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Arbeitsunfall – Folgenbewertung unter Berücksichtigung eines Vorschadens

Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen – Az.: L 17 U 27/18 – Urteil vom 05.12.2018

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 01.12.2017 geändert und die Klage abgewiesen.

Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Klägerin eine Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von mehr als 50 v.H. zu gewähren ist.

Die am 00.00.1962 geborene Klägerin leidet seit 1987 unter Multipler Sklerose mit inkompletter beinbetonter Tetraplegie. Seit 1990 erfolgte die Urinableitung über einen Blasenkatheter, seit 1991 besteht Rollstuhlpflichtigkeit. 2007 kam es zu einer Blasenaugmentation mit Ileum und Anlage eines kontinenten Appendix-Stomas, 2008 zu einer Nabelpouchimplantation. Im August 2009 wurde wegen Inkontinenz des Pouches eine Pouchrevisionsoperation durchgeführt.

Am 30.11.2009 erlitt die Klägerin auf dem Nachhauseweg von ihrer Arbeit als Steinmetzin bei der Fa. Grabmale I einen Unfall, als sie als Rollstuhlfahrerin von einem Radfahrer angefahren wurde. Dabei stürzte sie auf die linke Seite und der Radfahrer fiel auf sie. Eine Erstvorstellung erfolgte am Unfalltag bei dem Durchgangsarzt Dr. M in E, der eine Schulterprellung links diagnostizierte. Am 17.12.2009 wurde die Klägerin in der urologischen Klinik des I-Klinikums X aufgenommen. Bei vorbestehendem Nabelpouch nach Blasenresektion sei ein Einriss in den Kontinenzmechanismus festgestellt worden. Vom 27.01.- 05.02.2010 wurde die Klägerin erneut stationär aufgenommen, es erfolgte eine operative Pouchrevision. Der Pouch war gleichwohl weiterhin undicht. Im weiteren Verlauf traten Komplikationen auf in Form von Fistelbildung und rezidivierenden Harnwegsinfekten, es kam zu Wundheilungsstörungen und Ausbildung einer Bauchdeckenhernie, zwischen Januar 2010 und September 2011 wurde die Klägerin aufgrund dessen mehrfach operiert.

Die Klägerin übersandte der Beklagten ein für die AOK D erstelltes urologisches Gutachten des Dr. N vom 26.10.2010. Darin heißt es, aufgrund des Unfallhergangs müsse ein Ausreißen einer inneren Naht im Bereich des Verschlussmechanismus postuliert werden. Dies habe zu der Blutung und in der Folge zu einer Insuffizienz des Verschlussmechanismus sowie der Fistelbildung geführt. Die unwillkürlich auftretende Undichtigkeit stelle eine deutliche Einschränkung der Erwerbsfähigkeit der Klägerin dar, diese sei auf 100 v.H. einzuschätzen.

In einer fachurologischen Stellungnahme vom 27.04.2012 teilte PD Dr. A mit, dass bei der Klägerin nunmehr ein regelmäßiges und optimales Katheterisieren erforderlich sei, dies in Abständen von ca. 2 Stunden und nur im Liegen.

Bis zum 31.12.2012 bezog die Klägerin Verletztengeld. Die Beklagte nahm weitere Befund- und Behandlungsberichte der Klägerin zu den Akten und holte zur ersten Rentenfeststellung zunächst ein Gutachten des Urologen Dr. X vom 07.03.2013 ein. Dieser führte im Wesentlichen aus, bei der Klägerin sei aufgrund ihrer neurogenen Blasenentleerungsstörung bei Multipler Sklerose ein Nabelpouch angelegt worden. Vor dem Unfall sei die Kontinenz gut gewesen. Als dauerhafte Folge des Unfalls könne die aktuelle Entleerungsproblematik des Pouches mit rezidivierenden Infekten und den damit verbundenen Einschränkungen des täglichen Lebens gesehen werden. Somit sei von einer dauerhaften Verschlimmerung des vorbestehenden Leidens aufgrund des Unfalls auszugehen. Die Klägerin müsse die regelmäßige Selbstkatheterisierung alle 2 Stunden im Liegen durchführen. Nur so sei ein beschwerdefreies Leben möglich. In der Zusammenschau der Befunde sei zum aktuellen Zeitpunkt eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 100 v.H. aufgrund der Unfallfolgen gegeben. In zwei ergänzenden Stellungnahmen vom 07.03.2013 und 24.04.2013 verblieb Dr. X bei seiner Einschätzung. Er gab ergänzend an, die Klägerin leide an einer Schädigung der Harnwege mit der Notwendigkeit des regelmäßigen manuellen Katheterisierens mit einem MdE-Grad von 50 v.H. Zudem bestehe eine künstliche Harnableitung durch den Nabelpouch mit Entleerungsproblematik mit einem MdE-Grad von 60-80 v.H. Des Weiteren könne die MdE bei chronischen Harnwegsinfekten mit teilweise schwerwiegenden Komplikationen mit 30 v.H. angesetzt werden, so dass insgesamt eine MdE aufgrund der Unfallfolgen von 100 v.H. gerechtfertigt sei.

