Arbeitsunfall: Fahrphobie führt zu Erwerbsminderung
Das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen hat entschieden, dass die Klägerin, welche durch einen Arbeitsunfall eine dauerhafte Fahrphobie erlitten hat, Anspruch auf eine Verletztenrente hat. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) wurde auf 20 Prozent festgelegt. Dieses Urteil hebt frühere Entscheidungen auf und erkennt die Fahrphobie als wesentliche Unfallfolge an.
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✔ Das Wichtigste in Kürze
Die zentralen Punkte aus dem Urteil:
- Anerkennung der Fahrphobie als Unfallfolge: Der Unfall vom 28. Dezember 2015 wurde als wesentliche Ursache für die Fahrphobie der Klägerin anerkannt.
- Festlegung der MdE auf 20 Prozent: Die Fahrphobie führt zu einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 Prozent.
- Aufhebung früherer Entscheidungen: Frühere Urteile und Bescheide, die den Anspruch der Klägerin ablehnten, wurden aufgehoben.
- Keine Anerkennung weiterer psychischer Störungen: Andere psychische Störungen außer der Fahrphobie wurden nicht als Unfallfolgen anerkannt.
- Bedeutung der Fahrphobie im Arbeitsleben: Die Unfähigkeit, ein Fahrzeug zu führen, wird als erhebliche Einschränkung im Berufsleben gewertet.
- Chronifizierung der Fahrphobie: Die anhaltende Fahrphobie bleibt trotz Chronifizierung eine Unfallfolge.
- Beginn des Rentenanspruchs: Der Anspruch auf die Verletztenrente beginnt ab dem 1. Juli 2018.
- Keine Zulassung der Revision: Eine weitere rechtliche Überprüfung durch Revision wurde nicht zugelassen.
Übersicht
- Arbeitsunfall: Fahrphobie führt zu Erwerbsminderung
- ✔ Das Wichtigste in Kürze
- Die rechtliche Auseinandersetzung um psychische Folgen nach Arbeitsunfällen
- Der Weg zum Landessozialgericht: Ein Arbeitsunfall und seine Folgen
- Der Rechtsstreit um die Anerkennung einer Fahrphobie
- Der Kampf um Gerechtigkeit am Sozialgericht Hannover
- Die Entscheidung des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen
- ✔ Wichtige Begriffe kurz erklärt
- Das vorliegende Urteil
Die rechtliche Auseinandersetzung um psychische Folgen nach Arbeitsunfällen
In der juristischen Betrachtung von Arbeitsunfällen und deren Folgen nimmt die Anerkennung psychischer Beeinträchtigungen, wie zum Beispiel einer Fahrphobie, eine zunehmend wichtige Rolle ein. Die Frage, inwieweit solche psychischen Folgen eines Unfalls zu einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) führen und somit Ansprüche auf Verletztenrente begründen können, stellt sowohl für die Betroffenen als auch für die Rechtsprechung eine komplexe Herausforderung dar. Besonders relevant wird dies, wenn die psychische Beeinträchtigung direkt aus dem Unfallereignis resultiert und den Alltag sowie die berufliche Tätigkeit des Betroffenen erheblich beeinflusst.
Die Entscheidungen von Sozialgerichten und insbesondere von Landessozialgerichten in solchen Fällen basieren auf detaillierten medizinischen Gutachten und der sorgfältigen Abwägung von Ursache und Wirkung des Unfalls. Dabei sind die rechtlichen Rahmenbedingungen des Sozialgesetzbuches sowie die medizinischen Erkenntnisse zu spezifischen Phobien und deren Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit entscheidend. Die Urteile in diesen Angelegenheiten setzen oft wichtige Präzedenzfälle für die Beurteilung ähnlicher Fälle und tragen zur Entwicklung des Verständnisses von psychischen Unfallfolgen im Arbeitsrecht bei.
Der Weg zum Landessozialgericht: Ein Arbeitsunfall und seine Folgen
Am 28. Dezember 2015 ereignete sich ein dramatischer Vorfall, der das Leben einer Buchhalterin grundlegend verändern sollte. Auf dem Heimweg von der Arbeit kollidierte ihr Fahrzeug frontal mit einem entgegenkommenden Pkw. Die Folgen waren gravierend: Neben physischen Verletzungen wie Rippenserienfraktur, Mantelpneumothorax und Beckenprellung entwickelte die Klägerin ein posttraumatisches Angst- und Stresssyndrom. Dieses mündete in eine spezifische Phobie, die Fahrangst, welche durch ambulante und stationäre psychotherapeutische Behandlungen sowie ein begonnenes Fahrtraining bekämpft wurde. Die Situation eskalierte, als die Klägerin ihre Arbeitsbelastungserprobung aufgrund der zunehmenden Angst vor dem Heimweg abbrach. Eine stationäre Therapie im S. Zentrum für Verhaltensmedizin bestätigte die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) und betonte den dringenden Bedarf an weiterer therapeutischer Unterstützung.
Der Rechtsstreit um die Anerkennung einer Fahrphobie
Nachdem die Beklagte, eine Berufsgenossenschaft, die Gewährung von Verletztengeld zum 30. Juni 2018 einstellte, forderte die Klägerin die Zahlung einer Verletztenrente. Ein psychiatrisches Gutachten diagnostizierte eine Pkw-Fahrangst und führte rezidivierende depressive Störungen sowie spezifische Ängste als psychische Vorerkrankungen an. Die Klägerin wurde lediglich eine MdE von 10 % zugesprochen, was sie nicht akzeptierte, da sie der Ansicht war, dass diese Phobie direkte Folge des Arbeitsunfalls sei und ihre Erwerbsfähigkeit um mindestens 20 % mindere. Die Beklagte erkannte zwar den Unfall als Arbeitsunfall an, lehnte jedoch eine Rente ab, da sie die MdE unter 20 % einschätzte.
