Landessozialgericht Sachsen – Az.: L 6 U 242/18 – Urteil vom 15.09.2021
I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Leipzig vom 2. Oktober 2018 wird zurückgewiesen. Der Tenor der erstinstanzlichen Entscheidung wird wie folgt gefasst:
Der Bescheid der Beklagten vom 21. Mai 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. Juni 2016 wird abgeändert. Es wird festgestellt, dass bei dem Kläger als Folge des Arbeitsunfalls vom 20. April 2011 eine posttraumatische Belastungsstörung verbunden mit einer affektiven Symptomatik besteht und der Kläger über den 29. Juni 2011 hinaus unfallbedingt behandlungsbedürftig ist.
II. Die außergerichtlichen Kosten des Klägers trägt die Beklagte auch im Berufungsverfahren.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Folgen eines Unfallereignisses, sowie die Dauer unfallbedingter Behandlungsbedürftigkeit.
Am 20.04.2011 erfasste der 1976 geborene und damals als Lokführer tätige Kläger eine auf dem Gleis stehende Person mit dem Zug. Die Person verstarb am Unfallort.
Am Folgetag suchte der Kläger den H-Arzt auf, der Arbeitsunfähigkeit attestierte. In der Folgezeit befand sich der Kläger in ambulanter Behandlung bei Dipl.-Psych. Z…. Sie berichtete am 11.05.2011 über die Symptomentwicklung des Klägers nach psychologischen Betreuungsgesprächen am 26.04.2011, 06.05.2011, 12.05.2011, 20.05.2011 und 27.05.2011. Sie sah deutliche Hinweise auf eine akute Belastungsreaktion, wie Schlafstörungen und Unruhe (Herzrasen und Beklemmungen). Im Verlauf der Gespräche habe sich eine leichte Besserung gezeigt, welche von dem Kläger selbst so jedoch nicht wahrgenommen worden sei. In einem Abschlussbericht vom 04.07.2011 berichtete Dipl.-Psych. Z… von einem deutlichen Beschwerderückgang. Es seien Hinweise auf das Vorliegen eines klinisch relevanten Traumas verifiziert worden. Trotz Vermeidungsbemühungen hätten sich zunächst in hoher Intensität Vorstellungen zu dem Ereignis aufgedrängt. Nach einem leichten Rückgang der Beschwerden sei eine Verschlechterung nach ca. zwei Wochen eingetreten. Nach erneuter Stabilisierung sei es zunehmend gelungen, den Kläger mit dem traumatischen Ereignis zu konfrontieren. Die starke Übererregbarkeit sei zunehmend abgeklungen. Am 27.06.2011 habe der Kläger beschlossen, seinen Dienst wieder anzutreten. Zunächst habe eine akute Belastungsreaktion vorgelegen. Die zeitliche Entwicklung der Beschwerden habe darüber hinaus auf die Ausprägung einer PTBS schließen lassen.
Nach Beendigung der Arbeitsunfähigkeit arbeitete der Kläger zunächst wieder, wobei er Bürotätigkeiten als Disponent ausübte. In einem Arztbrief der Hausärztin des Klägers Dr. Y… vom 14.08.2014 berichtete diese, dass sie dem Kläger ab 30.06.2011 Arbeitsfähigkeit attestiert habe, er zunächst jedoch nur mit Begleitperson fahrtauglich gewesen sei.
Im November 2012 beging die Mutter des Klägers Suizid.
Vom 15.05.2014 bis 27.06.2014 befand sich der Kläger in ambulanter psychosomatischer Behandlung in der F…-Klinik in B…. Hier wurde im Entlassungsbericht unter Krankheitsverlauf zusammengefasst, dass sich die Eltern des Klägers hätten scheiden lassen, als dieser elf Jahre alt gewesen sei, was er nur schwer verkraftet habe. Im Jahr 2000 habe seine Tante Suizid begangen. 2003 habe er im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit als Lokführer zum ersten Mal einen Personenunfall erlebt, wobei sich eine Person in suizidaler Absicht vor den Zug geworfen habe. 2009 sei er von der Polizei einer Straftat verdächtigt worden. Die Ermittlungen hätten über ein Vierteljahr angedauert und er habe fast Todesangst durchlitten. Schließlich sei seine Unschuld ermittelt worden. 2011 habe er das zweite Mal einen Personenunfall gehabt, von dem ihm heute noch Bilder und vor allem Gerüche immer wieder präsent seien und sich oftmals regelrecht aufdrängten. Im November 2012 habe sich schließlich seine Mutter auf dem Dachboden erhängt. Es wurde eine PTBS mit erhöhtem Arousal, Konzentrationsstörungen und Grübeln diagnostiziert. Der Kläger habe u. a. von regelrechten Panikattacken mit Schwitzen und Herzrasen berichtet, vor allem, wenn sich die Erinnerungen an die Zugunfälle stark aufdrängten. Hier sehe er dann die Bilder ganz genau vor sich und erlebe auch die Gerüche sehr real wieder. Im Rahmen der Einzeltherapie, insbesondere einem Angehörigengespräch, habe sich das Bild einer PTBS infolge der Unfallereignisse im beruflichen Kontext recht eindeutig abgezeichnet und sei im weiteren Verlauf psychoedukativ bearbeitet worden. Seit dem zweiten Zugunfall sei der Kläger im Büro tätig. Für seine frühere Tätigkeit als Triebfahrzeugführer sei er aufgrund der noch bestehenden Symptomatik mit Defiziten bei Konzentration, Daueraufmerksamkeit und verminderter Stresstoleranz nicht leistungsfähig.
Dipl.-Med. X…, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, berichtete in einem Arztbrief vom 18.09.2014, dass sich der Kläger seit 14.10.2013 wegen der Unfallfolgen wieder in ihrer Behandlung befinde. Es bestünden u. a. ausgeprägte Flashbacks hinsichtlich des Unfallgeschehens. Sie diagnostizierte eine PTBS und Anpassungsstörungen.
Die Beklagte ermittelte hinsichtlich des ersten Personenunfalls am 15.11.2003, dass sich der Kläger am 17.11.2003 bei seinem Hausarzt vorgestellt habe und drei Tage später beim D-Arzt. Eine empfohlene Psychotherapie sei von dem Kläger abgelehnt worden. Arbeitsunfähigkeit habe damals vom 16.11.2003 bis 14.01.2004 bestanden.
In einer beratungsärztlichen Stellungnahme vom 01.05.2015 verwies Dr. W…, Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, darauf, dass der zur Debatte stehende Schienensuizid lediglich eine akute Belastungsreaktion, auch im Wiederholungsfall, erkläre. Eine solche klinge regelhaft innerhalb von Stunden bis vier Wochen ab. Unter Berücksichtigung der sonstigen Belastungsfaktoren sei anzuerkennen, dass der Kläger als besonders vulnerabel anzusehen sei, so dass auf diese Weise die mehr als zwei Monate dauernde Arbeitsunfähigkeit begründet werden könne, wesentlich mitbedingt durch das Unfallereignis. Unfallunabhängig bestehe eine Anpassungsstörung.
Mit Bescheid vom 21.05.2015 erkannte die Beklagte eine akute Belastungsreaktion und unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit bzw. Behandlungsbedürftigkeit bis 29.06.2011 an. Die darüber hinaus bestehenden Beschwerden stünden nicht im Zusammenhang mit dem Unfallereignis. Hiergegen legte der Kläger Widerspruch ein und verwies darauf, dass von den behandelnden Ärzten, insbesondere vom Universitätsklinikum B…, eine PTBS bestätigt worden sei. Dipl.-Med. X… habe ausgeprägte Flashbacks hinsichtlich des Unfallgeschehens dokumentiert.