In einem weiteren Gutachten vom 18.06.2013 gab der Chirurg PD Dr. T die MdE im Hinblick auf die Bauchdeckensituation aus plastisch-chirurgischer Sicht mit unter 10 v.H. an. Weitere Unfallfolgen auf seinem Fachgebiet stellte er nicht fest.

Arbeitsunfall - Folgenbewertung unter Berücksichtigung eines Vorschadens
(Symbolfoto: Thanumporn Thongkongkaew/Shutterstock.com)

Die Beklagte legte die Unterlagen anschließend dem Urologen Dr. T vor, der in seiner beratungsärztlichen Stellungnahme vom 15.09.2013 die Ansicht vertrat, die Klägerin sei voll arbeitsfähig, wenn die Arbeitsstelle so eingerichtet sei, dass sie sich im Liegen katheterisieren könne. Bedingt durch den Unfall habe sich eine eindeutige Verschlimmerung des Vorschadens entwickelt. Als bleibende Verschlimmerung müsse sich die Klägerin jetzt liegend katheterisieren, was vorher noch bequem im Stehen möglich gewesen sei. Wenn man davon ausgehe, dass die urologische Funktionsstörung vor dem Unfall mit einer Teil-MdE von 60 v.H. zu bewerten gewesen wäre und man jetzt von einer urologischen MdE von 100 v.H. ausgehe, ergäbe sich rein mathematisch auf Dauer eine unfallbedingte MdE von 40 v.H. Zwischen dem Unfall und der endgültigen Sanierung am 08.09.2011 sei die Teil-MdE zweifelsfrei mit 100 v.H. zu bewerten, für diesen Zeitraum ergebe sich eine mathematische Differenz von 40 v.H. Die unfallabhängige Verschlimmerung präge die Auswirkungen der Funktionsstörung aber ausgeprägter, als es mit der mathematischen MdE-Einschätzung ausgedrückt werden könne. Daher schlage er eine MdE von 50 v.H. vor. Gegebenenfalls müsse die Klägerin mit einer transportablen, möglichst kleinen zusammenlegbaren Liege versorgt werden, damit sie sich möglichst überall im Liegen katheterisieren könne.

Mit Bescheid vom 24.10.2013 gewährte die Beklagte der Klägerin ab Januar 2013 eine Verletztenrente nach einer MdE von 50 v.H. Der Arbeitsunfall habe zu folgenden Einschränkungen geführt, die bei der Bewertung der MdE berücksichtigt worden seien: Funktionsgestörter Kontinenzmechanismus im Nabelpouch mit der Notwendigkeit, sich nur noch im Liegen zu katheterisieren. Unfallunabhängig bestehe eine MS-Erkrankung mit neurogener Blasenentleerungsstörung und nachfolgender Zystektomie mit Harnableitung über ein selbstkatheterisierbares Stoma.

Gegen diesen Bescheid legte die Klägerin am 29.10.2013 Widerspruch ein, soweit den Feststellungen in dem Bescheid nicht eine MdE von 100 v.H. zugrunde gelegt wurde. Dem Gutachten des Dr. X sei zu folgen.

Der Widerspruch wurde von der Beklagten mit Widerspruchsbescheid vom 22.05.2014 als unbegründet zurückgewiesen. Durch den Wegeunfall habe sich eine Verschlimmerung des Vorschadens entwickelt. Der Vorschaden zeige sich darin, dass die Klägerin sich vor dem Unfall jederzeit selbst katheterisieren konnte, was nun nur noch im Liegen möglich sei. Der Gutachter Dr. T habe die vor dem Unfall bestehende Funktionsstörung mit 60 v.H. eingeschätzt. Die jetzige urologische Situation sei mit einer Teil-MdE von 100 v.H. einzuschätzen. Bei der MdE-Einschätzung sei jedoch wegen der funktionellen Wechselwirkung der Vorschaden zu berücksichtigen. Hier sei das gleiche Organ betroffen.

Hiergegen hat die Klägerin am 05.06.2014 vor dem Sozialgericht Köln (SG) Klage erhoben. Sie hat die Ansicht vertreten, die unfallbedingte MdE betrage 100 v.H. Sie sei durch den Unfall und dessen Folgen erheblich betroffen.

Die Klägerin hat beantragt, die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 24.10.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.05.2014 zu verurteilen, ihr wegen der Folgen des Unfalls vom 30.11.2009 eine Verletztenrente nach einer MdE von 100 v.H. ab dem 01.01.2013 zu gewähren.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.

Sie hat ihre Entscheidung für zutreffend gehalten und weiterhin die Ansicht vertreten, die Unfallfolgen seien mit einer MdE von 50 v.H. zutreffend bewertet. Dabei sei zu berücksichtigen, dass die Klägerin schon vor dem hier in Rede stehenden Unfall durch die unfallunabhängige Erkrankung erheblich beeinträchtigt gewesen sei. Sie sei schon vor dem Unfall zu 100 v.H. erwerbsgemindert gewesen.

