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Arbeitsunfall trotz Umweg: Wann ein Unfall nach dem Wochenendausflug über Zuhause zählt

Knall, splitterndes Glas, dann Stille – ein Unfall beendete jäh den Wochenendausflug. Was wie ein privates Unglück begann, wurde zum Zankapfel vor Gericht: War der  Crash auf dem Umweg nach Hause, um dringend Arbeitsschlüssel zu holen, ein Arbeitsunfall? Das Bundessozialgericht sorgte mit einem überraschenden Urteil für eine Wendung in diesem Fall, der weit mehr Arbeitnehmer betrifft als gedacht.
Ein schwerer Unfall auf einem Umweg zur Arbeit, um wichtige Arbeitsgeräte zu holen
Urteil des Bundessozialgerichts in Kassel: Ein Umweg über Zuhause entscheidet, ob der Unfall auf dem Rückweg als Arbeitsunfall gilt. | Symbolbild: KI generiertes Bild

Das Wichtigste: Kurz & knapp

  • Ein Unfall auf einem Umweg von einem privaten Ort zur Wohnung kann unter bestimmten Bedingungen als Arbeitsunfall gelten.

    Das bedeutet: Wenn jemand auf dem Weg zur Arbeit kurz zu Hause anhält, um wichtige und unbedingt benötigte Arbeitsmittel abzuholen, kann der Unfall versichert sein – vorausgesetzt, es gab eine klare Anweisung des Arbeitgebers oder die Arbeitsmittel waren unbedingt nötig für die Arbeit.

  • Betroffen sind Arbeitnehmer, die von außerhalb ihres Zuhauses direkt zur Arbeit fahren müssen, aber wichtige Arbeitsgegenstände erst zu Hause abholen müssen.
  • Praktisch heißt das: Wer in so einer Situation einen Unfall hat, kann unter Umständen bessere Leistungen von der gesetzlichen Unfallversicherung erhalten. Aber man muss nachweisen, dass der Weg zu Hause beruflich nötig war – also etwa eine Anweisung vom Arbeitgeber vorlag oder die abgeholten Dinge so wichtig waren, dass die Arbeit ohne sie nicht beginnen konnte.
  • Das Urteil sorgt für mehr Rechtssicherheit und signalisiert Arbeitgebern, klare Regeln für die Aufbewahrung und Abholung von Arbeitsmitteln zu schaffen, um Missverständnisse und Streit zu vermeiden.
  • Wichtig für Betroffene: Unfall sofort melden, den Unfallhergang und den beruflichen Zusammenhang genau dokumentieren und Nachweise sammeln. Im Zweifel kann man nach einer Ablehnung Widerspruch einlegen und notfalls vor Gericht gehen.
  • Die Entscheidung gilt ab sofort und muss von den Gerichten bei ähnlichen Fällen berücksichtigt werden, auch wenn hier noch keine endgültige Entscheidung im Einzelfall vorliegt.

Quelle: Bundessozialgericht (BSG) Az. B 2 U 15/22 R vom 26. September 2024

Umweg über Zuhause: Wann ein Unfall nach dem Wochenendausflug doch ein Arbeitsunfall sein kann

Ein Knall, splitterndes Glas, dann Stille. Für Frau S. endete ein Sonntagmorgen im November nicht wie geplant mit dem Start in einen besonderen Arbeitstag, sondern im Krankenhaus. Auf dem Rückweg von einem privaten Wochenendausflug verunglückte sie schwer mit ihrem Auto, nur wenige Kilometer von ihrer Wohnung entfernt.