Am 21.08.2015 stellte sich der Kläger zur ambulanten Heilverfahrenskontrolle in den Berufsgenossenschaftlichen Kliniken H… vor. Dr. V…, Leitender Psychologe, diagnostizierte eine chronifizierte PTBS und somatoforme Störung. Der Kläger habe von einer Übererregung, aber auch Nachhallerinnerungen im Sinne von Flashbacks durch Triggerreize, sowie einer Vermeidung von Zuggeräuschen berichtet. Zudem hätten sich psychosomatische Beschwerden gezeigt und in Stresssituationen Panikattacken. Dr. V… empfahl eine Zusammenhangsbegutachtung.
Vom 08.12.2014 bis 29.01.2015 befand sich der Kläger in stationärer Behandlung im Universitätsklinikum B…, Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Hier wurden eine mittelgradige depressive Episode und eine PTBS diagnostiziert. Während des anschließenden tagesklinischen Aufenthaltes seien die erlernten Fähigkeiten im häuslichen Umfeld erprobt worden. Die depressive und posttraumatische Symptomatik habe sich wahrnehmbar verringert, insbesondere unter medikamentöser antidepressiver Therapie. Es wurde empfohlen, diese fortzusetzen und zudem eine ambulante Psychotherapie zu beginnen. Außerdem wurde nahegelegt, zeitnah einen leidensgerechten Büro-Arbeitsplatz zu ermöglichen.
In einer beratungsärztlichen Stellungnahme vom 31.10.2015 verwies Dr. W… darauf, dass sich aus den neu vorgelegten Berichten keine neuen Erkenntnisse ergäben. Er regte jedoch eine Zusammenhangsbegutachtung an. In einem von der Beklagten eingeholten nervenfachärztlichen Gutachten vom 28.01.2016 stellte Dr. U…, Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, zunächst fest, dass der Kläger seit 27.08.2014 arbeitsunfähig sei. Durch die ambulanten und tagesklinischen Behandlungen sei nur eine mäßige Befundstabilisierung erreicht worden. Im Vordergrund der aktuellen Beschwerden stünden wechselnde depressive Verstimmungsphasen mit deutlichen Antriebsstörungen und Angsterleben, massiven Schlafstörungen und zunehmendem sozialem Rückzugsverhalten. Er diagnostizierte eine PTBS, sowie eine mittelgradige depressive Episode. Dr. U… sah in den Unfallereignissen aus den Jahren 2003 und 2011 die Ursache für die entstandene Krankheitssymptomatik. Der Suizid der Mutter stelle eine zusätzliche Belastungssituation dar, so dass diesbezüglich eine ergänzende depressive Verstimmungsverschlechterung ausgelöst worden sei. Die Unfallereignisse seien ursächlich für die entstandene Krankheitssymptomatik.
In einer beratungsärztlichen Stellungnahme vom 13.03.2016 monierte Dr. W…, dass in dem Gutachten nicht geprüft worden sei, inwieweit der Unfall mit seinen Folgen instrumentalisiert werde bzw. inwieweit eine Flucht in die Krankheit geschehe. Zu einer langfristigen Arbeitsunfähigkeit sei es erst ab August 2014 gekommen. Diese Crescendo-Merkmale der psychischen Symptomatik seien erklärungsbedürftig. Zudem sei bei dem fast fünf Jahre zurückliegenden Unfall der zeitliche Zusammenhang nicht mehr gegeben. Laut Gutachten bestehe eine depressive Symptomatik, die in der Gesamtbevölkerung häufig auftrete. Die Kausalität sei nicht belegt.
In einer ergänzenden Stellungnahme vom 06.04.2016 stellte Dr. U… klar, dass sich nach dem Unfall im April 2011 verstärkte Unruhephasen mit Schmerzen im abdominellen Bereich gezeigt hätten. Trotz der relativ raschen Rückkehr in den Arbeitsprozess sei eine PTBS nach den aktuellen klinischen Befunden und dem Verlauf eindeutig zu belegen. Selbstverständlich seien auch unfallunabhängige traumatische Veränderungen für den Krankheitsverlauf mitverantwortlich. Insbesondere der Tod der Mutter durch Suizid im Jahr 2012 stelle einen verstärkenden Krankheitseffekt dar.
Mit Widerspruchsbescheid vom 28.06.2016 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Für die Diagnose einer PTBS fehle es an einer intrusiven, dissoziativen oder ängstlichen Symptomatik. Dem Gutachten von Dr. U… könne nicht gefolgt werden, da eine PTBS befundmäßig gerade nicht belegt sei. Infolge des Ereignisses vom 20.04.2011 habe lediglich für zwei Monate Arbeitsunfähigkeit bestanden. Zu einer langfristigen Arbeitsunfähigkeit sei es erst ab August 2014 gekommen. Die angebliche Verschlimmerung der psychischen Symptomatik bleibe erklärungsbedürftig. Schließlich spreche der zeitliche Zusammenhang bei dem fünf Jahre zurückliegenden Unfall gegen einen kausalen Zusammenhang.
Hiergegen hat der Kläger am 12.07.2016 zum Sozialgericht Leipzig (SG) Klage erhoben und vorgetragen, er habe sich unmittelbar nach dem Arbeitsunfall in psychologische Behandlung begeben müssen und sei seit November 2012 aufgrund seiner psychischen Probleme nicht mehr von seinem Arbeitgeber einsatzfähig gewesen. Die behandelnden Ärzte hätten eindeutig eine PTBS festgestellt, ebenso die Ärzte in der Berufsgenossenschaftlichen Klinik H…. Auch das eingeholte Zusammenhangsgutachten habe einen Zusammenhang zwischen dem Unfallereignis und der PTBS bestätigt.
Das SG hat medizinische Unterlagen, insbesondere ein für die Deutsche Rentenversicherung am 22.06.2016 erstattetes nervenärztliches Gutachten des Facharztes für Psychiatrie und Neurologie Dr. T… beigezogen. Dr. T… hat darin eine PTBS und eine rezidivierende depressive Störung diagnostiziert, gegenwärtig in mittelschwerer Ausprägung. Infolge der Arbeitsunfälle in den Jahren 2003 und 2011 hätten sich eine PTBS und Phasen depressiver Verstimmung entwickelt. Der Kläger sei nicht in der Lage, drei Stunden körperlich leichte Tätigkeiten auszuüben. Zudem hat das Gericht ein für die Deutsche Rentenversicherung erstattetes nervenärztliches Gutachten von der Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie/Sozialmedizin S… vom 11.08.2017 beigezogen. Auch Frau S… hat eine PTBS und eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig in mittelschwerer Ausprägung, diagnostiziert und eingeschätzt, dass der Kläger nicht in der Lage sei, täglich drei Stunden körperlich leichte Tätigkeiten zu erbringen. Das SG hat Dr. R…, Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, mit der Erstattung eines Zusammenhanggutachtens beauftragt. Dr. R… hat nach ambulanter Untersuchung des Klägers am 29.05.2018 als Unfallfolgen eine PTBS und eine chronisch depressive Verstimmung im Sinne einer Dysthymie diagnostiziert. Das Ereignis vom 20.04.2011 habe eine akute Belastungsreaktion hervorgerufen. Er schließe sich den Vorgutachtern und behandelnden Ärzte hinsichtlich der PTBS an. Für diese Diagnose sprächen die verschiedenen Beurteilungen im Rahmen stationärer Aufenthalte bei Reha-Maßnahmen und in den psychiatrischen Gutachten. Durch den Suizid der Mutter sei es zu einer Verstärkung der depressiven Symptomatik gekommen. Die PTBS und depressive Verstimmung würden durch äußere Ereignisse, wie den Tod der Mutter beeinflusst, stünden jedoch überwiegend im Zusammenhang mit dem Schienensuizid 2011.