Das SG hat von Amts wegen Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens des Urologen Prof. Dr. N, Universitätsklinikum C, vom 29.04.2016 nebst ergänzender Stellungnahme vom 10.12.2016. Der Sachverständige hat ausgeführt, die aktuelle Katheterisierungsfrequenz liege bei 1,5 – 2 stündlich, sowohl tagsüber als auch nachts. Der Versuch einer nächtlichen Dauerableitung sei frustran verlaufen, so dass auch nachts die Selbstkatheterisierung notwendig sei. Hierfür müsse die Klägerin liegen. Für den Transfer aus dem Rollstuhl in eine liegende Position benötige die Klägerin aufgrund der Multiplen Sklerose Hilfe. Ein selbstständiger Positionswechsel sei ohne Hilfe nicht möglich. Dabei stelle die Katheterisierung während des Tagesverlaufs ein großes Problem dar, da niemand zur Verfügung stehe, der die Klägerin im Rahmen der Frequenz von 1,5 – 2 Stunden aus dem Sitzen in das Liegen umlagere. Die Zeit für die Katheterisierung inklusive aller Transfers betrage ca. 10 Minuten. Berücksichtige man, dass bei künstlicher Harnableitung nach außen bei guter Versorgungsmöglichkeit ein MdE-Grad von 50 v.H. angenommen werde, sei dies hier zu gering, da die Katheterisierungsfrequenz, insbesondere auch nachts, sowie die Art und Dauer der Hilfestellung als wesentliche Begleiterscheinung zu werten seien. Im aktuellen Fall lägen besondere Erschwernisse vor, so dass mindestens eine MdE von 80 v.H. anzusetzen sei. Es sei zu bedenken, dass von der Logistik und der Architektur eines Arbeitsplatzes her die ständige Bereitstellung einer Liege nicht realisierbar sei, da diese auch nicht in die Grundfläche einer Behindertentoilette passe. Zudem müsse der Klägerin 1,5 – 2 stündlich eine Hilfs- oder Pflegeperson zur Verfügung stehen. Daher sei unter Berücksichtigung der individuellen Erschwernisse eine MdE von 100 v.H. gerechtfertigt.

Mit Urteil vom 01.12.2017 hat das SG die Beklagte in Abänderung des Bescheides vom 24.10.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.05.2014 verurteilt, der Klägerin wegen der Folgen des Unfalls vom 30.11.2009 ab dem 01.01.2013 eine Verletztenrente nach einer MdE von 100 v.H. zu gewähren. In der Begründung hat sich das SG auf das urologische Gutachten des Prof. Dr. N gestützt. Der Einschätzung der MdE schließe sich die Kammer im Ergebnis an. Dabei werde nicht verkannt, dass die Klägerin bereits vor dem Unfall erheblich eingeschränkt gewesen sei. Die Notwendigkeit der Hilfe für einen Positionswechsel aus dem Rollstuhl auf die Liege sei zwar grundsätzlich unfallunabhängig im Rahmen der Grunderkrankung Multiple Sklerose zu sehen. Die Tatsache aber, dass es überhaupt zu einem Positionswechsel alle 1,5 – 2 Stunden kommen müsse, sei alleine unfallbedingt. Die Hilfe zum Katheterisieren im Liegen sei daher als Unfallfolge zu werten und müsse dementsprechend auch bei der Veranschlagung der MdE berücksichtigt werden. Die Klägerin habe vor dem Unfall trotz ihrer unbestrittenen Behinderung einer Tätigkeit nachgehen können. Nach dem Unfall sei dies nun aufgrund der vor allen Dingen von Prof. Dr. N in seinem Gutachten beschriebenen Einschränkungen, die durch die Unfallfolgen eingetreten seien, nicht mehr möglich. Insoweit ergebe sich auch aus der beratungsärztlichen Stellungnahme von Dr. T nichts anderes. Die von ihm angesprochene Möglichkeit, die Klägerin mit einer transportablen, möglichst kleinen zusammenlegbaren Liege zu versorgen, sei wohl eher theoretisch, worauf Prof. Dr. N in seinem Gutachten auch hingewiesen habe. Prof. Dr. N sei, was die MdE-Bewertung angehe, überdies im Wesentlichen zum gleichen Ergebnis gekommen, wie der von der Beklagten im Verwaltungsverfahren beauftragte Gutachter Dr. X.

Gegen das ihr am 15.12.2017 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 11.01.2018 Berufung eingelegt. Sie ist der Auffassung, das erstinstanzliche Urteil sei fehlerhaft, da sich der Vorschaden bei der Bemessung der MdE mindernd auswirken müsse. Durch den Vorschaden (Stomaversorgung mit der Erforderlichkeit von Selbstkatheterismus) seien bereits erhebliche funktionelle Defizite vorhanden gewesen, die sich mit den Unfallfolgen überschnitten und daher zwingend zu einer niedrigeren MdE führen müssten.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 01.12.2017 abzuändern und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Die Klägerin hält das Urteil des SG für zutreffend. Sie beruft sich auf die Ausführungen von Prof. Dr. N.