Der Grund für den Zwischenstopp zu Hause war rein beruflich: Sie musste dringend ihre Arbeitsschlüssel und Unterlagen holen, um pünktlich zur Eröffnung eines neuen Gemeindezentrums ihres Arbeitgebers, einer Kirchengemeindeverwaltung, erscheinen zu können. Doch die zuständige Unfallversicherung sah den Fall anders: Ein privater Ausflug bleibt privat, der Unfall auf dem Heimweg sei kein Arbeitsunfall. Ein jahrelanger Rechtsstreit begann, der nun vor dem höchsten deutschen Sozialgericht, dem Bundessozialgericht (BSG), eine wichtige Wendung nahm (Az. B 2 U 15/22 R).

Das Urteil vom 26. September 2024 ist weit mehr als nur die Entscheidung über das Schicksal von Frau S. Es beleuchtet eine Grauzone im Unfallversicherungsrecht, die viele Arbeitnehmer betrifft: Was gilt, wenn private Wege und berufliche Notwendigkeiten aufeinandertreffen? Wann genau beginnt der Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung, wenn man nicht den direkten Weg zur Arbeit nimmt, sondern einen Umweg fahren muss – etwa, um essenzielle Arbeitsmittel von zu Hause abzuholen? Das BSG hat hierzu klare, aber an Bedingungen geknüpfte Antworten gegeben, die sowohl für Betroffene als auch für Arbeitgeber von großer Bedeutung sind.

Der Fall von Frau S.: Ein Unfall mit weitreichenden Fragen

Stellen wir uns die Situation von Frau S. genauer vor. Sie arbeitete für eine Kirchengemeinde in der Stadt H. Das Wochenende hatte sie privat an einem anderen Ort, nennen wir ihn B., verbracht. Am Sonntagmorgen, dem 27. November 2016, machte sie sich auf den Rückweg. Ihr Ziel war jedoch nicht direkt die Arbeitsstelle in H., sondern zunächst ihre Wohnung in W. Dort lagen wichtige Schlüssel und Unterlagen, die sie für ihren bevorstehenden Arbeitseinsatz – die Eröffnung eines Gemeindezentrums um 11:00 Uhr – zwingend benötigte. Ohne diese hätte sie ihre Arbeit schlicht nicht aufnehmen können.

Gegen 8:55 Uhr geschah das Unglück. Auf der Landstraße, kurz vor ihrer Wohnung in W., verlor sie die Kontrolle über ihren Wagen und zog sich bei dem Unfall erhebliche Verletzungen zu. Die Folgen waren nicht nur körperlich gravierend, sondern führten auch zu einem langwierigen Konflikt mit der zuständigen Berufsgenossenschaft.

Die Berufsgenossenschaft – Wächter der gesetzlichen Unfallversicherung

Die Berufsgenossenschaften (kurz BG) sind die Träger der gesetzlichen Unfallversicherung in Deutschland für die Privatwirtschaft und bestimmte andere Bereiche. Sie sind dafür zuständig, Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten zu verhüten, aber auch, nach Eintritt eines Versicherungsfalls (wie eben einem Arbeitsunfall) die Gesundheit und Leistungsfähigkeit der Versicherten mit allen geeigneten Mitteln wiederherzustellen und sie oder ihre Hinterbliebenen durch Geldleistungen zu entschädigen. Für Arbeitnehmer ist die Anerkennung eines Unfalls als Arbeitsunfall oft mit besseren Leistungen verbunden als bei einem reinen Freizeitunfall, der über die Krankenkasse abgewickelt wird (z. B. bei Rehabilitation, Verletztengeld oder Renten).

Die BG lehnte die Anerkennung des Unfalls von Frau S. als Arbeitsunfall jedoch ab. Ihre Argumentation: Frau S. befand sich auf der Rückfahrt von einem privaten Wochenendausflug. Der Weg von diesem privaten „dritten Ort“ (B.) zur eigenen Wohnung (W.) sei grundsätzlich nicht durch die Unfallversicherung geschützt. Das Abholen von Arbeitsmitteln ändere daran nichts; dies sei höchstens eine unversicherte Vorbereitungshandlung.