In einer beratungsärztlichen Stellungnahme vom 25.07.2018 hat Dr. Q…, Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, zu bedenken gegeben, dass am 01.07.2011 weitgehende Beschwerdefreiheit festgestellt und eine weitergehende therapeutische Unterstützung nicht für notwendig gehalten worden sei. Der psychotraumatologische Stellenwert des Suizids der Mutter sei deutlich gravierender als der des Schienensuizids am 20.04.2011. Erst infolge des Suizids der Mutter habe sich eine klinisch relevante depressive Symptomatik eingestellt.
In einer ergänzenden Stellungnahme vom 04.09.2018 hat Dr. R… klargestellt, dass nicht gegen eine PTBS spreche, dass der Kläger trotz des Unfallereignisses zunächst noch einmal eine Tätigkeit im Fahrdienst aufgenommen habe. Die Störsymptomatik sei ihm erst im Lauf der Tätigkeit zunehmend bewusstgeworden und habe infolge der auftretenden psychischen Symptome zur Aufgabe dieser Tätigkeit geführt. Ähnliches sei bei Soldaten bekannt. Zweifellos stelle der Suizid der Mutter für den Kläger einen verstärkenden Krankheitseffekt dar. Es lasse sich jedoch nicht ableiten, dass die zwei erlebten Schienensuizide hierdurch verdrängt würden.
Mit Urteil vom 02.10.2018 hat das SG unter Abänderung der angefochtenen Bescheide eine PTBS und eine chronisch depressive Verstimmung im Sinne einer Dysthymie sowie unfallbedingte Behandlungsbedürftigkeit über den 29.06.2011 als weitere Unfallfolge festgestellt. Zunächst habe der Unfall eine akute Belastungsreaktion verursacht. Darüber hinaus habe sich eine PTBS, begleitet von einer depressiven Verstimmung, entwickelt. Hierfür sprächen u. a. die zeitlich unterschiedlich gestaffelten Beurteilungen im Rahmen der stationären Aufenthalte, bei den Reha-Maßnahmen und die psychiatrischen Gutachten. Bei dem Kläger sei auch das erforderliche Vermeidungsverhalten festgestellt worden. Zwar sei zunächst zum 30.06.2011 Arbeitsfähigkeit bescheinigt worden. Dies habe jedoch nur eingeschränkt gegolten, denn fahrtauglich sei der Kläger nur in Anwesenheit einer Begleitperson gewesen. Er sei nicht mehr als Lokführer tätig gewesen, sondern nur als Disponent mit Bürotätigkeiten. Seit 28.07.2014 sei der Kläger dauerhaft arbeitsunfähig. Ein Wiedereingliederungsversuch sei gescheitert. Seit Oktober 2015 beziehe er aufgrund einer PTBS und einer rezidivierenden depressiven Störung eine Rente wegen voller Erwerbsminderung. Seit 2011 fahre der Kläger nicht mehr mit der Bahn und mit dem PkW im Notfall nur kurze Strecken. Er fühle sich bei bestimmten Geräuschen und Gerüchen an das Unfallereignis erinnert. Unbekannte Situationen vermeide er. Auch habe sich das soziale Verhalten verändert, was zu Beeinträchtigungen der zwischenmenschlichen Beziehungen führe. Er sei unangemessen leicht reizbar, erregbar und schreckhaft. Die konkurrierenden Faktoren seien nicht gleichgewichtig. Es überwiege die Folgesymptomatik nach dem Arbeitsunfall vom 20.04.2011. Der Suizid der Mutter im Jahr 2012 und die weiteren konkurrierenden Faktoren verstärkten zwar die depressive Symptomatik noch, diese sei jedoch überwiegend im Zusammenhang mit der PTBS zu werten. Zudem entspreche es der Definition der PTBS nach der F43.1 ICD-10, dass prädisponierende Faktoren in der Vorgeschichte die Schwelle für die Entwicklung dieses Syndroms senken und seinen Verlauf erschweren könnten, wobei diese Faktoren nicht ausreichend seien, um das Auftreten der Störung zu erklären. Im Übrigen hat das SG Bezug genommen auf das Gutachten von Dr. R… und Zweifel an der Objektivität des Beratungsarztes Dr. W… geäußert.
Am 23.11.2018 hat die Beklagte gegen das ihr am 01.11.2018 zugestellte Urteil Berufung eingelegt. Die Diagnose einer PTBS sei nicht belegt. Die einzelnen Kriterien müssten umfassend geprüft und durch jeweils korrespondierende Befunde belegt sein. Diese Voraussetzungen seien hinsichtlich einer über die akute Belastungsreaktion hinaus vorliegenden unfallbedingten psychischen Erkrankung nicht gegeben. In den dem Urteil zugrundeliegenden Gutachten sei vornehmlich auf eine subjektive Beschwerdeschilderung des Klägers abgestellt worden. Eine Beschwerdevalidierung sei nicht durchgeführt worden. Allein die Anzahl der eine PTBS diagnostizierenden Mediziner kompensiere die fehlenden Diagnosekriterien nicht. Insbesondere bei dem Gutachten von Dr. R… hätten sich Hinweise für eine sogenannte negative Antwortverzerrung finden lassen. Im Beck’schen Depressionsinventar habe der Kläger 40 Punkte erreicht. Wenn dieser Punktwert nicht mit dem klinischen Befund korreliere, sei vom Verdacht der Aggravation auszugehen. Im Rahmen der Gesamtbetrachtung, insbesondere dem gesundheitlichen Verlauf des Klägers, komme dem weiteren Familiensuizid (Selbstmord der eigenen Mutter) für die psychischen Beschwerden des Klägers über den 29.06.2011 hinaus eine überragende Bedeutung zu im Sinne der allein wesentlichen Ursache.
Die Beklagte beantragt, das Urteil des SG Leipzig vom 02.10.2018 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Er hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend.