Mit Schriftsatz vom 09.05.2018 hat die Beklagte darauf hingewiesen, dass sich aus einem vor dem Landgericht Köln anhängigen Rechtsstreit der Beklagten gegen den Unfallgegner neue medizinische Gesichtspunkte ergäben. Der Senat hat die Akten (Az. 19 O 52/15) beigezogen und den Beteiligten das Gutachten des PD Dr. M1, Chefarzt der urologischen Klinik des Krankenhaus I, vom 06.02.2018 zur Kenntnisnahme übersandt. Dieser hat zusammenfassend ausgeführt, dass die Inkontinenz des Pouches nicht Folge des Unfallereignisses sei. Zudem hat die Beklagte eine vom Landgericht Köln eingeholte ergänzende Stellungnahme des PD Dr. M1 vom 29.08.2018 übersandt, in welcher dieser u.a. darauf hingewiesen hat, pathogenetisch könne das Unfallgeschehen nicht zu einer Fistelbildung geführt haben.

Mit Bescheid vom 06.06.2018 hat die Beklagte festgestellt, dass der Bescheid über die Rente auf unbestimmte Zeit vom 24.10.2013 nach einer MdE von 50 v.H. rechtswidrig sei. Er könne nicht nach § 45 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) zurückgenommen werden. Gemäß § 48 Abs. 3 SGB X werde die Leistung eingefroren. In der Begründung hat die Beklagte ausgeführt, am 16.04.2018 sei eine fachurologische Stellungnahme von Dr. A1 aus Bad G erstellt worden. Danach sei eine unfallbedingte Ursache der Inkontinenz nicht mit dem geforderten Vollbeweis gegeben. Ein Erstschaden könne nicht nachgewiesen werden. Weder aus dem Erstbericht noch aus der Aktendokumentation lasse sich ein Zusammenhang im Vollbeweis begründen. Beweise für das behauptete Bauchtrauma fehlten. Diesbezügliche ärztliche Untersuchungen als Nachweis lägen nicht vor. Eine posttraumatische Blutung im Pouchbereich sei nicht objektiviert. Es gebe auch keine aktenkundigen objektivierenden Befunde bezüglich eines ausgerissenen Kontinenzmechanismus mit Blutung und nachfolgender Inkontinenz oder Hinweise für ein Hämatom. Unbewiesen sei auch die Ursache für die am 26.01.2011 festgestellte Fistelbildung. Der Bescheid vom 24.10.2013 sei somit rechtswidrig, könne jedoch wegen entgegenstehenden Vertrauensschutzes der Klägerin nicht zurückgenommen werden. Der Bescheid behalte Bestandskraft. Aufgrund der anstehenden Rentenanpassung zum 01.07.2018 sei jedoch eine wesentliche Änderung der Verhältnisse eingetreten, die Rente wäre zu erhöhen. Ohne die Bestandskraft würde der Klägerin für die Zukunft keine Unfallrente zustehen. Der Bescheid vom 24.10.2013 werde deshalb gemäß § 48 Abs. 3 SGB X für die Zukunft zurückgenommen, da in den tatsächlichen und rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen hätten, eine wesentliche Änderung eingetreten sei. Die Rente werde zukünftig nicht mehr erhöht, so dass sie an den jährlichen Rentenanpassungen nicht mehr teilnehme. Sie betrage bis auf weiteres mtl. 574,95 EUR bzw. je nach Ausgang des Berufungsverfahrens mtl. 1.149,90 EUR. Der Bescheid sei nach § 96 Sozialgerichtsgesetz (SGG) Gegenstand des anhängigen Verfahrens geworden.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Berufung ist begründet.

Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Gewährung der ihr mit Bescheid vom 24.10.2013 grundsätzlich zuerkannten Verletztenrente nach einer MdE von mehr als 50 v.H. Der insofern angefochtene Bescheid vom 24.10.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.05.2014 ist rechtmäßig. Die Klägerin ist dadurch nicht beschwert im Sinne von § 54 Abs. 2 S. 1 SGG.