Der Kampf um Gerechtigkeit am Sozialgericht Hannover
Das Sozialgericht Hannover wies die Klage der Buchhalterin ab, indem es sich auf das Gutachten von Dr. U. berief, das eine unfallbedingte MdE von nur 10 % feststellte. Die Klägerin legte daraufhin Berufung beim Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen ein. Sie argumentierte, dass die Vorschädigungen nicht wesentlich für ihr derzeitiges Erkrankungsbild seien und eine Verschiebung der Wesensgrundlage bei der Belastungserprobung nicht vorliege.
Die Entscheidung des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen
Das Landessozialgericht gab der Berufung statt und verurteilte die Beklagte zur Zahlung einer Verletztenrente nach einer MdE von 20 %. Das Gericht stützte sich dabei auf das Gutachten der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. AA., die bestätigte, dass die Fahrphobie mit Wahrscheinlichkeit durch den Unfall verursacht wurde. Entgegen der Ansicht der Beklagten und des Sozialgerichts Hannover war das Landessozialgericht der Auffassung, dass die Fahrphobie die Erwerbsfähigkeit der Klägerin um 20 % mindere. Dies begründete das Gericht mit der zentralen Bedeutung der Autofahrfähigkeit im Erwerbsleben. Die Entscheidung des Landessozialgerichts stellt damit einen bedeutenden Präzedenzfall in der Anerkennung psychischer Folgen von Arbeitsunfällen dar.
✔ Wichtige Begriffe kurz erklärt
Wie wird die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) im Kontext der gesetzlichen Unfallversicherung bestimmt?
Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) im Kontext der gesetzlichen Unfallversicherung wird bestimmt, indem beurteilt wird, wie stark die infolge des Versicherungsfalls eingetretene Minderung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens eines Versicherten seine Arbeitsmöglichkeiten einschränkt. Der Grad der MdE wird in Prozent angegeben.
Für die Bestimmung der MdE werden sogenannte MdE-Tabellen herangezogen, die Werte für verschiedene Arten von Verletzungen und Erkrankungen enthalten. Diese Tabellen sind jedoch nicht immer transparent in Bezug auf ihre Entstehung und Aktualität, was in der Vergangenheit zu Diskussionen geführt hat.
Die MdE spielt eine wichtige Rolle bei der Beurteilung des Anspruchs auf Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung. Wenn Versicherte nach einer berufsgenossenschaftlichen Heilbehandlung und/oder nach Rehabilitationsmaßnahmen nicht wieder uneingeschränkt am Erwerbsleben teilnehmen können, zahlt die Berufsgenossenschaft eine Berufskrankheits- oder Verletztenrente/Unfallrente. Voraussetzung dafür ist eine andauernde Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von mindestens 20 Prozent durch einen Arbeitsunfall, einen Wegeunfall oder eine Berufskrankheit.
Die Höhe der Rente, die ein Versicherter erhält, hängt vom Grad der MdE ab. Bei einer MdE von 100% erhält der Versicherte eine Vollrente, die zwei Drittel seines Jahresgehalts entspricht. Bei einer geringeren MdE erhält der Versicherte eine Teilrente, die prozentual berechnet wird.
Es ist zu beachten, dass die MdE für jeden Versicherungsfall gesondert festgestellt wird. Wenn die Erwerbsfähigkeit durch mehrere Versicherungsfälle gemindert ist, werden dementsprechend mehrere Renten gezahlt.
Es ist auch wichtig zu verstehen, dass der Begriff MdE sich von anderen Begriffen wie dem Grad der Behinderung (GdB) oder dem Grad der Schädigungsfolgen (GdS) unterscheidet, die in anderen Bereichen des Sozialrechts verwendet werden.
Was ist eine Fahrphobie?
Eine Fahrphobie, auch als Fahrangst oder Amaxophobie bezeichnet, ist eine spezifische Angststörung, die sich auf das Autofahren oder das Reisen in einem Auto bezieht. Diese Angst kann sich auf verschiedene Aspekte des Autofahrens beziehen, einschließlich der Angst vor dem Auto selbst als unberechenbare Maschine oder der Angst vor bestimmten Situationen im Straßenverkehr, wie dem Fahren auf Autobahnen oder unbekannten Strecken.
Die Betroffenen befürchten oft, einen Unfall zu verursachen oder andere zu verletzen, und reagieren mit starken körperlichen Symptomen wie Herzrasen, beschleunigtem Atmen, Schweißausbrüchen und Nervosität. Diese Angst kann so intensiv werden, dass sie das Fahren vollständig vermeiden und dadurch an Mobilität, Lebensqualität und Selbstbewusstsein verlieren.
Die Ursachen für eine Fahrphobie können vielfältig sein. Ein häufiger Auslöser ist ein erlebter Kontrollverlust beim Fahren, mit oder ohne Unfall. Andere Faktoren können mangelnde Fahrpraxis, Unsicherheit oder traumatische Ereignisse wie Autounfälle sein. Medienberichte über Autounfälle können ebenfalls zur Entwicklung einer Fahrphobie beitragen, insbesondere bei beeinflussbaren und sensiblen Personen.
Die Behandlung einer Fahrphobie kann verschiedene Ansätze umfassen, darunter kognitive Verhaltenstherapie, Hypnotherapie und sogar die Nutzung von virtueller Realität. Es ist wichtig, dass Betroffene ihre Angst anerkennen und verstehen, um sie effektiv behandeln zu können. In einigen Fällen kann es hilfreich sein, die Unterstützung eines erfahrenen Psychologen oder Psychotherapeuten in Anspruch zu nehmen, insbesondere wenn die Fahrphobie nach einem Autounfall aufgetreten ist.
Das vorliegende Urteil
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen – Az.: L 3 U 151/20 – Urteil vom 27.09.2023
Auf die Berufung der Klägerin werden der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Hannover vom 23. September 2020 aufgehoben und der Bescheid der Beklagten vom 20. Dezember 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 9. April 2019 abgeändert.
Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin ab 1. Juli 2018 eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 vH zu gewähren.
Die Kosten der Klägerin aus beiden Rechtszügen sind von der Beklagten zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Gewährung einer Unfallrente.
Die 1961 geborene Klägerin befand sich am 28. Dezember 2015 in ihrem Pkw auf dem Heimweg von ihrer beruflichen Tätigkeit als Buchhalterin, als ihr auf der Landstraße bei J. (Landkreis K.) auf ihrer Fahrspur ein anderer Pkw entgegenkam und mit ihrem Fahrzeug frontal zusammenstieß. Sie wurde vom Rettungsdienst in die unfallchirurgische Klinik der L. Kliniken M. gebracht, wo die Diagnosen: Rippenserienfraktur der 8. bis 10. Rippe links, Mantelpneumothorax links, Beckenprellung und erstgradiges Schädelhirntrauma gestellt wurden. Nach konservativer Therapie wurde sie am 1. Januar 2016 aus der stationären Behandlung entlassen (Entlassungsbericht von Dr. N. vom 30. Dezember 2015).
Bei der ambulanten Wiedervorstellung der Klägerin am 13. Januar 2016 stellte Dr. N. ein deutliches posttraumatisches Angst- und Stresssyndrom fest und hielt eine psychologische Notfallbetreuung für indiziert (Zwischenbericht vom selben Tag). In der Folgezeit wurde die Klägerin wiederholt ambulant und stationär psychotherapeutisch betreut. Während der ambulanten Behandlung durch die Psychologische Psychotherapeutin Dipl.-Psych. O., die bei der Klägerin eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), eine Anpassungsstörung und eine spezifische Phobie (Fahrangst) diagnostizierte (Behandlungsbericht vom 19. Januar 2017), wurde ein Fahrtraining begonnen, das auch während einer stationären Behandlung der Klägerin in der Klinik P. in Q. weitergeführt wurde (vgl Entlassungsbericht vom 3. November 2017). Im Verlauf der sich anschließenden ambulanten Behandlung bei Dipl.-Psych. R. in der Interdisziplinären Neuropsychologischen Ambulanz Q., die ebenfalls von therapeutischen Fahrstunden begleitet wurde, führte die Klägerin eine Arbeitsbelastungserprobung bei ihrem Arbeitgeber durch, die im Mai 2018 abgebrochen wurde, weil bei ihr jeweils am Ende des Arbeitstags wegen der Angst vor dem Rückweg ein Leistungsabfall eingetreten sei (vgl die Gesprächsvermerke vom 8. und vom 23. Mai 2018, S 768 bzw S 783 VA). Im Anschluss erfolgte – vom 31. Mai bis zum 28. Juni 2018 – erneut eine stationäre Therapie in der Klinik für Psychosomatik des S. Zentrums für Verhaltensmedizin T., die in ihrem Abschlussbericht vom 26. Juli 2018 eine PTBS diagnostizierte und weiteren dringenden therapeutischen Unterstützungs- und Behandlungsbedarf wegen der Angstsymptomatik angab.
Nachdem die Beklagte die bisherige Gewährung von Verletztengeld mit Ablauf des 30. Juni 2018 eingestellt hatte (bestandskräftiger Bescheid vom 13. Juni 2018), beantragte die Klägerin mit Schreiben vom 2. Juli 2018 die Zahlung einer Verletztenrente.
Die Beklagte holte daraufhin ein psychiatrisches Zusammenhangsgutachten der Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. U. (mit neuropsychologischem Zusatzgutachten von Dipl.-Psych. V. vom 31. Oktober 2018) ein. Dr. U. stellte unter dem 28. November 2018 die Diagnose einer Pkw-Fahrangst (als Mitfahrerin bzw Fahrerin; ICD-10: F40.2) und benannte als psychische Vorerkrankungen eine rezidivierende depressive Störung sowie spezifische Ängste (vor Dunkelheit, Menschenmengen, Höhe, Fahrstühlen, Erkrankungen/Krebs) und als Schadensanlage eine Persönlichkeitsakzentuierung im Sinne einer abhängigen, selbstunsicheren und zwanghaften Grundpersönlichkeit. Das Unfallereignis sei generell geeignet gewesen, eine spezifische Angst vor der Teilnahme am Straßenverkehr auszulösen und eine erneute depressive Episode im Rahmen der rezidivierenden depressiven Störung zu verursachen. In Bezug auf die depressive Episode sei eine Verschiebung der Wesensgrundlage mit Abbruch der Belastungserprobung im Mai 2018 eingetreten. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) werde ab dem 1. Juli 2018 fortlaufend mit 10 vH eingeschätzt. Mittlerweile sei „auch im Bezug auf die aktenkundigen bereits vorbestehenden spezifischen Ängsten von einem Beharrungszustand in Bezug auf die Pkw-Fahrangst auszugehen“; daher werde diesbezüglich keine Änderung mehr erwartet.
Mit Bescheid vom 20. Dezember 2018 erkannte die Beklagte den Unfall vom 28. Dezember 2015 als Arbeitsunfall an, lehnte einen Anspruch auf Rente aber ab, weil die Erwerbsfähigkeit der Klägerin nicht um wenigstens 20 vH gemindert sei. Als Folgen des Versicherungsfalls erkannte sie eine „vorübergehende Verschlimmerung der rezidivierenden depressiven Störung mit ausgelöster depressiver Episode und Pkw-Fahrangst“ an. Unfallunabhängig seien eine „rezidivierende (wiederauftretende) depressive Störung, chronifizierte spezifische Ängste sowie anhaltende Pkw-Fahrangst (Beharrungszustand)“. Der hiergegen eingelegte Widerspruch der Klägerin blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 9. April 2019, der Klägerin bekannt gegeben am 10. April 2019).