Der Senat hat ein Gutachten bei Dr. H…, Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, eingeholt. Dr. H… hat sein Gutachten nach ambulanter Untersuchung des Klägers am 07.08.2020 erstattet. Der Kläger hat dem Sachverständigen berichtet, dass er nach dem Unfallereignis im Jahr 2011 Flashbacks bekommen habe. Die Sitzungen bei der Bahnpsychologin hätten ihm gutgetan. Nach drei Monaten Arbeitsunfähigkeit sei er wieder arbeiten gewesen und normal gefahren. In den nachfolgenden Jahren habe er immer wieder somatische Beschwerden gehabt und sei wiederholt krank gewesen. Er habe immer wieder Flashbacks mit Angst und Panik erlebt. Das eigentliche Wiederdurchleben dieser Erinnerungen sei jetzt weg, obwohl er diese Dinge noch vor seinem Auge sehe. Doch jetzt könne er damit umgehen und dies steuern. Nach dem Suizid seiner Mutter 2012 sei er ein Vierteljahr arbeitsunfähig gewesen. Nach seiner Reha-Maßnahme in der MEDIAN Klinik sei er arbeitsunfähig entlassen worden, sei jedoch auf eigenen Wunsch wieder arbeiten gegangen. Nach zwei Wochen sei der Zusammenbruch gekommen. Wenn er Züge gehört habe, sei es aus gewesen. Nach der Behandlung in der Uniklinik in B… habe er die anschließende Wiedereingliederung nicht geschafft. Er habe mehr Kopfschmerzen gehabt, Chaos verspürt, alles sei blockiert gewesen. Nach dem Tod seiner Mutter habe er Flashbacks gehabt und Albträume. Er habe nur von Zügen geträumt. Es habe keinen Traum gegeben, in dem seine Mutter erschienen sei. Dr. H… hat mehrere lebensbiographisch signifikante Ereignisse herausgefiltert, die sukzessive die Vulnerabilität, d. h. die innere Bereitschaft für psychopathologische Entwicklungen von Krankheitswert, stark erhöht hätten. Hierzu gehörten die frühe Trennung der Eltern, als der Kläger elf Jahre alt gewesen sei, der Suizid der Tante mütterlicherseits im Jahr 2000 (die mit im Haus gewohnt habe), das Miterleben eines Suizids als Lokführer im Jahr 2003, wiederholte Bedrohungssituationen während der beruflichen Tätigkeit als Lokführer („ca. 100 Beinaheunfälle“), jahrelange Pendelbelastungen zwischen P… und B…, die „falsche Verdächtigung“ über mehrere Monate hinweg betreffend eine Straftat im Jahr 2009 mit Hausdurchsuchung, das erneute Miterleben eines Suizids als Lokführer im Jahr 2011 und der plötzliche Suizid der Mutter im Jahr 2012. Bei der Betrachtung des Krankheitsverlaufs seien die Ursachen komplex und multifaktoriell, eben weil der gesamte Krankheitsverlauf nicht durch ein einzelnes, sondern durch mehrere Ereignisse maßgeblich geprägt worden sei. Jedes Mal, wenn ein äußeres Ereignis die Grundfeste des stark external und zwischenmenschlich ausgerichteten Selbstkonzeptes erschüttert habe, sei es zu Symptombildungen gekommen. Traumata seien – je nach Intensität – entweder als Typ I-Trauma oder als Typ II-Trauma zu bezeichnen. Beim Typ I-Trauma habe die Wucht des Augenblickes beim Auftreten eine überfordernde Wirkung für die Reaktionsweisen und Schutzmechanismen des Organismus. Beim Typ II-Trauma träten sukzessive Ereignisse auf. Die Schienensuizide 2003 und 2011 sowie der Suizid der Mutter im Jahr 2012 seien Typ I-Traumata, während die wiederholten psychischen und physischen Bedrohungen durch Fahrgäste ein Typ II-Trauma darstellten. Im Verlaufe seiner Lebensbiographie habe bei dem Kläger die Fähigkeit, seine körperliche und seelische Integrität zu schützen, abgenommen. So sei es 2011 nach dem Miterleben des Schienensuizids als Lokführer zu einer „akuten Belastungsreaktion“ und nachfolgend zu „posttraumatischen Symptombildungen“, wie Albträumen, Intrusionen, Flashbacks, Übererregung, Angsterleben und Vermeidungsverhalten gekommen, die nach ca. drei Monaten wieder soweit kompensiert gewesen seien, dass er seine Tätigkeit als Lokführer habe wiederaufnehmen und bis 2012 ausüben können. Dennoch sei die veränderte Vulnerabilität und die Symptomatik klinisch geblieben. Das Unfallereignis vom 20.04.2011 sei ein Trauma im definierten Sinne. Der plötzliche Suizid der Mutter im Jahr 2012 sei erneut ein massives traumatisches Ereignis gewesen, welches die früheren traumatischen Erfahrungen getriggert und massiv reaktiviert habe. Während der ambulanten Rehabilitationsbehandlung 2014 sei die dammbrechende Dekompensation mit massiven Symptombildungen erstmals erfasst und dokumentiert, die in der Zusammenschau die Diagnose einer PTBS ergeben habe. Das Unfallereignis 2011 habe zunächst eine akute Belastungsreaktion (F43.0) und dann eine partielle PTBS (F43.8) verursacht, welche in subsyndromaler Form fortbestanden und die Wiederaufnahme der Tätigkeit als Lokführer zunächst ermöglicht habe, jedoch 2012 mit dem Suizid der Mutter massiv in der Symptomatik angetriggert und verschlimmert worden sei, so dass in den nachfolgenden Monaten und Jahren bis 2014 allmählich in dem Übermaß an Erlebnisdruck und aus der wiederholten Vernetzung der psychischen Integrität heraus keine Kompensation mehr habe stattfinden können. Somit sei das Vollbild der PTBS multifaktoriell bedingt entstanden durch kumulative Typ I-Traumata und sukzessive Typ II-Traumata mit den zugehörigen Symptomen der Albträume, Flashbacks, Intrusionen, vegetativen Symptombildungen, Hypervigilanz, Angsterleben und Vermeidungsverhalten sowie anhaltenden emotionalen Betäubung. Das Unfallereignis vom 20.04.2011 sei in der Kette der Ereignisse ein Zwischenglied, welches eindeutig traumaspezifische Symptome verursacht habe. Eine genaue Trennung der Anteile sei nicht möglich. Für das Vollbild der PTBS seien verschiedene Anteile auszumachen: 1. der Anteil der persönlichkeitsbedingten Schwellensenkung für das Auftreten posttraumatischer Symptombildungen, 2. die entstandene Vulnerabilität aus der wiederholten Labilisierung des seelischen Gefüges durch frühere mehr oder weniger intensive traumatische Erfahrungen, 3. der Anteil aus dem Unfallereignis vom 20.04.2011 und 4. der Anteil aus dem Suizid der Mutter. D. h., das Unfallereignis im Jahr 2011 sei für die nachfolgend entstandene PTBS eine Teilursache neben anderen Teilursachen und in der Ursache gleichwertig. Es sei sowohl durch klinische Erfahrungen als auch wissenschaftliche Forschung gesichert, dass ein Trauma im definierten Sinn nach ICD 10 als „eine verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde“, gekennzeichnet sei. Dabei senkten prädisponierende Faktoren wie bestimmte, z. B. zwanghaft oder asthenische Persönlichkeitszüge oder neurotische Krankheiten in der Vorgeschichte, die Schwelle für die Entwicklung dieses Syndroms und erschwerten seinen Verlauf. Die letztgenannten Faktoren seien jedoch weder notwendig noch ausreichend, um das Auftreten der Störung zu erklären. Typische Merkmale seien u. a. das wiederholte Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen (Nachhallerinnerungen, Flashbacks), Träumen oder Albträumen, Vermeidungsverhalten gegenüber Aktivitäten und Situationen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen könnten, sowie vegetative Übererregtheit mit Vigilanzsteigerung und Schlafstörung. Angst und Depression seien häufig mit den genannten Symptomen und Merkmalen assoziiert. Der Beginn folge dem Trauma mit einer Latenz, die wenige Wochen bis Monate dauern könne. Der Verlauf sei wechselhaft. Die Dysthymie sei seines Erachtens als affektive Symptomatik im Rahmen der Chronifizierung der PTBS zu werten und keine eigenständige Diagnose.
In einer beratungsärztlichen Stellungnahme vom 02.11.2020 hat der Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Q… das Gutachten von Dr. H… in weiten Zügen für schlüssig und nachvollziehbar erachtet. Allerdings halte er für die Entstehung des Krankheitsbildes des Klägers den Suizid der Mutter für eine wesentliche Teilursache. Eine Diagnose partielle posttraumatische Symptombildung als sonstige Reaktion auf schwere Belastungen sei im ICD 10 und im DSM 5 nicht vorgesehen. Zudem hat er den von Dr. H… verwendeten Begriff „subklinisch“ moniert. Dies bedeute grundsätzlich, dass klinisch keine relevante Gesundheitsstörung bestanden habe.
