE in zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis bilden und einem ständigen Wandel unterliegen (vgl. BSG a.a.O.).

Die bereits mit Bescheid vom 3. September 1987 festgestellten Unfallfolgen des Klägers liegen seitdem weiterhin unstreitig bei ihm vor. Der Kläger leidet unter einer Kopfschmerzneigung, einem hirnorganischen Syndrom, einer festen, etwas eingesunkenen Knochennarbe im Stirnbereich und einer Hirnschädigung mit verbliebenen Leistungsbeeinträchtigungen. Streitig ist jedoch, ob es sich – wie im Bescheid festgestellt – nur um ein leichtes hirnorganisches Syndrom handelt und ob nur geringfügige Leistungsbeeinträchtigungen verblieben sind. Der Senat nimmt insoweit vollumfänglich auf den Hinweis des Berichterstatters im Erörterungstermin am 13. Dezember 2016 Bezug. Der Kläger berichtete bereits am 29. Oktober 1986 im Rahmen der Begutachtung durch Prof. Dr. S., dass ihn nach wie vor seine eingeschränkte Gedächtnisleistung störe, auch wenn sich diese verbessert habe. Er müsse gelegentlich von einer fremden Baustelle aus in der Firma anrufen, da er Einzelheiten des Auftrages, gelegentlich auch den genauen Ort seines Arbeitseinsatzes vergessen habe. Auch seine Konzentrationsfähigkeit sei gestört. Diese Angaben des Klägers decken sich mit der Befunderhebung von Dr. L1, der bei seiner Testung sowohl Merkfähigkeits- als auch Konzentrationsstörungen beim Kläger feststellte. Ebenso stellte Dr. N. in seinem Gutachten vom 29. März 2015 fest, dass vor allem gegen Ende der Exploration Aufmerksamkeit und Konzentration beim Kläger spürbar nachließen. Die höheren kognitiven Leistungen wie problemlösendes Denken und Handeln seien viskös, der Kläger wirke irritierbar, ablenkbar, es falle ihm schwer, bei der Sache zu bleiben, und es gelinge ihm wiederholt nicht, sich konzentriert auf Details in der Exploration einzustellen. Merkfähigkeit und Kurzzeitgedächtnis wirkten zudem leicht beeinträchtigt. Eine nur geringfügige Leistungsbeeinträchtigung kann vor diesem Hintergrund nicht angenommen werden. Die Einschätzung nach Aktenlage von Dr. L1, dass der Kläger unbeeinträchtigt seine vorherige Tätigkeit ausgeübt habe, lässt sich damit nicht vereinbaren.

Der Senat hat zudem keinen Zweifel daran, dass bei dem Kläger nicht nur Leistungsbeeinträchtigungen auf kognitivem Gebiet vorliegen, sondern dass auch ein hirnorganisches Psychosyndrom vorliegt. Bereits Dr. W1 ging von dieser Diagnose im neurologischen Befundbericht vom 13. Februar 1986 aus. Ebenso diagnostizierte auch Dr. S1 im nervenärztlichen Gutachten vom 10. März 1988 ein leichtes hirnorganisches Psychosyndrom mit Affektlabilität und glaubhafter gelegentlicher Gereiztheit. Dr. N. beschrieb den Kläger in seinem Gutachten vom 29. März 2015 ebenfalls als impulsiv und leicht reizbar und ging ebenfalls von einem hirnorganischen Psychosyndrom aus. Dr. N. legte sodann unter Auswertung der damals einschlägigen Literatur ausführlich dar, dass in den 1980er Jahren ein hirnorganisches Psychosyndrom mit einer MdE von mindestens 30 bis 40 v. H. eingeschätzt worden sei. Selbst unter Zugrundlegung eines nur leichtgradigen hirnorganischen Psychosyndroms wäre daher eine MdE von 30 v. H. zum damaligen Zeitpunkt angemessen gewesen. Nach der heutigen Literatur (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Aufl. 2017, S. 207) ist bei isoliertem Vorkommen von leichten organisch-psychischen Störungen (organisches Psychosyndrom und organische Wesensänderung) eine MdE von 20 bis 40 v. H. und bei Hirnschäden mit leichten kognitiven Leistungsstörungen von bis zu 30 v. H. anzunehmen. Auch hier ist in der Gesamtschau der kognitiven und psychischen Beeinträchtigungen somit von einer MdE von 30 v. H. auszugehen.

Eine Rücknahme nach § 44 SGB X ist auch nicht – wie die Beklagte meint – deswegen ausgeschlossen, weil es sich nur um einen Subsumtionsfehler gehandelt habe. Es vermag nicht zu überzeugen, Subsumtionsfehler nicht als unrichtige Rechtsanwendung zu behandeln (so aber Merten, in: Hauck/Noftz, SGB X, Stand April 2018, § 44 SGB X Rn. 32 unter Berufung auf SG Aachen, Urteil vom 16. Dezember 2009 – S 8 U 69/09, juris). Eine solche Auslegung lässt sich bereits nicht mit dem Wortlaut des § 44 Abs. 1 SGB X vereinbaren, der gerade allgemein von einer unrichtigen Anwendung des Rechts spricht (vgl. Baumeister, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2. Aufl. 2017, § 44 SGB X Rn. 44). Der Wortlaut macht vielmehr deutlich, dass sowohl im Falle eines richtig angenommenen Sachverhalts, aber fehlerhaften Rechtsanwendung als auch bei Annahme eines unrichtigen Sachverhalts trotz dann folgerichtiger Rechtsanwendung die Möglichkeit der Rücknahme des Verwaltungsaktes bestehen soll. Ein Grund, Betroffene, die durch die Behörde aufgrund der Heranziehung einer unzutreffenden Rechtsgrundlage oder bei Annahme eines falschen Sachverhalts einen Nachteil erlitten haben, besser zu stellen als diejenigen, bei denen ein richtiger Sachverhalt lediglich falsch subsumiert wurde, also das Recht falsch angewandt wurde, ist nicht ersichtlich.

Die Beklagte hat eine Rente aufgrund einer MdE von 30 v. H. ab dem 1. Januar 2008 zu erbringen. Nach § 44 Abs. 4 SGB X sind Sozialleistungen längstens für einen Zeitraum von bis zu vier Jahren vor der Rücknahme zu erbringen, wenn ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen wird. Erfolgt die Rücknahme auf Antrag, tritt bei der Berechnung des Zeitraumes, für den rückwirkend Leistungen zu erbringen sind, anstelle der Rücknahme der Antrag.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ausgang des Rechtsstreits. Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 SGG liegen nicht vor.

 

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