Der steinige Weg durch die Instanzen: Warum die Gerichte zunächst zögerten

Frau S. wollte diese Entscheidung nicht akzeptieren und zog vor Gericht. Doch sowohl das Sozialgericht Dortmund als auch die nächsthöhere Instanz, das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen, bestätigten die Sichtweise der Berufsgenossenschaft. Sie verneinten das Vorliegen eines sogenannten Wegeunfalls.

Was genau ist ein Wegeunfall?

Das Gesetz, genauer das Siebte Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII), regelt, was ein Arbeitsunfall ist. § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII definiert ihn als Unfall eines Versicherten infolge einer versicherten Tätigkeit. Das Gesetz zählt dann in § 8 Abs. 2 verschiedene Tätigkeiten auf, die ebenfalls als versichert gelten. Der bekannteste Fall ist in § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII geregelt: das Zurücklegen des unmittelbaren Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit. Das ist der klassische „Wegeunfall“ – der Unfall auf dem direkten Weg von der Wohnung zur Arbeit oder umgekehrt.

Die Gerichte argumentierten: Frau S. war nicht auf dem direkten Weg zur Arbeit (nach H.), sondern zu ihrer Wohnung (nach W.). Das unmittelbare Ziel des Weges war also nicht der „Ort der Tätigkeit“. Zudem startete der Weg nicht an ihrer Wohnung, sondern an einem privaten „dritten Ort“ (dem Wochenendausflugsort B.). Auch wenn der Zweck des Zwischenstopps zu Hause beruflich war (Schlüssel holen), ändere dies nichts daran, dass der konkrete Wegabschnitt von B. nach W. eben nicht der gesetzlichen Definition eines versicherten Weges zur Arbeit entspreche. Für Frau S. eine bittere Entscheidung, bedeutete sie doch, dass die erheblichen Unfallfolgen nicht unter den Schutzschirm der gesetzlichen Unfallversicherung fallen sollten.

Doch Frau S. gab nicht auf und legte Revision beim Bundessozialgericht in Kassel ein. Die Revision ist ein Rechtsmittel, mit dem Urteile der Landessozialgerichte auf Rechtsfehler überprüft werden können. Das BSG prüft also nicht noch einmal den gesamten Sachverhalt neu, sondern kontrolliert, ob das LSG das Recht korrekt angewendet hat. Frau S. argumentierte, dass sie die Schlüssel und Unterlagen auf Anweisung oder zumindest im Sinne des Arbeitgebers zu Hause aufbewahren musste und der Weg zum Abholen dieser für die Arbeit notwendigen Gegenstände deshalb doch versichert sein müsse.

Die Wende in Kassel: Das Bundessozialgericht öffnet die Tür für Versicherungsschutz

Das Bundessozialgericht kam zu einem anderen Ergebnis als die Vorinstanzen. Es hob die Entscheidung des LSG auf und verwies den Fall dorthin zurück – eine sogenannte Zurückverweisung. Das bedeutet: Das LSG muss den Fall nun erneut prüfen und dabei die rechtlichen Vorgaben des BSG beachten.

Warum diese Entscheidung? Das BSG stimmte den Vorinstanzen zwar in einem Punkt zu: Ein klassischer Wegeunfall nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII lag tatsächlich nicht vor, da Frau S. auf dem Weg zu ihrer Wohnung war und nicht direkt zur Arbeitsstätte. Aber, so das BSG, das schließt nicht aus, dass der Unfallweg aus anderen Gründen versichert sein könnte!

Das Gericht zeigte zwei mögliche rechtliche Wege auf, wie der Unfall von Frau S. doch noch als Arbeitsunfall anerkannt werden könnte:

Möglichkeit 1: Versicherter Betriebsweg aufgrund einer Arbeitgeberweisung (§ 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII)

Das Gesetz schützt nicht nur den direkten Weg zur Arbeit, sondern generell Unfälle „infolge einer versicherten Tätigkeit“. Dazu können auch sogenannte Betriebswege gehören. Das sind Wege, die zwar nicht direkt zur Arbeitsstätte führen, aber dennoch im engen Zusammenhang mit der beruflichen Tätigkeit stehen und im Interesse des Arbeitgebers zurückgelegt werden.