Hiergegen hat die Klägerin am 10. Mai 2019 Klage zum Sozialgericht (SG) Hannover erhoben. Die Beklagte gehe zu Unrecht davon aus, dass bei ihr eine Vorschädigung bestanden habe und diese wesentlich ursächlich für ihr derzeitiges Erkrankungsbild sei. Sie sei vielmehr bis zum Unfall völlig gesund gewesen und eine frühere depressive Episode sei ausgeheilt gewesen. Sie leide unter einer dauerhaften PTBS und einer anhaltend schweren Angststörung, am Straßenverkehr teilzunehmen. Selbst als Beifahrerin traue sie sich in der Regel nicht, weitere Strecken in einem Pkw zurückzulegen. Eine Verschiebung der Wesensgrundlage bei Abbruch der Belastungserprobung im Mai 2018 könne keinesfalls gesehen werden.
Das SG hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 23. September 2020 abgewiesen. Die Erwerbsfähigkeit der Klägerin aufgrund der Unfallfolgen sei nicht in rentenberechtigendem Umfang gemindert und ein Anspruch auf Feststellung weiterer Unfallfolgen bestehe nicht. Nach dem schlüssigen und sorgfältigen Gutachten von Dr. U. werde als unfallbedingt lediglich eine Pkw-Fahrangst gewertet. Zudem sei das Unfallereignis geeignet gewesen, eine vorübergehende Verschlimmerung der vorbestehenden rezidivierenden depressiven Störung im Sinne der Auslösung einer erneuten depressiven Episode zu bedingen. Die Einschätzung der unfallbedingten MdE mit 10 vH stehe im Einklang mit der aktuellen unfallmedizinischen Fachliteratur und den dort niedergelegten Erfahrungswerten. Dabei werde für eine isolierte spezifische Phobie, die eng begrenzt sei auf die Arbeitswelt wenig bestimmende Situationen, eine MdE von 10 vH vorgeschlagen.
Gegen diese ihr am 24. September 2020 zugestellte Entscheidung hat die Klägerin am Montag, dem 26. Oktober 2020 Berufung bei dem Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen eingelegt. Zur Begründung beanstandet sie die seitens des SG unterbliebene Sachverhaltsaufklärung und wiederholt im Übrigen ihr Vorbringen aus dem erstinstanzlichen Verfahren.
Die Klägerin beantragt,
1. den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Hannover vom 23. September 2020 aufzuheben und den Bescheid der Beklagten vom 20. Dezember 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 9. April 2019 abzuändern,
2. ihr ab 1. Juli 2018 eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 20 vH zu gewähren.
Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Das Urteil des SG und die angefochtenen Bescheide seien rechtmäßig. Die Klägerin habe keinen Anspruch auf die Gewährung einer Verletztenrente, weil ihre Erwerbsfähigkeit infolge des Arbeitsunfalls nicht um wenigstens 20 vH gemindert sei. Da sich die Wesensgrundlage der weiter bestehenden rezidivierenden depressiven Störung seit Mai 2018 in eine unfallunabhängige geändert habe und damit für die Beurteilung der unfallbedingten MdE allein die Pkw-Fahrangst heranzuziehen sei, sei die MdE dieser isolierten spezifischen Phobie mit einer MdE iHv 10 vH zu bewerten. Gründe, aus denen sich das Bestehen einer PTBS ergeben könne, enthalte das gegnerische Vorbringen zudem nicht.
Der Senat hat Befundberichte des Internisten Dr. W. (vom 13. April 2021) und der Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie X. (vom 3. Mai 2021) eingeholt, weiterhin einen Befundbericht des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. Y. (vom 13. April 2021), der ua ein Rentengutachten des Nervenarztes Dr. Z. vom 3. Oktober 2018 vorgelegt hat. Außerdem hat er ein Sachverständigengutachten der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. AA. (vom 19. September 2022, ergänzt am 2. Mai 2023) eingeholt. Diese ist zum Ergebnis gekommen, dass eine bei der Klägerin vorliegende spezifische (isolierte) Phobie in Bezug auf das Autofahren (Fahrphobie; ICD-10: F40.2) mit Wahrscheinlichkeit durch das Unfallereignis vom 28. Dezember 2015 verursacht worden sei. Die hieraus resultierende unfallbedingte MdE betrage 20 vH.
Die Beklagte hält demgegenüber an ihrer Auffassung fest, die MdE für eine situative Phobie im Sinne einer Fahrangst sei mit 10 vH zu bewerten. Im Übrigen sei in Hinblick auf die Fahrangst eine Verschiebung der Wesensgrundlage insofern eingetreten, als wesentliche Ursache für das dauerhafte Fortbestehen der Phobie inzwischen nicht mehr der Unfall, sondern ihre bereits vor dem Ereignis gegebene psychische Erkrankung sei. Hierzu beruft sie sich auf eine Stellungnahme ihres beratenden Psychologen Dipl.-Psych. AB. vom 16. Januar 2023.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Prozessakte und der beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Berufung der Klägerin ist zulässig und begründet. Das SG hat ihre Klage zu Unrecht abgewiesen.
I. Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 S 1 und Abs 4 Sozialgerichtsgesetz <SGG>) statthaft und auch im Übrigen zulässig.
II. Die Klage ist auch begründet. Die mit dem Bescheid vom 20. Dezember 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 9. April 2019 getroffene Entscheidung der Beklagten, die Zahlung einer Verletztenrente abzulehnen, ist rechtswidrig. Denn die Klägerin hat einen Anspruch auf Gewährung einer Verletztenrente iHv 20 vH der Vollrente.
1. Gemäß § 56 Abs 1 S 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) haben Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls (dh eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit, vgl § 7 Abs 1 SGB VII) über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 vH gemindert ist, Anspruch auf eine Rente. Bei Verlust der Erwerbsfähigkeit wird Vollrente geleistet (§ 56 Abs 3 S 1 Halbs 1 SGB VII), bei einer MdE wird eine Teilrente gewährt (§ 56 Abs 3 S 2 Halbs 1 SGB VII), die in der Höhe des Vomhundertsatzes der Vollrente festgesetzt wird, der dem Grad der MdE entspricht (§ 56 Abs 3 S 2 Halbs 2 SGB VII).