Der Bescheid vom 06.06.2018 ist entgegen der Auffassung der Beklagten nicht gem. §§ 153 Abs. 1, 96 Abs. 1 SGG Gegenstand des Verfahrens geworden, denn er ändert den angefochtenen Bescheid weder ab noch ersetzt er ihn. Gemäß § 96 Abs. 1 SGG wird nach Klageerhebung ein neuer Verwaltungsakt Gegenstand des Klageverfahrens, wenn er nach Erlass des Widerspruchsbescheids ergeht und den angefochtenen Verwaltungsakt abändert oder ersetzt. Eine Abänderung oder ein Ersetzen i.S.v. § 96 SGG setzt allgemein voraus, dass der Regelungsgegenstand des neu einzubeziehenden Verwaltungsakts mit demjenigen des früheren identisch ist, was durch einen Vergleich der Verfügungssätze festgestellt werden muss (Leitherer in: Meyer-Ladewig/ Keller/ Leitherer, SGG – Kommentar, 12. Auflage 2017, § 96 Rn. 4a). Allein noch streitiger Regelungsgegenstand des früheren Bescheides vom 24.10.2013 ist, dass die Klägerin wegen der Folgen des Arbeitsunfalles eine Rente nach einer MdE von 50 v.H. erhält. Ausweislich des neuen Bescheides vom 06.06.2018 hat die Beklagte eine anstehende Rentenanpassung zum 01.07.2018 zum Anlass genommen, den Rentenzahlbetrag gemäß § 48 Abs. 3 SGB X einzufrieren. Nach letztgenannter Vorschrift darf, wenn ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt nach § 45 SGB X nicht zurückgenommen werden kann und eine Änderung nach § 48 Abs. 1 oder 2 SGB X zugunsten des Betroffenen eingetreten ist, die neu festzustellende Leistung nicht über den Betrag hinausgehen, wie er sich der Höhe nach ohne Berücksichtigung der Bestandskraft ergibt. § 48 Abs. 3 SGB X vermittelt damit nur eine Rechtsfolge, welche die ursprüngliche Leistungsgewährung nach einer MdE von 50 vH mit Bescheid vom 24.10.2013 nicht berührt, sondern lediglich den festgestellten Zahlbetrag festschreibt. Mit dieser Rechtsfolge greift § 48 Abs. 3 SGB X gerade nicht in den geschützten Bestand einer Leistung ein und nimmt nichts, sondern beschränkt vielmehr nur als Regelung des materiellen Leistungsrechts die an sich dem Betroffenen auf Grund der wesentlichen Änderung zustehende Leistungserhöhung (Schütze in: von Wulffen, SGB X, 8. Auflage 2014, § 48 Rn. 32; Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 30. August 2012 – L 3 U 15/10 -, juris Rn. 25).

Der Senat konnte auch abschließend entscheiden, ohne das Verfahren nach § 114 Abs. 2 S. 1 SGG auszusetzen. Gemäß § 114 Abs. 2 S. 1 SGG kann das Gericht anordnen, dass die Verhandlung bis zur Erledigung eines anderen Rechtsstreits oder bis zur Entscheidung der Verwaltungsstelle auszusetzen ist, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil vom Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet oder von einer Verwaltungsstelle festzustellen ist. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift sind nicht erfüllt. Insbesondere hängt die Entscheidung im vorliegenden Verfahren nicht von einer rechtskräftigen Entscheidung über die Rechtmäßigkeit des Bescheides vom 06.06.2018 ab, weil dessen Regelungen keine Auswirkung auf den vorliegend geltend gemachten Anspruch der Gewährung einer Rente nach einer höheren MdE haben. Denn mit dem Bescheid vom 06.06.2018 wird lediglich der Zahlbetrag der Rente eingefroren, ausweislich des Bescheides je nach Ausgang des hiesigen Berufungsverfahrens auf mtl. 574,95 EUR bzw. mtl. 1.149,90 EUR.

Ein Anspruch auf Gewährung der Verletztenrente nach einer höheren MdE steht der Klägerin nicht zu. Nach § 56 Abs. 1 S. 1 Sozialgesetzbuch Siebtes Buch (SGB VII) haben Versicherte in Folge eines Versicherungsfalles über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus Anspruch auf Gewährung von Rente, wenn die Erwerbsfähigkeit um mindestens 20 v.H. gemindert ist. Abweichend tritt die Entschädigungspflicht nach § 56 Abs. 1 S. 2 und 3 auch dann ein, wenn aus zwei Versicherungsfällen jeweils eine MdE von mindestens 10 v.H. resultiert. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit richtet sich nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens, § 56 Abs. 2 S. 1 SGB VII.