Das BSG erklärte: Die Fahrt von Frau S. von B. nach W. könnte ein solcher versicherter Betriebsweg gewesen sein, wenn sie diesen Weg zurücklegte, um die Schlüssel und Unterlagen in Erfüllung einer arbeitsvertraglichen Pflicht oder einer konkreten Weisung ihres Arbeitgebers abzuholen.

  • Was bedeutet „Weisung“? Eine Weisung muss nicht immer ein lauter Befehl sein. Sie kann ausdrücklich erfolgen („Frau S., holen Sie bitte immer vor Dienstbeginn die Schlüssel von zu Hause ab.“) oder sich aus den Umständen ergeben (konkludent), zum Beispiel wenn klar war, dass die Schlüssel nirgendwo anders sicher aufbewahrt werden konnten und der Arbeitgeber dies wusste und billigte. Wenn der Arbeitgeber also von Frau S. verlangte oder es zumindest als selbstverständlich voraussetzte, dass sie die wichtigen Arbeitsmittel zu Hause lagerte und bei Bedarf von dort holte, könnte der Weg dorthin im betrieblichen Interesse gelegen haben und somit versichert gewesen sein.

Das LSG hatte diesen Aspekt – ob eine solche Weisung oder Verpflichtung vorlag – bisher nicht ausreichend geprüft. Genau das muss es jetzt nachholen. Es muss klären: Gab es eine Anweisung oder eine klare betriebliche Übung zur Aufbewahrung der Schlüssel und Unterlagen bei Frau S. zu Hause?

Möglichkeit 2: Versicherungsschutz wegen Umgang mit unentbehrlichem Arbeitsgerät (§ 8 Abs. 2 Nr. 5 SGB VII)

Es gibt noch eine weitere Vorschrift im Gesetz, die relevant sein könnte: § 8 Abs. 2 Nr. 5 SGB VII. Diese Norm stellt Tätigkeiten unter Versicherungsschutz, die mit der Beförderung, Instandhaltung, Erneuerung oder Verwahrung von Arbeitsgerät zusammenhängen, wenn dieses Gerät dem Unternehmen gehört oder vom Versicherten für die Arbeit bereitgestellt wird und der Versicherte die Tätigkeit im Auftrag oder im Interesse des Arbeitgebers ausführt.

Das BSG führte aus: Selbst wenn es keine direkte Weisung gab, könnte die Fahrt von Frau S. versichert gewesen sein, wenn die abzuholenden Schlüssel und Unterlagen als „Arbeitsgerät“ anzusehen sind und dieses Arbeitsgerät für die Aufnahme oder Verrichtung ihrer Tätigkeit „unentbehrlich“ war.

  • Was ist „Arbeitsgerät“? Das können Werkzeuge sein, aber eben auch Schlüssel, die den Zugang zum Arbeitsplatz ermöglichen, oder wichtige Unterlagen, ohne die die Arbeit nicht erledigt werden kann. Das BSG deutete an, dass sowohl die Schlüssel als auch die Arbeitsunterlagen in Frau S.‘ Fall durchaus als Arbeitsgerät gelten könnten.
  • Was bedeutet „unentbehrlich“? Unentbehrlich heißt: absolut notwendig. Die Arbeit hätte ohne diese spezifischen Schlüssel und Unterlagen nicht begonnen oder durchgeführt werden können. Es reicht nicht, wenn die Gegenstände nur nützlich oder praktisch gewesen wären. Das Gericht zog hier Parallelen zu Fällen, in denen jemand vergessene, aber zwingend für die Fortsetzung der Arbeit benötigte Gegenstände holt.