Die MdE richtet sich nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens (§ 56 Abs 2 S 1 SGB VII). Anhaltspunkte für die Bemessung der MdE im Einzelfall bilden die sogenannten Erfahrungswerte, die sich in der gesetzlichen Unfallversicherung im Lauf der Zeit bei einer Vielzahl von Unfallfolgen in Gestalt von MdE-Tabellen herausgebildet haben (ständige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts <BSG>, zB Urteil vom 20. Dezember 2016 – B 2 U 11/15 R, SozR 4-2700 § 56 Nr 4). MdE-Tabellen bezeichnen typisierend das Ausmaß der durch eine körperliche, geistige oder seelische Funktionsbeeinträchtigung hervorgerufenen Leistungseinschränkungen in Bezug auf das gesamte Erwerbsleben und ordnen körperliche oder geistige Funktionseinschränkungen einem Tabellenwert zu. Die in den Tabellen und Empfehlungen enthaltenen Richtwerte geben damit auch allgemeine Erfahrungssätze über die Auswirkungen bestimmter Beeinträchtigungen auf die Erwerbsfähigkeit aufgrund des Umfangs der den Verletzten versperrten Arbeitsmöglichkeiten wieder und gewährleisten, dass die Verletzten bei der medizinischen Begutachtung nach einheitlichen Kriterien beurteilt werden (BSG aaO).
Dabei liegt eine MdE „infolge eines Versicherungsfalls“ nur vor, wenn der hierfür verantwortliche Gesundheitsschaden durch den Versicherungsfall rechtlich wesentlich verursacht worden ist (vgl BSG, Urteil vom 6. September 2018 – B 2 U 16/17 R, SozR 4-2700 § 11 Nr 2). In diesem Zusammenhang ist der jeweils geltend gemachte Gesundheitsschaden im sogenannten Vollbeweis festzustellen (vgl BSG, Urteil vom 2. November 1999 – B 2 U 47/98 R, SozR 3-1300 § 48 Nr 67), während für den Nachweis der wesentlichen Ursachenzusammenhänge zwischen dem Versicherungsfall und einem geltend gemachten Gesundheitsschaden die (hinreichende) Wahrscheinlichkeit – nicht allerdings die bloße Möglichkeit – genügt, die zu bejahen ist, wenn mehr für als gegen die Annahme des Ursachenzusammenhangs spricht und ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Verursachung ausscheiden (vgl BSG, Urteil vom 2. November 1999 aaO, mwN). Sind – wie häufig – mehrere Bedingungen für den Eintritt des Schadens ursächlich im naturwissenschaftlichem Sinn gewesen, gilt die Kausalitätslehre der wesentlichen Bedingung. Danach sind nur die Ursachen wesentlich (und damit rechtserheblich), die rechtlich die Realisierung einer in den Schutzbereich des jeweils erfüllten Versicherungstatbestands fallenden Gefahr darstellen (vgl BSG, Urteil vom 30. März 2017 – B 2 U 6/15 R, SozR 4-5671 Anl 1 Nr 1103 Nr 1, mwN).
Nach diesen Maßgaben steht zur Überzeugung des Senats fest, dass der Arbeitsunfall vom 28. Dezember 2015 bei der Klägerin eine dauerhafte Fahrphobie (als Fall einer spezifischen <isolierten> Phobie, ICD 10: F40.2) wesentlich verursacht hat (im Folgenden: 2.a). Weitere Gesundheitsstörungen auf psychischem Gebiet sind dagegen nicht Folge des Arbeitsunfalls (2.b). Die Fahrphobie mindert die Erwerbsfähigkeit der Klägerin um 20 vH (3.).
2.a) aa) Dass der Arbeitsunfall die Fahrphobie der Klägerin verursacht hat, ergibt sich bereits aus dem insoweit bestandskräftigen (§ 77 SGG) Bescheid vom 20. Dezember 2018, in dem die Beklagte – neben der vorübergehenden Verschlimmerung einer rezidivierenden depressiven Störung mit ausgelöster depressiver Episode – eine „Pkw-Fahrangst“ als Unfallfolge anerkannt hat.
Nur ergänzend weist der Senat deshalb darauf hin, dass die Annahme eines entsprechenden Ursachenzusammenhangs auch in der Sache berechtigt ist. Das ergibt sich aus den überzeugenden Darlegungen der Sachverständigen Dr. AA. im Gutachten vom 19. September 2022. Darin wird zwar darauf hingewiesen, dass bei der Klägerin im Unfallzeitpunkt eine erhöhte seelische Vulnerabilität – im Sinne einer Persönlichkeitsakzentuierung mit ängstlichen und zwanghaften Zügen (ICD-10: Z73) – bestand. Wie in der Rechtsprechung seit langem anerkannt ist, schließt eine „abnorme seelische Bereitschaft“ die Annahme einer psychischen Reaktion als Unfallfolge aber nicht aus, weil im Einzelfall nicht von einem „fiktiven Durchschnittsmenschen“ auszugehen ist, sondern von dem konkreten Versicherten in seiner individuellen Besonderheit (BSG, Urteil vom 9. Mai 2006 – B 2 U 1/05 R, SozR 4-2700 § 8 Nr 17, mwN). Eine entsprechende Veranlagung kann zwar als konkurrierende Mitursache neben dem Unfallereignis zu würdigen sein und damit ggf der Bejahung eines wesentlichen Ursachenzusammenhangs zwischen dem Unfallereignis und den psychischen Gesundheitsstörungen entgegenstehen (BSG aaO, mwN). Hier hat die Sachverständige indes nachvollziehbar darauf hingewiesen, dass die Klägerin trotz ihrer ängstlichen Persönlichkeitsstruktur bis zum 28. Dezember 2015 ohne Probleme in der Lage gewesen ist, täglich ihren Arbeits- und Heimweg als Fahrerin ihres Pkw zu bewältigen und dass sich eine Fahrphobie unter den üblichen Umständen des Alltagslebens bei ihr nicht entwickelt hätte. Dass der Unfall vom 28. Dezember 2015 für die Entstehung der Fahrphobie somit von zentraler Bedeutung (im Sinne einer wesentlichen Mitursache) war, ergibt sich nicht zuletzt aus dem damit verbundenen Erleben erheblichen Schreckens (Entgegenkommen eines Fahrzeugs auf der eigenen Fahrbahn, Frontalzusammenstoß, Rettungsdiensteinsatz).