In einer ergänzenden Stellungnahme vom 24.12.2020 hat Dr. H… die Auffassung vertreten, dass es aus therapeutischer Sicht unverantwortbar sei, wenn eine PTBS als ein komplexer psychopathologischer Prozess mit einer multifaktoriell abhängigen und vielgestaltigen Dynamik, mit inneren und äußeren Faktoren, im Verlauf nur dann Beachtung und Behandlung erfahren würde, wenn rigide alle operationalisierten Kriterien erfüllt seien. Die Operationalisierung der Kriterien für Diagnosen habe den Vorteil einer Clusterung von typischen Symptomen und der Zuordnung in der Begrifflichkeit und die in einer einheitlicheren Verständigung. Sie seien dadurch aber auch für sich genommen sprachlich rigide und starr und bräuchten die lebenspraktische und kontextbezogene Anwendung. Operationalisierte Kriterien einzelner Diagnosen seien durch wissenschaftliche Forschungsergebnisse angepasst und erweitert worden, was anhand der unterschiedlichen Entwicklungsstufen der ICD nachvollzogen werden könne. Mit der Formulierung „subklinisch“ meine er das Vorliegen einzelner charakteristischer Symptome, ohne dass alle Kriterien erfüllt seien.
Die Beklagtenseite hat moniert, dass Dr. H… elementar die Beweisanforderungen der gesetzlichen Unfallversicherungen missachte bzw. sich bewusst darüber hinwegsetze.
Wegen der Krankengeschichte des Klägers wird auf die im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren beigezogenen medizinischen Unterlagen, insbesondere Gutachten, verwiesen und hinsichtlich des Parteivorbringens auf die gewechselten Schriftsätze.
Entscheidungsgründe
Die zulässige, insbesondere fristgerecht erhobene Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Leipzig vom 02.10.2018 ist nicht begründet. Das SG hat zu Recht eine PTBS als weitere Unfallfolge mit Behandlungsbedürftigkeit über den 29.06.2011 hinaus festgestellt, wobei lediglich der Tenor neu zu fassen war. Der Bescheid der Beklagten vom 21.05.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.06.2016 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, soweit ihm die Anerkennung einer PTBS mit affektiver Symptomatik und die diesbezügliche Behandlungsbedürftigkeit über den 29.06.2011 hinaus verwehrt wurde.
1.
Bei dem Kläger hat sich infolge des streitgegenständlichen Unfallereignisses vom 20.04.2011 neben der von der Beklagten bereits anerkannten akuten Belastungsreaktion eine PTBS mit affektiver Symptomatik entwickelt, die über den 29.06.2011 hinaus behandlungsbedürftig war. Dies steht zur Überzeugung des Senats fest aufgrund des schlüssigen und nachvollziehbaren Gutachtens von Dr. H…, das im Wesentlichen übereinstimmt mit dem Gutachten von Dr. R…, und hinsichtlich der diagnostizierten PTBS die Einschätzung aller den Kläger behandelnden Fachärzte bestätigt, insbesondere des Leitenden Psychologen der Berufsgenossenschaftlichen Kliniken H…, Dr. V….
Eine Entschädigung nach einem Arbeitsunfall kann nur für solche Gesundheitsschäden gewährt werden, für die das Unfallereignis ursächlich gewesen ist. Dies ergibt sich aus dem Wortlaut von § 8 Abs. 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII), wonach die Einwirkung zu einem Gesundheitsschaden geführt haben muss. Der zuständige Unfallversicherungsträger soll (grundsätzlich) nur einstehen müssen für Gesundheitsschäden, die „infolge“ der versicherten Verrichtung eingetreten sind und ein Risiko realisieren, gegen das die jeweils begründete Versicherung schützen soll. Die Kausalitätsfeststellungen zwischen den einzelnen Gliedern des Arbeitsunfalls basieren auf der im gesetzlichen Unfallversicherungsrecht geltenden Theorie der wesentlichen Bedingung. Das heißt, nicht jeder Gesundheitsschaden, der durch ein Ereignis naturwissenschaftlich verursacht wird, wird als Unfallfolge anerkannt, sondern nur derjenige, der „wesentlich“ durch das Ereignis verursacht wurde (BSG, Urteil vom 24.07.2012 – B 2 U 9/11 R, RdNr. 27, juris). Danach geht es auf einer ersten Stufe der Kausalitätsprüfung um die Frage, ob ein Zusammenhang im naturwissenschaftlichen Sinne vorliegt, d. h. ob eine objektive Verursachung zu bejahen ist. Auf dieser Stufe der Tatsachenfeststellungen ist zudem zu prüfen, ob mehrere versicherte und nicht versicherte Ursachen zusammen objektiv wirksam geworden sind, ggf. sind deren Mitwirkungsanteile festzustellen (BSG, Urteil vom 24.07.2012 – B 2 U 9/11 R, juris). In einer zweiten Stufe der Kausalitätsprüfung ist sodann die Unterscheidung zwischen solchen Ursachen notwendig, die für den Erfolg rechtlich verantwortlich gemacht werden bzw. denen der Erfolg zugerechnet wird, und den anderen, für den Erfolg rechtlich unerheblichen Ursachen (BSG, Urteil vom 09.05.2006 – B 2 U 40/05 R, m.w.N., juris). Für den Kausalzusammenhang zwischen der unfallbringenden Tätigkeit und dem Unfallereignis bzw. dem jeweiligen Unfallereignis und dem eingetretenen Gesundheitsschaden ist keine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit erforderlich, sondern eine hinreichende Wahrscheinlichkeit ist ausreichend. Das bedeutet, dass beim vernünftigen Abwägen aller Umstände, die auf die berufliche Verursachung deutenden Faktoren so stark überwiegen müssen, dass darauf die Entscheidung gestützt werden kann (so z. B. BSG, SozR 2200, § 548 Nr. 38). Eine Möglichkeit verdichtet sich hierbei dann zur Wahrscheinlichkeit, wenn nach der geltenden ärztlich-wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen Zusammenhang spricht und ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Verursachung ausscheiden. Die für den Kausalzusammenhang sprechenden Umstände müssen die gegenteiligen dabei deutlich überwiegen (Bereiter-Hahn/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung Stand 05/21, § 8 SGB VII RdNr. 10.2 m. w. N.).
Unter Berücksichtigung dieser Maßgaben steht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit fest, dass das Unfallereignis vom 20.04.2011 sowohl Wirkursache als auch wesentliche Teilursache für eine PTBS mit affektiver Symptomatik gewesen ist und wegen dieser eine Behandlungsbedürftigkeit über den 29.06.2011 hinaus besteht.
1.1.
Bei dem Kläger entwickelte sich unmittelbar nach dem streitgegenständlichen Ereignis zunächst eine „akute Belastungsreaktion“ (F43.0 ICD-10) und nachfolgend partielle posttraumatische Symptombildungen im Sinne sonstiger Reaktionen auf schwere Belastungen (F43.8 ICD-10). Ende des Jahres 2012 lag schließlich das Vollbild einer PTBS mit affektiver Symptomatik vor.