Auch hier muss das LSG nun prüfen: Waren die Schlüssel und/oder Unterlagen tatsächlich „Arbeitsgerät“? Und waren sie „unentbehrlich“ für den geplanten Arbeitseinsatz von Frau S. am Gemeindezentrum? Zudem muss feststehen, dass Frau S. zum Unfallzeitpunkt auch tatsächlich die Absicht hatte, genau dieses unentbehrliche Arbeitsgerät abzuholen.

Zusammenfassend kann gesagt werden: Das BSG hat klargestellt, dass ein Unfall auf dem Weg von einem privaten Ort (wie einem Urlaubsort oder einem Wochenendausflug) zur eigenen Wohnung versichert sein kann, wenn dieser Umweg notwendig ist, um dort Arbeitsmittel abzuholen. Entscheidend sind aber die konkreten Umstände: Entweder muss eine klare Weisung des Arbeitgebers vorliegen, oder die abzuholenden Gegenstände müssen unentbehrliches Arbeitsgerät sein.

Zwei Wege zum Versicherungsschutz nach dem BSG-Urteil:

Ein Unfall auf dem Weg von einem privaten Ort zur Wohnung kann ein Arbeitsunfall sein, wenn der Zweck die Abholung von Arbeitsmitteln ist UND eine der folgenden Bedingungen erfüllt ist:

  1. Arbeitgeberweisung: Der Weg zur Wohnung wurde aufgrund einer (ausdrücklichen oder stillschweigenden) Weisung des Arbeitgebers angetreten, um die Arbeitsmittel dort abzuholen (möglicherweise weil dort auch der Aufbewahrungsort war).
    • Relevant ist: § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII (Versicherter Betriebsweg)
  2. Unentbehrliches Arbeitsgerät: Die abzuholenden Gegenstände sind als „Arbeitsgerät“ zu werten (z. B. Schlüssel, spezielle Werkzeuge, wichtige Unterlagen) UND sie waren „unentbehrlich“ für die Aufnahme oder Durchführung der Arbeit.
    • Relevant ist: § 8 Abs. 2 Nr. 5 SGB VII (Umgang mit Arbeitsgerät)

Wichtig: Das LSG muss diese Bedingungen nun im Fall von Frau S. prüfen. Das Urteil des BSG ist noch keine endgültige Entscheidung über den Versicherungsschutz, sondern eine Anweisung zur erneuten Prüfung.

Was bedeutet dieses Urteil für Arbeitnehmer und Arbeitgeber?

Die Entscheidung des Bundessozialgerichts hat erhebliche praktische Bedeutung und sendet Signale an beide Seiten des Arbeitsverhältnisses.

Für Arbeitnehmer:

  • Erweiterter Schutz in bestimmten Fällen: Das Urteil stärkt potenziell den Versicherungsschutz für Arbeitnehmer, die aus beruflichen Gründen Umwege fahren müssen, um notwendige Arbeitsmittel von zu Hause oder einem anderen Ort abzuholen. Die starre Fixierung auf den „direkten Weg“ wird in diesen Konstellationen aufgeweicht.
  • Beweislast liegt beim Arbeitnehmer: Wer nach einem Unfall in einer ähnlichen Situation Leistungen von der Berufsgenossenschaft beansprucht, muss darlegen und im Streitfall beweisen können, dass entweder eine Arbeitgeberweisung vorlag oder die geholten Gegenstände unentbehrlich waren. Dokumentation ist hier Gold wert!
  • Nicht jeder Umweg ist versichert: Es ist wichtig zu verstehen, dass das Urteil keinen Freibrief für beliebige Umwege darstellt. Rein private Erledigungen auf dem Arbeitsweg oder das Holen von lediglich nützlichen, aber nicht zwingend erforderlichen Dingen bleiben weiterhin grundsätzlich unversichert. Der betriebliche Bezug muss klar überwiegen.