Als Unfallfolgen, welche Grundlage der MdE-Bemessung sind, hat die Beklagte mit dem Bescheid vom 24.10.2013 verbindlich festgestellt: Funktionsgestörter Kontinenzmechanismus im Nabelpouch mit der Notwendigkeit, sich nur noch im Liegen zu katheterisieren. Zwar hat die Beklagte diese Unfallfolgen nicht in einem eigenen Verfügungssatz, sondern unter der Überschrift „Begründung“ aufgeführt. Selbst wenn Verfügungssatz und Begründung klar voneinander getrennt sind, können gleichwohl Teile der Begründung eines Verwaltungsakts als weiterer Verfügungssatz bewertet werden, wenn ihnen unter Berücksichtigung der Interessen der Beteiligten nach dem jeweils anzuwendenden materiellen Recht eine solche Bedeutung zukommt (vgl. BSG, Urteil vom 22.06.2014, B 2 U 36/03 R, Rn. 16 m.w.N.). Hinsichtlich der Unfallfolgen wollte die Beklagte ersichtlich eine bindende Regelung im Sinne vom § 31 SGB X treffen. Eine Regelung liegt vor, wenn die Behörde eine potentiell verbindliche Rechtsfolge gesetzt hat. Dabei ist die Erklärung der Behörde unter entsprechender Anwendung der Grundsätze über die Auslegung von Willenserklärungen auszulegen. Maßgebend ist daher der objektive Sinngehalt der Erklärung, wie der Empfänger sie bei verständiger Würdigung nach den Umständen des Einzelfalls objektiv verstehen musste. Eine Regelung zielt allgemein ab auf die Begründung rechtlicher Verpflichtungen, entweder zu Lasten der Behörde oder zu Lasten des Bürgers. Dies ist der Fall, wenn Rechte begründet, abgelehnt, aufgehoben, festgestellt oder geändert werden oder wenn dies (jeweils) abgelehnt wird (Luthe in: juris-PK, § 31 SGB X, Rn. 39). Für eine verbindliche Regelung der Unfallfolgen spricht, dass die Anspruchsgrundlage des § 56 SGB VII, auf deren Grundlage die Beklagte den Bescheid vom 24.10.2013 erlassen hat, nicht nur die abschließende Entscheidung über den Leistungsanspruch erfasst, sondern auch über die einzelnen Anspruchselemente. Nach der Systematik des SGB VII sind in den Vorschriften, welche die Voraussetzungen der verschiedenen sozialen Rechte auf Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung regeln, nur die spezifischen Voraussetzungen der jeweiligen einzelnen Arten von Leistungsrechten ausgestaltet. Demgegenüber sind die allgemeinen Rechtsvoraussetzungen, die für alle Leistungsrechte des SGB VII gleichermaßen gelten, nämlich die Regelungen über den Versicherungsfall und die ihm zuzurechnenden Unfallfolgen (§§ 7 bis 13 i.V.m. §§ 2 bis 6 SGB VII), vorab und einheitlich ausgestaltet. Ermächtigung und Anspruch betreffen daher auch die Entscheidung über jene Elemente des Anspruchs, die Grundlagen für jede aktuelle oder spätere Anspruchsentstehung gegen denselben Unfallversicherungsträger aufgrund eines bestimmten Versicherungsfalls sind (so BSG, Urteil vom 05. Juli 2011 – B 2 U 17/10 R -, juris Rn. 17). Der Umstand, dass in dem angefochtenen Bescheid Unfallfolgen und nicht als Unfallfolgen anzuerkennende Gesundheitsstörungen ausdrücklich voneinander abgegrenzt wurden, belegt nach Auffassung des Senates, dass die Beklagte dies mit dem Bescheid ausdrücklich regeln wollte.

Die festgestellten Unfallfolgen binden demnach die Beklagte; auch die Klägerin hat sie nicht angegriffen, so dass der Senat die Höhe der MdE auf Grundlage dieser Unfallfolgen zu bewerten hat. Insoweit kann auch dahinstehen, ob eine Gesundheitsstörung möglicherweise zu Unrecht anerkannt wurde, denn die Beklagte hat den Bescheid insoweit nicht aufgehoben oder abgeändert, auch nicht mit Bescheid vom 06.06.2018.

Die MdE aufgrund der genannten Unfallfolgen ist entgegen der Auffassung der Klägerin und des SG mit nicht mehr als 50 v.H. zu bemessen. Die Bemessung des Grades der MdE erfolgt als Tatsachenfeststellung des Gerichts, das diese gemäß § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung trifft (st. Rspr., z.B. BSG, Urteil vom 18.01.2011, – B 2 U 5/10 R, SozR 4-2700 § 200 Nr 3; vom 5.9.2006 – B 2 U 25/05 R – SozR 4-2700 § 56 Nr 2). Die zur Bemessung der MdE in Rechtsprechung und Schrifttum herausgearbeiteten Erfahrungssätze sind dabei zu beachten. Sie sind zwar nicht für die Entscheidung im Einzelfall bindend, bilden aber die Grundlage für eine gleiche, gerechte Bewertung der MdE in zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis (vgl. BSG vom 22.6.2004 – B 2 U 14/03 R – BSGE 93, 63 = SozR 4-2700 § 56 Nr 1).

Die Einschätzung der MdE der Klägerin setzt voraus, dass die Unfallfolgen bei der Klägerin eine Beeinträchtigung des Leistungsvermögens hervorgerufen haben (BSG vom 18.01.2011, a.a.O.). Insofern ist nach der vom Senat geteilten Rechtsprechung des BSG (a.a.O., juris Rn. 20) zur Feststellung des Ursachenzusammenhangs zunächst zu prüfen, ob die MdE durch einen nachgewiesenen Versicherungsfall im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne verursacht worden ist. Bejahendenfalls ist weiter zu fragen, ob auch andere – ebenfalls sicher feststehende – Faktoren, wie Vorerkrankung, Nacherkrankung, innere Ursache usw. im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne kausal für das Bestehen einer MdE geworden sind.