Der Senat hält das Vollbild einer PTBS mit affektiver Symptomatik jedenfalls auf Basis des DSM-5 für gesichert. Der Senat war bei der Prüfung des Gesundheitsschadens nicht an das Diagnosesystem ICD-10 gebunden, sondern konnte sich auch eines anderen gängigen Diagnosesystems bedienen, insbesondere des DSM-5 („Diagnostischer und statistischer Leitfaden psychischer Störungen“). Das Bundessozialgericht (BSG) hat hierzu entschieden, dass insbesondere im Bereich psychischer Störungen die Gesundheitsschäden genau zu definieren sind, was zwingend voraussetzt, dass die Störung durch Einordnung in eines der gängigen Diagnosesysteme (z.B. ICD-10, DSM-5) unter Verwendung der dortigen Schlüssel und Bezeichnungen exakt beschrieben wird. Denn je genauer und klarer die Gesundheitsstörungen bestimmt sind, umso einfacher sind ihre Ursachen zu erkennen und zu beurteilen. Dies schließt begründete Abweichungen von diesen Diagnosesystemen, z.B. aufgrund des Alters und des zwischenzeitlichen wissenschaftlichen Fortschritts, nicht aus (BSG, Urteil vom 06.10.2020 – B 2 U 10/19 R, RdNr. 21, m.w.N., juris). Das DSM stellt das dominierende psychiatrische Klassifikationssystem in den USA dar und spielt dort eine zentrale Rolle bei der Definition von psychischen Erkrankungen. Das DSM-5 wird von der Amerikanischen Psychiatrischen Gesellschaft (APA) herausgegeben und ist seit Mai 2013 die aktuell gültige und für die psychiatrische Diagnostik verbindliche Ausgabe.
Nach dem ICD-10 (F 43.1) setzt die Feststellung einer PTBS eine verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde, voraus (A-Kriterium). Prädisponierende Faktoren wie bestimmte, z. B. zwanghafte oder asthenische Persönlichkeitszüge oder neurotische Krankheiten in der Vorgeschichte, können die Schwelle für die Entwicklung dieses Syndroms senken und seinen Verlauf erschweren, aber die letztgenannten Faktoren sind weder notwendig noch ausreichend, um das Auftreten der Störung zu erklären. Typische Merkmale sind das wiederholte Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen (Nachhallerinnerungen, Flashbacks), Träumen oder Albträumen, die vor dem Hintergrund eines andauernden Gefühls von Betäubtsein und emotionaler Stumpfheit auftreten (B-Kriterium). Ferner finden sich Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen, Teilnahmslosigkeit der Umgebung gegenüber, Freudlosigkeit sowie Vermeidung von Aktivitäten und Situationen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen könnten (C-Kriterium: Vermeidungsverhalten). Meist tritt ein Zustand von vegetativer Übererregtheit mit Vigilanzsteigerung, einer übermäßigen Schreckhaftigkeit und Schlafstörung auf (D-Kriterium). Angst und Depression sind häufig mit den genannten Symptomen und Merkmalen assoziiert. Der Beginn folgt dem Trauma mit einer Latenz, die wenige Wochen bis Monate dauern kann. Der Verlauf ist wechselhaft, in der Mehrzahl der Fälle kann jedoch eine Heilung erwartet werden.
Hiervon abweichend wird nach DSM-5 zum einen verzichtet auf das sogenannte A2-Kriterium, d.h. auf eine initiale, psychopathologisch nachweisbare subjektive Beeindruckung durch das Ereignis in Form von intensiver Furcht, Hilflosigkeit und Entsetzen. Zum anderen kann die Diagnose auch dann gestellt werden, wenn sich die psychische Störung durch eine Serie von traumatischen Einwirkungen entwickelt (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Aufl., S. 154 m.w.N.). Nach DSM-5 müssen folgende Kriterien erfüllt sein:
A. Konfrontation mit tatsächlichem oder drohendem Tod, ernster Verletzung oder sexueller Gewalt auf eine (oder mehrere) der folgenden Arten:
1. Direktes Erleben eines oder mehrerer traumatischer Ereignisse
2. Persönliches Erleben eines oder mehrerer solcher traumatischer Ereignisse bei anderen Personen
3. …
B. Wiedererleben: Das traumatische Ereignis wird wiederkehrend wiedererlebt, und zwar in einer der nachfolgenden Weisen (mindestens eine):
1. wiederkehrende, unfreiwillige und eindringliche belastende Erinnerungen; traumatische Albträume
2. dissoziative Reaktionen (z. B. Flashbacks), in Dauer variierend von einer kurzen Episode bis zum Verlust des Bewusstseins
3. intensiver oder langanhaltender Stress, nachdem die Person an das traumatische Erlebnis erinnert wurde
4. markante physiologische Reaktion, nachdem die Personen einem Reiz ausgesetzt war, der einen Bezug zum traumatischen Erlebnis hat.
C. Vermeiden: Anhaltendes starkes Vermeidungsverhalten von traumaassoziierten Reizen nach dem traumatischen Erlebnis (mindestens eines): Traumaassoziierte Gedanken oder Gefühle oder traumaassoziierter externer Reize (z. B. Menschen, Orte, Unterhaltungen, Tätigkeiten, Objekte oder Situationen).
D. Negative Veränderungen von Gedanken und Stimmung: Die negativen Veränderungen von Gedanken und Stimmung begannen oder verschlechterten sich nach dem traumatischen Erlebnis (mindestens zwei): Unfähigkeit, sich an wichtige Merkmale des traumatischen Erlebnisses zu erinnern (normalerweise dissoziative Amnesie); andauernde (und oft verzerrte) negative Annahmen von sich selbst oder der Welt (z. B. „Ich bin schlecht“, „Die ganze Welt ist gefährlich“); andauernde verzerrte Vorwürfe gegen sich selbst oder gegen andere, am traumatischen Erlebnis oder seinen negativen Folgen schuld zu sein; andauernde negative traumaassoziierte Emotionen (z. B. Angst, Wut, Schuld oder Scham); markant vermindertes Interesse von wichtigen (nicht traumaassoziierten) Tätigkeiten; das Gefühl, anderen fremd zu sein (z. B. Distanziertheit oder Entfremdung); eingeschränkter Affekt: andauernde Unfähigkeit, positive Emotionen zu empfinden
E. Veränderung in Erregung und Reaktionsfähigkeit: Traumaassoziierte Veränderungen in Erregung und Reaktionsfähigkeit, die nach dem traumatischen Erlebnis begonnen oder sich danach verschlechtert haben (mindestens zwei): gereiztes oder aggressives Verhalten; selbstverletzendes oder leichtfertiges Verhalten; erhöhte Vigilanz; übermäßige Schreckreaktion; Konzentrationsschwierigkeiten; Schlafstörungen
1.1.1.
Unmittelbar nach dem Unfall lagen die Voraussetzungen für eine PTBS weder nach ICD-10 noch nach DSM-5 im Vollbild vor. Zwar ist das A1-Kriterium nach beiden Diagnosesystemen bereits durch den streitgegenständlichen Unfall im Jahr 2011 erfüllt, der ein traumatisches Ereignis von besonderer Qualität mit einem extremen Belastungsfaktor darstellt. Sowohl für das Vermeidungsverhalten und als auch für Flashbacks finden sich in den Berichten der erstbehandelnden Psychologin Dipl.-Psych. Z… jedoch keine ausreichend belastbaren Feststellungen.
1.1.2.