Für Arbeitgeber:

  • Bewusstsein für Anweisungen: Arbeitgeber sollten sich bewusst sein, dass ihre Anweisungen bezüglich der Aufbewahrung und des Transports von Arbeitsmitteln (Schlüssel, Laptops, Werkzeuge, Firmenwagen etc.) direkte Auswirkungen auf den Unfallversicherungsschutz ihrer Mitarbeiter haben können. Eine klare Anweisung, bestimmte Dinge zu Hause zu lagern und bei Bedarf abzuholen, kann dazu führen, dass auch Wege von oder zu privaten Orten unter Versicherungsschutz fallen.
  • Klare Regelungen treffen: Um Unklarheiten und potenzielle Streitigkeiten zu vermeiden, können klare betriebliche Regelungen sinnvoll sein. Wo sollen wichtige Arbeitsmittel aufbewahrt werden? Wie erfolgt der Transport? Wer ist verantwortlich? Solche Regelungen können helfen, den Rahmen der versicherten Tätigkeiten klarer abzustecken.
  • Potenzielle Haftungsfragen: Zwar zahlt die Berufsgenossenschaft bei einem Arbeitsunfall, doch können die Unfallkosten (z. B. durch höhere Beiträge) indirekt auch den Arbeitgeber belasten. Zudem können unklare Anweisungen zu Missverständnissen und rechtlichen Auseinandersetzungen führen.

Praktische Tipps für Betroffene: Was tun nach einem Unfall auf einem „Umweg“?

Wenn Sie auf einem Weg verunfallen, der nicht der direkte Weg zur Arbeit war, aber einen dienstlichen Zweck verfolgte (wie das Abholen von Arbeitsmitteln), sollten Sie folgende Punkte beachten:

  1. Unfall umgehend melden: Melden Sie den Unfall sofort Ihrem Arbeitgeber und, falls erforderlich, der Polizei. Der Arbeitgeber ist verpflichtet, Unfälle, die zu einer Arbeitsunfähigkeit von mehr als drei Tagen führen, der zuständigen Berufsgenossenschaft zu melden. Bei schweren Unfällen sollte die Meldung ohnehin direkt erfolgen.
  2. Ärztliche Behandlung als Arbeitsunfall: Suchen Sie einen Durchgangsarzt (D-Arzt) auf. Das sind Ärzte (meist Chirurgen oder Orthopäden), die eine spezielle Zulassung der Berufsgenossenschaften haben. Teilen Sie dem Arzt mit, dass es sich Ihrer Meinung nach um einen Arbeitsunfall handeln könnte und schildern Sie den genauen Hergang, einschließlich des Grundes für den Weg.
  3. Sachverhalt genau dokumentieren: Notieren Sie sich so bald wie möglich alle Details zum Unfallhergang und zum Zweck des Weges. Warum mussten Sie diesen Weg fahren? Welche Arbeitsmittel sollten abgeholt werden? Gab es dazu eine Anweisung des Arbeitgebers (mündlich, schriftlich, per E-Mail)? Waren die Mittel unentbehrlich? Sammeln Sie Beweise (z. B. E-Mails, Arbeitsanweisungen, Zeugenaussagen von Kollegen).
  4. Antrag bei der Berufsgenossenschaft: Stellen Sie sicher, dass der Unfall bei der zuständigen BG gemeldet wird. Sie erhalten in der Regel Formulare oder werden zur Stellungnahme aufgefordert. Schildern Sie hier präzise, warum Sie der Meinung sind, dass der Unfall im Zusammenhang mit Ihrer beruflichen Tätigkeit stand. Heben Sie die Argumente hervor, die das BSG nun betont hat (Weisung oder Unentbehrlichkeit).
  5. Bei Ablehnung Widerspruch einlegen: Lehnt die Berufsgenossenschaft die Anerkennung als Arbeitsunfall ab, haben Sie in der Regel einen Monat Zeit, Widerspruch einzulegen. Begründen Sie Ihren Widerspruch ausführlich und legen Sie alle relevanten Beweise bei.
  6. Klage vor dem Sozialgericht: Wird auch der Widerspruch zurückgewiesen, können Sie innerhalb eines Monats nach Zustellung des Widerspruchsbescheids Klage beim zuständigen Sozialgericht einreichen.
  7. Rechtzeitig Rechtsrat einholen: Das Sozialrecht, insbesondere das Unfallversicherungsrecht, ist komplex. Es ist ratsam, sich frühzeitig von einem spezialisierten Anwalt für Sozialrecht oder von Gewerkschaften bzw. Sozialverbänden beraten zu lassen. Diese können Ihre Erfolgsaussichten einschätzen und Sie im Verfahren unterstützen.