bb) Nicht gefolgt werden kann der Beklagten jedoch, wenn sie die Anerkennung einer „anhaltenden Pkw-Fahrangst (Beharrungszustand)“ als Unfallfolge in ihrem Bescheid vom 20. Dezember 2018 abgelehnt hat.
Schon aus dem der Bescheiderteilung zugrunde liegenden Zusammenhangsgutachten von Dr. U. ergibt sich kein ausreichender Anhaltspunkt für eine Differenzierung zwischen anfänglicher (unfallbedingter) und späterer (unfallunabhängiger) Pkw-Fahrangst. Dass der auf S 65 des Gutachtens vom 28. November 2018 genannte „Beharrungszustand“ wesentlich unfallunabhängig sein soll, kann den Ausführungen der Sachverständigen nicht entnommen werden. Vielmehr ist davon auszugehen, dass Dr. U. mit dem Begriff „Beharrungszustand“ lediglich auf die (auf S 63 des Gutachtens) von ihr festgestellte Chronifizierung der Pkw-Fahrphobie Bezug nimmt. Auf die Entwicklung einer Chronifizierung sollen zwar auch die Persönlichkeitsstruktur der Klägerin bzw von der Sachverständigen angenommene vorbestehende chronifizierte spezifische Phobien „Einfluss genommen haben“. Im Gutachten wird aber an keiner Stelle dargelegt, dass diese unfallunabhängigen Faktoren damit wesentliche Mitursachen der chronifizierten Fahrangst geworden sein sollen. Dass Dr. U. die Fahrphobie vielmehr dauerhaft als Unfallfolge angesehen hat, ergibt sich schon daraus, dass sie die unfallbedingte MdE fortlaufend mit 10 vH eingeschätzt und damit gerade keine Unterscheidung zwischen Anfangsphase und „Beharrungszustand“ getroffen hat.
Anders als der die Beklagte beratende Psychologe Dipl.-Psych. AB. in seiner Stellungnahme vom 16. Januar 2023 meint, ist Dr. U. in Hinblick auf die Fahrphobie auch nicht von einer „Verschiebung der Wesensgrundlage“ ausgegangen. Eine solche nimmt sie vielmehr nur bezogen auf die depressive Episode der rezidivierenden depressiven Störung an (S 65 des Gutachtens vom 28. November 2018), die sie inzwischen (ua) auf die gescheiterte berufliche Wiedereingliederung zurückführt (S 64 des Gutachtens). Unabhängig davon kann eine Verschiebung der Wesensgrundlage nach der überzeugenden aktuellen Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 6. Oktober 2020 – B 2 U 10/19 R, SozR 4-2700 § 73 Nr 2) ohnehin nur dann bejaht werden, wenn im jeweiligen gesundheitlichen Sachverhalt tatsächliche Änderungen eingetreten und eindeutig festgestellt sind. Bleiben die gesundheitlichen Normabweichungen dagegen über längere Zeit gleich, kann allein der Hinweis auf den Zeitablauf die Annahme einer Auswechslung der Verursachungsfaktoren nicht rechtfertigen (BSG aaO, Rn 28 f; die von der Beklagten demgegenüber angeführte ältere Rechtsprechung, insbesondere das BSG-Urteil vom 31. Januar 1962 – 10 RV 955/58, juris <wonach eine Änderung des Leidensbildes nicht erforderlich sein sollte>, ist damit überholt). Der Umstand, dass die Angstsymptomatik der Klägerin sich nicht veränderbar und therapieresistent gezeigt hat, gibt deshalb für die Annahme einer Verschiebung der Wesensgrundlage nichts her. Soweit Dipl.-Psych. AB. schließlich ausführt, die gegenwärtig festzustellende „psychische Gesamtverfassung“ gehe symptomatisch über die Fahrphobie hinaus und sei Folge der unfallfremd bestehenden Depression bzw der problematischen Persönlichkeitsakzentuierung, es möge aber ein verbleibender unfallbedingter Störungsanteil festzustellen sein, ist dies für die Feststellung von Unfallfolgen nicht verwertbar. Denn diese hat von den einzelnen, nach einer der internationalen Diagnosesysteme exakt zu diagnostizierenden psychischen Krankheiten auszugehen (BSG-Urteil vom 9. Mai 2006 aaO), die nach Maßgabe der unter 1. angeführten Kausalitätslehre der wesentlichen Bedingung nur einheitlich entweder als Unfallfolge oder als unfallunabhängig zu qualifizieren sind.