Unmittelbar nach dem Unfallereignis entwickelte sich bei dem Kläger jedoch nicht nur die anerkannte „akute Belastungsreaktion“ (F 43.0 ICD-10), sondern nachfolgend eine partielle PTBS, die als „sonstige Reaktionen auf schwere Belastungen“ (F43.8 ICD-10) zu diagnostizieren ist. Der Senat folgt auch insoweit den Schlüssigen und nachvollziehbaren Ausführungen von Dr. H…..
Die „akute Belastungsreaktion“ ist zwischen den Parteien unstreitig. Diese Diagnose erfasst jedoch die bei dem Kläger nach dem Unfallereignis aufgetretene Symptomatik nicht vollständig. Nach ICD-10 bildet die „akute Belastungsreaktion“ eine vorübergehende Störung ab, die sich bei einem psychisch nicht manifest gestörten Menschen als Reaktion auf eine außergewöhnliche physische oder psychische Belastung entwickelt, und die im Allgemeinen innerhalb von Stunden oder Tagen abklingt. Die individuelle Vulnerabilität und die zur Verfügung stehenden Bewältigungsmechanismen (Coping-Strategien) spielen bei Auftreten und Schweregrad der akuten Belastungsreaktionen eine Rolle. Die Symptomatik zeigt typischerweise ein gemischtes und wechselndes Bild, beginnend mit einer Art von „Betäubung“, mit einer gewissen Bewusstseinseinengung und eingeschränkten Aufmerksamkeit, einer Unfähigkeit, Reize zu verarbeiten und Desorientiertheit. Diesem Zustand kann ein weiteres Sichzurückziehen aus der Umweltsituation folgen (bis hin zu dissoziativem Stupor) oder aber ein Unruhezustand und Überaktivität (wie Fluchtreaktion oder Fugue). Vegetative Zeichen panischer Angst wie Tachykardie, Schwitzen und Erröten treten zumeist auf. Die Symptome erscheinen im Allgemeinen innerhalb von Minuten nach dem belastenden Ereignis und gehen innerhalb von zwei oder drei Tagen, oft innerhalb von Stunden zurück. Teilweise oder vollständige Amnesie bezüglich dieser Episode kann vorkommen. Wenn die Symptome andauern, sollte eine Änderung der Diagnose in Erwägung gezogen werden. Die Symptome des Klägers unmittelbar nach dem Schienensuizid im Jahr 2011 gingen über die Symptome einer akuten Belastungsreaktion hinaus. Der Kläger beschrieb bei Dr. H… unmittelbar nach dem Unfall aufgetretene Albträume, Nervosität, Übererregbarkeit, Nachhallerinnerungen, reduzierter Aufmerksamkeit, Grübeln und Schlafstörungen. Dies findet sich im Wesentlichen auch in den Arztbriefen von Dipl.-Psych. Z….. Die Psychologin berichtete zwar am 11.05.2011 von einer leichten Symptombesserung, räumte jedoch ein, dass dies von dem Kläger subjektiv nicht so empfunden werde und hielt eine weiter andauernde psychologische Betreuung des Klägers für erforderlich. Sie dokumentierte Schlafstörungen, Unruhe, Herzrasen, Beklemmungen. Anders als bei einer akuten Belastungsreaktion üblich, bildeten sich die Symptome des Klägers auch nicht innerhalb weniger Tage zurück, sondern erforderten eine psychologische Behandlung über mehr als zwei Monate. Der Senat folgt daher Dr. H… auch hinsichtlich seiner Diagnose „sonstige Reaktionen auf schwere Belastungen“ (F43.8) in Form einer partiellen Posttraumatischen Belastungsstörung. Wie eingangs dargestellt, hat das BSG entschieden, dass begründete Abweichungen von den Diagnosesystemen nicht ausgeschlossen sind. Die von Dr. H… vorgenommene Diagnose einer partiellen posttraumatischen Symptombildung als sonstige Reaktion auf schwere Belastungen ist nicht zu beanstanden. Im ICD-10 sind unter dem Abschnitt „F43.- Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen“ in der Rangfolge nach der akuten Belastungsreaktion (F43.0), der PTBS (F43.1) und Anpassungsstörungen (F43.2) auch „Sonstige Reaktionen auf schwere Belastung“ (F43.8) aufgeführt. Aus der Systematik wird deutlich, dass auch Symptome erfasst werden sollen, die nicht das Vollbild einer der vorstehenden Diagnosen erfüllen. Ließe man diese Subsumtion nicht zu, bliebe die zur Überzeugung des Senats beim Kläger vorliegende unfallbedingte Symptomatik, die unmittelbar nach dem streitgegenständlichen Unfall das Vollbild einer PTBS noch nicht erreicht, unberücksichtigt.
1.1.3.
Nach einer zwischenzeitlichen Rückbildung der Symptome entwickelte sich schließlich anlässlich des Suizides der Mutter des Klägers im November 2012 das Vollbild einer PTBS sowohl nach ICD-10 als auch nach DSM-5. Nach diesem Ereignis, welches ebenfalls ein traumatisches Ereignis von besonderer Qualität mit einem extremen Belastungsfaktor darstellt, wurden ausgeprägte Flashbacks hinsichtlich des Unfallgeschehens und Albträume im Sinne des B-Kriteriums beschrieben. Der Kläger berichtete zudem von Vermeidungsverhalten (Gerüche, die an den Unfall erinnern, und Zuggeräusche) im Sinne des C-Kriteriums. Der Kläger ist bis heute nicht in der Lage, einen Zug zu führen. Außerdem wurden Übererregtheit, Panikattacken mit Schwitzen und Herzrasen, sowie Schlafstörungen im Sinne der D- und E-Kriterien beschrieben.
Die Tatsache, dass diese Symptome nicht unmittelbar nach dem streitgegenständlichen Ereignis auftraten, steht der Diagnose einer PTBS nicht entgegen. Zwar ist in der Regel mit dem Auftreten der Symptome innerhalb der ersten Wochen bis Monate zu rechnen, nach beiden Diagnosesystemen wird jedoch auf die Möglichkeit einer Latenz von Monaten bis Jahren zwischen Trauma und Auftreten erster psychischer Auffälligkeiten im Sinne eines „late onset“ hingewiesen (C. Spieß-Kiefer, H. Kiefer, T. Berbig, Aus der Praxis für die Praxis: Die Posttraumatische Belastungsstörung – Diskrepanzen zwischen Diagnostik und Diagnosekriterien, MedSach 5/2021, S. 117). Von Freytag wird in solchen Fällen jedoch gefordert, dass retrospektiv einzelne Symptome im Sinne von Brückensymptomen vorliegen müssen (C. Spieß-Kiefer, H. Kiefer, T. Berbig, Aus der Praxis für die Praxis: Die Posttraumatische Belastungsstörung – Diskrepanzen zwischen Diagnostik und Diagnosekriterien, a.a.O., S. 117 m.w.N.). Es kann dahingestellt bleiben, ob Brückensymptome tatsächlich zu fordern sind. Diese sind beim Kläger jedenfalls gesichert in Form der von Dipl.-Psych. Z… beschriebenen Schlafstörungen, Unruhe, Herzrasen und Beklemmungen unmittelbar nach dem streitgegenständlichen Ereignis. Abgesehen davon sind – wie eingangs dargestellt – nach DSM-5 die Voraussetzungen für eine PTBS auch dann erfüllt, wenn sich die Erkrankung nach mehreren traumatischen Ereignissen entwickelt. Bei dem Kläger bildete sich das Vollbild der PTBS unmittelbar nach einem weiteren Trauma aus, nämlich dem Suizid der Mutter, und der Arbeitsunfall vom 20.04.2011 ist einer von mehreren wesentlichen Faktoren (siehe dazu unter Ziffer 2.).