Fallstricke vermeiden:

  • Fristen beachten: Versäumen Sie keine Fristen für Widerspruch oder Klage! Diese sind in der Regel sehr kurz (meist ein Monat).
  • Unvollständige Angaben: Machen Sie gegenüber der BG und dem Arzt vollständige und wahrheitsgemäße Angaben zum Unfallhergang und zum Zweck des Weges. Verschweigen Sie keine relevanten Details, auch wenn sie privat erscheinen (wie den vorherigen Wochenendausflug), aber erklären Sie den beruflichen Zusammenhang klar.
  • Fehlende Beweise: Verlassen Sie sich nicht nur auf Ihre eigene Aussage. Suchen Sie aktiv nach Beweisen für eine Arbeitgeberweisung oder die Unentbehrlichkeit der Arbeitsmittel.

FAQ – Häufige Fragen zum Thema Wegeunfall und Umwege

Frage 1: Ich habe auf dem Weg zur Arbeit kurz angehalten, um privat etwas einzukaufen. Ist das noch versichert?

In der Regel nein. Eine Unterbrechung des direkten Weges für private Erledigungen (z. B. Einkaufen, Tanken aus privatem Anlass) führt dazu, dass der Versicherungsschutz für die Dauer der Unterbrechung und auf dem dadurch verursachten Umweg entfällt. Erst wenn Sie wieder auf den direkten Weg zur Arbeit zurückkehren, lebt der Schutz wieder auf. Es gibt Ausnahmen, z. B. wenn der Einkauf auf direktem Weg liegt und nur kurz dauert, aber die Grenzen sind fließend und oft strittig.

Frage 2: Was ist, wenn ich meine Kinder auf dem Weg zur Arbeit in die Kita bringe?

Das Abholen, Bringen oder Unterbringen von Kindern wegen der eigenen Berufstätigkeit ist gesetzlich besonders geschützt (§ 8 Abs. 2 Nr. 2a SGB VII). Wege, die deswegen notwendig werden, stehen unter Versicherungsschutz, auch wenn sie einen Umweg bedeuten. Dies gilt für Kinder, die mit dem Versicherten in einem gemeinsamen Haushalt leben.

Frage 3: Zählt der Weg ins Homeoffice auch als Wegeunfall?

Nein, der „Weg“ vom Bett zum Schreibtisch im Homeoffice ist kein versicherter Weg im Sinne des Wegeunfalls. Allerdings wurde der Versicherungsschutz im Homeoffice durch Gesetzesänderungen in den vergangenen Jahren erweitert. Unfälle, die im unmittelbaren Zusammenhang mit der beruflichen Tätigkeit im Homeoffice stehen (z. B. Sturz auf dem Weg zum Drucker im Nebenzimmer, um Arbeitsunterlagen zu holen), können als Arbeitsunfall anerkannt werden. Auch der Weg zur erstmaligen Aufnahme der Tätigkeit (z. B. morgens vom Schlafzimmer ins Arbeitszimmer) kann unter bestimmten Umständen versichert sein.

Frage 4: Was ist der Unterschied zwischen Leistungen der Berufsgenossenschaft und der Krankenkasse?