Die unfallbedingte Beeinträchtigung der Klägerin liegt nach den Feststellungen der Beklagten im angefochtenen Bescheid in einer Funktionsstörung des Kontinenzmechanismus im Nabelpouch mit der Notwendigkeit, sich nur noch im Liegen zu katheterisieren und zwar – insoweit ausweislich des Gutachtens von Prof. Dr. N – tags wie nachts alle 1,5 bis 2 Stunden für 10 Minuten Dauer mit der Notwendigkeit fremder Hilfe beim Umlagern. Unfallunabhängig litt die Klägerin bereits vor dem hier streitgegenständlichen Unfall an einer neurogenen Blasenentleerungsstörung mit nachfolgender Zystektomie mit Harnableitung über ein selbstkatheterisierbares Stoma, wobei die Klägerin sich vor dem Unfall ohne fremde Hilfe im Sitzen selbst katheterisieren konnte. Insofern vermag der Senat die Ausführungen des gerichtlich gehörten Sachverständigen Prof. Dr. N nicht nachzuvollziehen, wenn dieser unfallunabhängige krankhafte Veränderungen negiert und meint, die Harnableitung per katheterisierbarem Pouch stelle keinen Vorschaden dar. Auch Prof. Dr. X hat in seinem Gutachten vom 11.02.2013 zunächst unfallunabhängige krankhafte Veränderungen verneint, in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 07.03.2013 jedoch als vorbestehendes Leiden die neurogene Blasenentleerungsstörung mit Zystektomie und Nabelpouchversorgung dargelegt und ist als Unfallfolge von einer dauerhaften Verschlimmerung im Hinblick auf die Entleerungsproblematik des Pouches mit konsekutiven rezidivierenden Infekten und damit verbundenen Einschränkungen des täglichen Lebens ausgegangen. In der MdE-Bewertung vom 24.04.2013 hat er indes nicht zwischen dem Vorschaden und der unfallbedingten Verschlimmerung differenziert. Vorbestehend war auch die Multiple Sklerose mit inkompletter Querschnittlähmung und Rollstuhlpflichtigkeit, die dazu führt, dass die Klägerin, um sich im Liegen zu katheterisieren, fremde Hilfe beim Transfer aus dem Rollstuhl in eine liegende Haltung benötigt.

Kausal für die gesundheitliche Situation der Klägerin in Bezug auf die Harnableitung sind also drei gesondert zu betrachtende Umstände, von denen nur einer Unfallfolge ist: Die Klägerin kann sich (1) wegen der Unfallfolgen nur noch im Liegen katheterisieren. Hierdurch ist die im Rahmen der (2) unfallunabhängig vorbestehenden neurogenen Blasenstörung ohnehin schon notwendige Harnableitung durch Selbstkatheterisierung über ein Stoma im Sitzen unmöglich geworden. Sie hat sich vielmehr wegen der im Rahmen der MS bestehenden unfallunabhängigen (3) inkompletten Tetraplegie mit Rollstuhlpflicht deutlich verkompliziert.

Damit sind diese drei Umstände auch sämtlich von Bedeutung für die Bemessung der unfallbedingten MdE, wirken sich allerdings unterschiedlich aus. Wird die MdE sowohl durch den Versicherungsfall als auch durch andere Faktoren verursacht, ist nach der Theorie der wesentlichen Bedingung zu beurteilen, ob die MdE „wesentlich“ durch den Versicherungsfall (mit)verursacht worden ist (BSG, Urteil vom 18. Januar 2011, a.a.O., juris Rn. 20). Dabei gilt, anders als bei der Überprüfung des Ursachenzusammenhangs, nicht das „Alles-oder-nichts-Prinzip“ (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Auflage, S. 133). Die Argumentation der Klägerseite und des gerichtlich gehörten Sachverständigen, vorher habe die Klägerin ihrem Beruf in dem Steinmetzbetrieb trotz ihrer Behinderung nachgehen können, während nunmehr das Leistungsvermögen vollständig aufgehoben sei, verkennt, dass dieser Zustand gleichwohl nicht allein auf die Unfallfolgen, sondern mitursächlich auch auf die Vorerkrankungen zurückzuführen ist. Bestanden bei dem Versicherten – wie hier – vor dem Versicherungsfall bereits gesundheitliche, auch altersbedingte Beeinträchtigungen der Erwerbsfähigkeit (sog. Vorschäden), werden diese nach der ständigen Rechtsprechung des BSG und der einhelligen Auffassung in der Literatur für die Bemessung der MdE berücksichtigt, wenn die Folgen des Versicherungsfalles durch die Vorschäden beeinflusst werden. Denn Versicherte unterliegen mit ihrem individuellen Gesundheitszustand vor Eintritt des Versicherungsfalls dem Versicherungsschutz in der gesetzlichen Unfallversicherung. Dies verlangt § 56 Abs. 2 S. 1 i.V.m. Abs. 1 S. 1 SGB VII, wonach die „infolge“ des Versicherungsfalls eingetretene Beeinträchtigung des Leistungsvermögens und die dadurch verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens maßgeblich sind (BSG, Urteil vom 05.09.2006, B 2 U 25/05 R, Rn. 11 ff. – juris). Für die Bemessung der MdE bei Vorschäden ist die bei dem Verletzten vor dem Versicherungsfall bestandene Erwerbsfähigkeit zugrunde zu legen und mit 100 v.H. einzusetzen. Die durch den Versicherungsfall bedingte Einbuße dieser individuellen Erwerbsfähigkeit ist in einem bestimmten Prozentsatz davon auszudrücken (BSG, a.a.O., juris Rn. 16).