1.1.4.
Im Rahmen der Chronifizierung der PTBS trat bei dem Kläger zudem eine affektive Symptomatik zu Tage, ohne dass diese als eigenständige Erkrankung zu diagnostizieren ist. Die Ehefrau des Klägers berichtete von sozialem Rückzug, Gleichgültigkeit, Teilnahmslosigkeit. Dr. R… führte hierzu aus, wie bei einer PTBS häufig, seien Angst und Depression mit den genannten Symptomen und Merkmalen assoziiert. Unter einer Dysthymia (F34.1 ICD-10) wird eine chronische, wenigstens mehrere Jahre andauernde depressive Verstimmung verstanden, die weder schwer noch hinsichtlich einzelner Episoden anhaltend genug ist, um die Kriterien einer schweren, mittelgradigen oder leichten rezidivierenden depressiven Störung (F33.-) zu erfüllen. Für den Senat war mit Blick auf die Kriterien einer PTBS nach ICD-10 und DSM-5 die Diagnose einer Dysthymia als eigenständiges Krankheitsbild nicht schlüssig. Der Senat folgt auch insoweit der Einschätzung von Dr. H…, wonach die affektive Symptomatik zum Krankheitsbild der PTBS gehört. Selbst die Einschätzung von Dr. R… entspricht im Wortlaut der Definition beider Diagnosesysteme. Nach F43.1 ICD-10 können ein andauerndes Gefühl von Betäubtsein und emotionaler Stumpfheit, Gleichgültigkeit und Teilnahmslosigkeit auftreten. Nach DSM-5 ist ein Merkmal des Krankheitsbildes der PTBS „D. Negative Veränderungen von Gedanken und Stimmung“. Hierunter fallen nach der Definition insbesondere ein markant vermindertes Interesse an wichtigen (nicht traumaassoziierten) Tätigkeiten, das Gefühl, anderen fremd zu sein (z. B. Distanziertheit oder Entfremdung), sowie eingeschränkter Affekt (andauernde Unfähigkeit, positive Emotionen zu empfinden). Auch die zeitliche Entwicklung dieser affektiven Symptomatik stimmt mit der Entwicklung der PTBS überein.
1.2.
Für die PTBS mit affektiver Symptomatik war das Unfallereignis vom 20.04.2011 neben anderen Faktoren zumindest wesentliche Teilursache. Der Begriff „wesentlich“ ist nicht gleichzusetzen mit „gleichwertig“ oder „annähernd gleichwertig“. Auch eine nicht annähernd gleichwertige, sondern rechnerisch verhältnismäßig niedriger zu bewertende Ursache kann für den Erfolg rechtlich wesentlich sein, solange die anderen Ursachen keine überragende Bedeutung haben. Ist allerdings eine Ursache gegenüber einer anderen von überragender Bedeutung, so ist nur sie „wesentlich“ und damit Ursache im Rechtssinn. Für den hier zu beurteilenden Fall, dass die kausale Bedeutung einer äußeren Einwirkung mit derjenigen einer bereits vorhandenen krankhaften Anlage zu vergleichen und abzuwägen ist, ist darauf abzustellen, ob die Krankheitsanlage so stark oder so leicht ansprechbar war, dass die „Auslösung“ akuter Erscheinungen aus ihr nicht besonderer, in ihrer Art unersetzlicher äußerer Einwirkungen bedurfte, sondern jedes andere alltäglich vorkommende Ereignis zu derselben Zeit die Erscheinungen ausgelöst hätte. Für psychische Krankheiten gelten insoweit keine Besonderheiten (BSG, Urteil vom 09.05.2006 – B 2 U 40/05 R, RdNr. 10 m.w.N., juris).
In der Biographie des Klägers finden sich verschiedene einschneidende Erlebnisse, die jeweils dazu beigetragen haben, dass sich die PTBS entwickeln konnte. Ausgehend von der vom Kläger schwer verkrafteten Trennung der Eltern im 12. Lebensjahr, dem Suizid der Tante im Jahr 2000, einer Vielzahl von Beinaheunfällen während seiner beruflichen Tätigkeit als Lokführer und einer falschen Verdächtigung mit Hausdurchsuchung war bei dem Kläger der Boden bereitet für die Entwicklung einer PTBS, indem diese Schicksalsschläge die Vulnerabilität des Klägers erhöht haben. Für die Entwicklung der PTBS bedurfte es jedoch des streitgegenständlichen Unfallereignisses als wesentliche Teilursache ebenso wie des Suizids der Mutter. Wie eingangs dargestellt, ist Diagnosekriterium für eine PTBS ein traumatisches Ereignis von besonderer Qualität mit einem extremen Belastungsfaktor. Die Unfälle mit Personenschaden im Jahr 2003 und 2011 und schließlich der Suizid der Mutter im November 2012 stellen jeweils ein solches Trauma dar. Der Senat ist überzeugt davon, dass dem streitgegenständlichen Ereignis (neben dem Suizid der Mutter) eine wesentliche Bedeutung für die Entwicklung der PTBS zukommt. Auch wenn der tragische Verlust der Mutter für den Kläger besonders traumatisch gewesen sein dürfte, prägte er nicht die nachfolgende Symptomatik. Diese zeigte sich stattdessen in Form von Flashbacks und Albträumen, in denen Bahngleise und Züge vorkamen. So gab der Kläger ausdrücklich an, dass Bilder seiner Mutter nicht aufgetreten seien. Zudem entwickelte sich ein ausgesprochenes Vermeidungsverhalten bezogen auf Züge und das Führen eines Fahrzeuges. Der Kläger vermeidet es, Zuggeräuschen ausgesetzt zu sein. Einen PkW führt er nur noch selten und über kurze Strecken. Auch kam es kurz nach dem Suizid der Mutter zu Nachhallerinnerungen betreffend die Gerüche beim Unfallereignis. Bei der Verarbeitung rohen Fleisches traten Flashbacks auf. Der Freitod der Mutter hatte keinerlei Bezug hierzu. Erst durch diese auf das streitgegenständliche Ereignis bezogene Symptomatik lässt sich das Vollbild einer PTBS begründen. Der Suizid der Mutter ist daher zur Überzeugung des Senats zwar für die PTBS auch wesentliche Teilursache, jedoch nicht die allein wesentliche. Bereits nach dem streitgegenständlichen Unfall kam es zu einer partiellen posttraumatischen Symptombildung, auch wenn das Vollbild einer PTBS noch nicht erfüllt war. Die multifaktorielle Genese steht nach dem DSM-5 der Diagnose einer PTBS nicht entgegen. Der streitgegenständliche Unfall war einer dieser Faktoren und für die Entstehung der PTBS neben anderen Faktoren zumindest ebenfalls wesentlich. Die diesbezüglichen Ausführungen von Dr. H… sind für den Senat überzeugend. Die beratungsärztliche Stellungnahme von Dr. Q… war nicht geeignet, das Gutachten von Dr. H… zu entkräften, zumal auch der Beratungsarzt in seiner Stellungnahme vom 02.11.2020 den Suizid der Mutter lediglich als wesentliche Teilursache qualifizierte, was impliziert, dass es weiterer Teilursachen bedurfte.
2.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Die Neufassung des Tenors der erstinstanzlichen Entscheidung hat keine Auswirkungen auf die Kostenentscheidung, da lediglich eine Klarstellung erfolgt ist, ohne dass hierdurch die anerkannte unfallbedingte Symptomatik reduziert wird.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 160 Abs. 2 SGG).