Mit der Sachverständigen Dr. AA. ist deshalb davon auszugehen, dass die Fahrangst der Klägerin auch in ihrer nunmehr vorliegenden Chronifizierung Folge des Arbeitsunfalls bleibt. Überzeugend hat die Sachverständige insbesondere in ihrer ergänzenden Stellungnahme vom 2. Mai 2023 dargelegt, dass auch eine sich aus der Persönlichkeitsakzentuierung der Klägerin ergebende Therapieresistenz nicht zur Verneinung der Unfallkausalität führen kann. Denn diese Akzentuierung beinhaltet tief verwurzelte charakterimmanente Eigenschaften, die eine verminderte Kompensationsfähigkeit bedingen und dadurch die Verarbeitung von Ereignissen, die dem jeweiligen Menschen zustoßen, individuell prägen. Wie jeder Versicherte in der gesetzlichen Unfallversicherung ist auch die Klägerin in dieser individuellen Prägung geschützt, wie bereits unter Bezugnahme auf die BSG-Entscheidung vom 9. Mai 2006 (aaO) dargelegt worden ist.
b) Weitere durch den Arbeitsunfall vom 28. Dezember 2015 verursachte Gesundheitsstörungen auf psychischem Gebiet liegen entgegen der Auffassung der Klägerin nicht vor.
aa) Insbesondere kann nicht festgestellt werden, dass sie eine PTBS (ICD-10: F43.1) erlitten hat. Dies ergibt sich aus dem auch insoweit überzeugenden Gutachten von Dr. AA., die dargelegt hat, dass die klar definierten Diagnosekriterien für dieses Krankheitsbild nicht vollständig erfüllt sind. Nach eingehender Exploration der Klägerin hat die Sachverständige schlüssig dargelegt, dass jedenfalls ein Vermeidungsverhalten, das nach Maßgabe des sogenannten C-Kriteriums gemäß ICD-10: F43.1 hierfür zu fordern ist, bei ihr nicht vorliegt, weil sie detailreich, flüssig und umfassend über das Unfallerlebnis berichten konnte. Auch das D-Kriterium (in Gestalt der anhaltenden Wahrnehmung einer erhöhten aktuellen Bedrohung mit <zB> erhöhter Wachsamkeit oder einer verstärkten Schreckreaktion auf Reize) ist zu verneinen. Zwar liegen Berichte bzw Beobachtungen (ua) über hyperaktive Gedanken und innere Anspannung vor, hierbei handelt es sich nach der sachkundigen Einschätzung Dr. AC. aber um persönlichkeitsimmanente Merkmale, die nicht traumabedingt sind.
Damit bestätigt die gerichtliche Sachverständige das Ergebnis der im Verwaltungsverfahren gehörten Dr. U., die nach der Anamneseerhebung ebenfalls die Beschwerdesymptomatik einer PTBS verneint hat. Soweit demgegenüber in einzelnen Behandlungsberichten (zB dem des S. Zentrums für Verhaltensmedizin in T. <vom 26. Juli 2018>) die Diagnose einer PTBS gestellt worden ist, vermag dies nicht zu überzeugen, weil eine eingehendere Analyse der hierfür erforderlichen Diagnosekriterien dort nicht erstellt worden ist.
bb) Auch eine bei der Klägerin diagnostizierte rezidivierende depressive Störung mit mittelgradigen und schweren Episoden (ICD-10: F33.4) kann – mit Ausnahme der bescheidmäßig als Unfallfolge anerkannten vorübergehenden Verschlimmerung, die vor dem hier streitigen Zeitraum einer Rentengewährung bestand – nicht als Unfallfolge festgestellt werden. Die Sachverständige Dr. AA. hat insoweit plausibel dargelegt, dass dieses Krankheitsbild – das sich im Zeitpunkt der Begutachtung bereits zurückgebildet hatte -, schon vor dem Arbeitsunfall wiederholt manifest geworden war und auf die Persönlichkeitsakzentuierung der Klägerin zurückzuführen ist. Das gleiche gilt für die Dysthymia (ICD-10: F34.1), die in den Intervallen zwischen den depressiven Episoden verbleibt.
cc) Weitere – von Dr. U. angenommene – phobische Erkrankungen liegen schließlich nicht vor. Dr. U. hat zwar von Ängsten der Klägerin vor Dunkelheit, Menschenmengen, Höhe, Fahrstühlen und Erkrankungen berichtet. Nähere Darlegungen dazu, dass diese Ängste die Schwelle zum Pathologischen überschritten haben, können ihrem Gutachten aber nicht entnommen werden. Dr. AA. weist insoweit plausibel darauf hin, dass es sich hierbei nur um leichtergradige Ängste handelt, die nicht die Kriterien spezifischer phobischer Störungen erfüllen.
3. Die bei der Klägerin dauerhaft vorliegende Fahrphobie führt zu einer – rentenberechtigenden – MdE iHv 20 vH.
Auch dies ergibt sich zur Überzeugung des Senats aus dem Gutachten von Dr. AA.. Die Sachverständige hat nachvollziehbar dargelegt, dass die Klägerin phobische Ängste vor der Teilnahme am regulären Straßenverkehr hat. Aufgrund dieser hochgradigen Ängste ist sie ausnahmslos und ohne Beschränkung auf bestimmte Verkehrssituationen nicht in der Lage, ein Fahrzeug im Straßenverkehr selbstständig zu steuern. Selbst das Mitfahren in einem von einer anderen Person gesteuerten Fahrzeug ist für sie deutlich angstbesetzt. Diese Angst kann auch nicht – wie Dr. U. meint – durch eine vermehrte Willensanstrengung überwunden werden. Dr. AA. hat insoweit plausibel darauf hingewiesen, dass die Fahrphobie dafür zu stark ausgeprägt ist. Diese Einschätzung ist schon angesichts der zahlreichen vergeblichen Bemühungen überzeugend, die Klägerin durch Fahrtraining bzw therapeutisch begleitete Fahrstunden wieder ans Autofahren zu gewöhnen. Auch der Nervenarzt Dr. Z. hatte im Übrigen in seinem – von Dr. Y. vorgelegten – Gutachten vom 3. Oktober 2018 eine unüberwindliche Phobie bezüglich der Benutzung eines PKW bestätigt.