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze bewirkt – in einem Zwischenschritt – bei der Bemessung der MdE die Kombination aus der Notwendigkeit sich im Liegen zu katheterisieren und dies zugleich wegen der bestehenden Tetraplegie nicht ohne fremde Hilfe zu können, einen vollständigen Wegfall der zuvor die individuelle Leistungsfähigkeit bestimmenden Eignung der Klägerin für sitzende Tätigkeiten im Rollstuhl, wie sie sie auch vor dem Unfall tatsächlich noch ausgeübt hat. Für den Senat steht aufgrund der eingeholten Gutachten fest, dass der der Klägerin bis zum Unfall insoweit offene Arbeitsmarkt zu 100 v.H. verschlossen ist. Zum Risiko der gesetzlichen Unfallversicherung gehört es, auch für solche Fälle einzustehen, in denen sich Unfallfolgen wegen eines Vorschadens verstärken (so Schönberger et al, a.a.O., S. 133). Dies ist vorliegend der Fall, denn infolge der Querschnittlähmung kann die Klägerin sich nicht ohne Hilfe in eine liegende Position bringen, in welcher ihr das Katheterisieren, welches unfallbedingt nurmehr im Liegen möglich sowie in kürzeren Abständen alle 2 Stunden (vor dem Unfall waren noch 4 Stunden ausreichend) erforderlich ist, so dass man die Situation der Klägerin ab dem 01.01.2013 mit allen gehörten Medizinern mit einer MdE von 100 v.H. – jedoch einschließlich des Vorschadens – bewerten muss. Hierbei wirkt sich die Rollstuhlgebundenheit der Klägerin, obwohl selbst nicht unfallbedingt, im Sinne eines „heterolateralen Vorschadens“ (sinngemäße Übertragung der auf paarige Organe bezogenen Diktion bei Schönberger et al., a.a.O., 6.4.8.1 und 6.4.8.3, S. 315 und 317) dahingehend aus, dass wegen der besonderen Auswirkungen dieses Schadens eine sonst gegebene Kompensationsmöglichkeit für den Unfallschaden (Hinlegen zum Katheterisieren) entfällt. Dass dies die der MdE-Bemessung zugrundelegenden Tatsachen sind, entnimmt der Senat den eingeholten Gutachten, auch wenn diese die Problematik der Vorschäden nicht zutreffend werten.

Dennoch kann in einem zweiten Schritt der Grad der MdE hier nicht endgültig mit 100 v.H. eingeschätzt werden, da ein weiterer, nunmehr „homolateraler“ Vorschaden, nämlich ein Vorschaden am unfallgeschädigten Organ selbst, zu berücksichtigen ist. Unter Berücksichtigung des neurogenen Vorschadens an der Blase mit Stomaversorgung und noch möglicher Selbstkatheterisierung ist die unfallbedingte zusätzliche Funktionsbeeinträchtigung des Nabelpouches mit der Notwendigkeit, sich nur noch im Liegen zu katheterisieren, als zusätzliche funktionelle Einschränkung derselben Körperfunktion zu werten. Vorschaden und hinzutretende Gesundheitsstörung treffen hier dasselbe Organ, so dass der auszugleichende Nachteil geringer ist, als wenn die Stomaversorgung und Katheterisierungsnotwendigkeit vollständig unfallbedingt wären. Entschädigt wird hier nur der unfallbedingte Verschlimmerungsanteil, wobei sich insofern eine rein rechnerische Betrachtung verbietet (LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 22.12.2011, L 6 U 53/08, juris Rn. 32 m.w.N., Schönberger et al., a.a.O., S. 135). Maßgeblich ist vielmehr der im Einzelfall sachgerecht zu schätzende Funktionsverlust im Verhältnis zum Zustand vor dem Versicherungsfall (LSG Sachsen-Anhalt, aaO.). Die Harnableitung über ein Stoma wird mit einer MdE von 60-100% belegt (Schönberger et. al., a.a.O., S. 1029). Dr. T schätzte die unfallunabhängig vorbestehende MdE insofern nachvollziehbar mit 60 v.H. ein. Insofern erscheint es nicht gerechtfertigt, den verschlimmerungsbedingten Anteil der MdE betreffend die Blasenentleerungsstörung unter Berücksichtigung des weiteren Vorschadens mit mehr als 50 v.H. zu bewerten. Die maßgebliche Grunderkrankung – die neurogene Blasenstörung – und die grundsätzliche Notwendigkeit der Katheterisierung machen den weitaus größten Teil der urologischen Funktionsstörung aus, die hinzugetretenen Unfallfolgen haben demgegenüber den Charakter einer bloßen Komplikation. Die Annahme einer MdE von 50 v.H., also der Hälfte des Gesamtschadens, ist deshalb allenfalls gerechtfertigt in der besonderen Rolle, die diese Komplikation im Zusammenhang mit der Rollstuhlbindung der Klägerin einnimmt (vgl. oben).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Anlass, die Revision nach § 160 Abs. 2 SGG zuzulassen, besteht nicht.

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