Die Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung (Berufsgenossenschaften) sind oft umfassender als die der gesetzlichen Krankenversicherung. Dazu gehören z. B. spezialisierte Heilbehandlungen und Rehabilitationsmaßnahmen („mit allen geeigneten Mitteln“), höheres Verletztengeld (statt Krankengeld), Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (Umschulung etc.) und bei dauerhaften Schäden unter Umständen eine lebenslange Verletztenrente. Daher ist die Anerkennung als Arbeitsunfall für Betroffene meist vorteilhafter.

Frage 5: Gilt das BSG-Urteil auch, wenn ich nur meinen Laptop oder mein Diensthandy von zu Hause holen muss?

Das hängt von den Kriterien des BSG ab.

  • Weisung: Gab es eine klare Anweisung oder betriebliche Übung, dass Sie den Laptop/das Handy zu Hause aufbewahren und bei Bedarf holen müssen? Wenn ja, könnte der Weg als Betriebsweg versichert sein.
  • Unentbehrlichkeit: Waren der Laptop oder das Handy „unentbehrliches Arbeitsgerät“ für die konkrete Tätigkeit, die Sie antreten wollten? Konnten Sie ohne diese Geräte Ihre Arbeit überhaupt nicht beginnen oder fortsetzen? Wenn ja, könnte § 8 Abs. 2 Nr. 5 SGB VII greifen. Einfach nur vergessene, aber nicht absolut zwingend notwendige Geräte zu holen, dürfte eher nicht ausreichen. Die Messlatte „unentbehrlich“ liegt hoch.

Frage 6: Mein Arbeitgeber hat mir nie ausdrücklich gesagt, dass ich die Schlüssel zu Hause aufbewahren soll, es hat sich einfach so ergeben. Ist das auch eine Weisung?

Das BSG spricht von einer Weisung, die auch „konkludent“, also durch schlüssiges Verhalten, erfolgen kann. Wenn der Arbeitgeber wusste, dass Sie die Schlüssel zu Hause aufbewahren, dies über längere Zeit widerspruchslos hingenommen oder sogar erwartet hat (weil es z. B. keine andere sichere Möglichkeit gab), könnte dies als stillschweigende Weisung gewertet werden. Dies muss aber im Einzelfall geprüft und ggf. bewiesen werden.

Ausblick: Was passiert nun im Fall von Frau S.?

Für Frau S. ist der Kampf weiterhin nicht vorbei. Das Bundessozialgericht hat ihr zwar neue Hoffnung gegeben, aber die endgültige Entscheidung liegt nun wieder beim Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen. Die Richter dort müssen jetzt die vom BSG aufgeworfenen Fragen klären: Gab es eine Weisung des Arbeitgebers bezüglich der Schlüssel und Unterlagen? Oder waren diese Gegenstände unentbehrliche Arbeitsgeräte? Dazu müssen wahrscheinlich weitere Beweise erhoben werden, vielleicht durch Befragung von Zeugen oder Prüfung von Unterlagen der Kirchengemeinde.

Unabhängig vom Ausgang für Frau S. hat das Urteil des Bundessozialgerichts eine wichtige Leitplanke im komplexen Feld der Wegeunfälle gesetzt. Es zeigt, dass der Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung nicht starr an geografischen Wegen hängt, sondern auch die funktionalen Notwendigkeiten der modernen Arbeitswelt berücksichtigen muss. Wenn berufliche Pflichten es erfordern, auch außerhalb der direkten Pendelstrecke tätig zu werden – sei es durch eine Weisung des Chefs oder durch die Unentbehrlichkeit von Arbeitsmitteln – dann kann auch ein Unfall auf einem solchen „Umweg“ ein Arbeitsunfall sein. Eine Klarstellung, die vielen Arbeitnehmern in ähnlichen Situationen helfen könnte und Arbeitgeber dazu anhält, den Umgang mit Arbeitsmitteln außerhalb des Betriebs klar und bewusst zu regeln.

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