Wenn die Sachverständige die hierdurch bedingte MdE auf 20 vH schätzt, steht dies mit den unfallmedizinischen Erfahrungswerten in Übereinstimmung. Danach hängt bei spezifischen Phobien, die auf eine eng begrenzte Situation beschränkt sind – wie im vorliegenden Fall der Fahrphobie: die Beschränkung auf das Fahren mit dem Pkw -, die Höhe der MdE davon ab, in welchem Umfang die angstauslösende Situation für die Arbeitswelt bestimmend ist. Bei Situationen, die für die Arbeitswelt wenig bedeutend sind (zB bei einer Flugangst), ist eine MdE von 0 bis 10 vH angemessen, bei zentralen Situationen der allgemeinen Arbeitswelt dagegen eine solche bis 30 vH (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Aufl 2017, S 171; Mehrhoff/Ekkernkamp/Wich, Unfallbegutachtung, 14. Aufl 2019, S 323).
Die Fähigkeit, Wege mit dem selbst gesteuerten Pkw zurückzulegen, ist in der Arbeitswelt aber von zentraler Bedeutung. Zum einen gehört das Autofahren als unverzichtbarer Bestandteil zu einer großen Zahl von Berufen. Hierzu zählen zunächst alle Berufe, die der Beförderung von Menschen oder Waren dienen, also zB Taxifahrer, Busfahrer, Lkw-Fahrer, Paketzusteller, Warenauslieferer, Mitarbeiter von Bringdiensten, Kuriere etc; weiterhin Beschäftigungen, bei denen das flexible Erreichen unterschiedlicher Einsatzorte erforderlich ist, wie zB bei ambulanten Pflegediensten, Rettungsdiensten, Polizei und Wachdiensten, in der Landwirtschaft, bei Handwerkern oder in der Baubranche oder bei allen Tätigkeiten mit externem Kundendienst; schließlich das große Feld kaufmännischer Tätigkeiten mit Geschäftsreisen und Außendienst (Vertreter). Die Beklagte, die vom Senat auf diese Berufsbilder mit Verfügung vom 29. November 2022 hingewiesen worden ist, hat Einwände hiergegen nicht erhoben. Die große Bedeutung entsprechender Betriebswege ergibt sich ergänzend auch aus dem Ergebnisbericht der vom Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur im Jahr 2017 durchgeführten Studie „Mobilität in Deutschland – MiD“ (abrufbar unter https://bmdv.bund.de/SharedDocs/DE/Anlage/G/mid-ergebnisbericht.pdf). Danach führt an einem mittleren Werktag etwa ein Zehntel der Berufstätigen einen dienstlichen Weg durch, wobei im Mittel an einem Tag mit einem solchen Weg 80 Kilometer erbracht werden; 16 vH der Berufstätigen führen an einem Werktag regelmäßige berufliche Wege (als Paketzusteller, Taxifahrer, Pflegedienstmitarbeiter oÄ) durch (Ergebnisbericht S 103 f). Dass die dabei erforderlichen Wege in der Regel nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurückgelegt werden können, bedarf keiner näheren Begründung.
Zum anderen kann ein erheblicher Teil der im Arbeitsleben Beschäftigten ihren Arbeitsplatz in zumutbarer Zeit nur mit dem Pkw erreichen. Wenn die Beklagte bzw Dipl.-Psych. AB. darauf hinweisen, dass auch andere Möglichkeiten bestünden, den Arbeitsweg zurückzulegen, zB mit öffentlichen Verkehrsmitteln, ist dem – auch in Übereinstimmung mit den Ausführungen von Dr. AA. – entgegenzuhalten, dass es insbesondere in ländlichen Gegenden häufig öffentliche Verkehrsmittel in ausreichender Zahl oder Frequenz nicht gibt. Auch die Möglichkeit, zu Hause zu arbeiten (Home Office), beschränkt sich in der Regel auf Bürotätigkeiten und hat auch dort Arbeitswege nur zum Teil entbehrlich gemacht. Auf die individuelle Situation der Klägerin kommt es dabei nicht an, weil die MdE-Schätzung nach § 56 Abs 2 S 1 SGB VII abstrakt aufgrund der Verhältnisse auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens vorzunehmen ist.
Insbesondere der Vergleich mit der Flugangst, die eine in der Arbeitswelt erheblich seltenere Situation betrifft und nach den oa unfallmedizinischen Erfahrungswerten (Schönberger/Mehrtens/Valentin aaO; Mehrhoff/Ekkernkamp/Wich aaO) mit einer MdE iHv 0 bis 10 vH einzustufen ist, zeigt danach, dass der völlige Ausfall der Fähigkeit, ein Kfz zu führen, praktisch von erheblich größerer Bedeutung ist und deshalb eine MdE iHv 20 vH bedingt. Eine noch höhere MdE – von 30 vH – muss demgegenüber auf Phobien beschränkt bleiben, die sich auf noch häufigere Arbeitssituationen beziehen, etwa bei einer Angst vor geschlossenen Räumen (Klaustrophobie).
Wenn die Beklagte auf anderslautende Gerichtsentscheidungen hinweist, die von einer MdE von 10 vH ausgegangen sind (SG Landshut, Urteil vom 5. März 2013 – S 15 U 304/12 FdV; Hessisches LSG, Urteil vom 25. März 2014 – L 3 U 207/11; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 20. Oktober 2022 – L 10 U 3619/20; alle juris), können diese den Senat nicht überzeugen. Denn eine nähere Untersuchung der praktischen Bedeutung einer Fahrphobie für das Arbeitsleben und eine darauf aufbauende Einordnung in die oa Kategorien für die MdE-Bewertung ist dort unterblieben.
4. Der sich daraus ergebende Anspruch auf Gewährung einer Rente beginnt mit dem 1. Juli 2018, nachdem der Anspruch auf Verletztengeld am 30. Juni 2018 geendet hatte (§ 72 Abs 1 Nr 1 SGB VII).
III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs 1 SGG.
Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs 2 SGG), sind nicht ersichtlich.