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Beendigung der Verletztengeldzahlung durch Unfallversicherungsträger – Voraussetzungen

Verletztengeld: Voraussetzungen für Beendigung durch Unfallversicherungsträger

Das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen hat in seinem Urteil vom 19.06.2023 entschieden, dass die Klägerin, eine aufgrund eines Arbeitsunfalls verletzte Verkäuferin, Anspruch auf die Fortzahlung von Verletztengeld über den 29. Juni 2018 hinaus bis zum 13. Januar 2019 hat. Das Gericht hob das vorherige Urteil des Sozialgerichts Aurich auf und änderte den Bescheid der Unfallversicherungsträgerin entsprechend ab. Die Revision wurde nicht zugelassen.

Weiter zum vorliegenden Urteil Az.: L 14 U 19/22   >>>

Das Wichtigste in Kürze


Die zentralen Punkte aus dem Urteil:

  1. Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Aurich: Das Landessozialgericht hebt das Urteil auf und ändert den Bescheid der Unfallversicherungsträgerin ab.
  2. Fortzahlung des Verletztengeldes: Die Klägerin hat Anspruch auf Verletztengeld über den 29. Juni 2018 hinaus bis zum 13. Januar 2019.
  3. Unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit: Die Klägerin war aufgrund der Folgen ihres Arbeitsunfalls durchgehend arbeitsunfähig.
  4. Kein Anspruch auf Übergangsgeld: Ein Anspruch auf Übergangsgeld für die Klägerin bestand ab Juni 2018 nicht.
  5. Prüfung der Voraussetzungen: Die Voraussetzungen für die Beendigung des Verletztengeldes nach § 46 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 SGB VII waren erfüllt.
  6. Keine qualifizierten LTA-Maßnahmen: Die Klägerin hat keine qualifizierten Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben in Anspruch genommen.
  7. Prognoseentscheidung: Die Beklagte traf eine fehlerhafte Prognoseentscheidung, die später korrigiert wurde.
  8. Kostenentscheidung und keine Revision: Die Klägerin hat Anspruch auf Erstattung der Hälfte ihrer außergerichtlichen Kosten. Eine Revision wird nicht zugelassen.

Rechtliche Auseinandersetzungen um Verletztengeld

In der Welt des Sozialrechts sind Fragen zur Verletztengeldzahlung oft ein zentraler Diskussionspunkt. Insbesondere dann, wenn Unfallversicherungsträger in die Pflicht genommen werden, ist die genaue Betrachtung der Voraussetzungen für die Gewährung dieser Leistungen unerlässlich. Das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen steht dabei häufig im Fokus, wenn es um richtungsweisende Entscheidungen geht. Hierbei spielen sowohl die Position der Klägerin als auch die des Unfallversicherungsträgers und deren jeweilige Berufung eine wesentliche Rolle.

Die Frage, unter welchen Umständen Verletztengeld gewährt oder eingestellt wird, erfordert eine genaue Betrachtung der individuellen Umstände des Falles. Die juristische Auseinandersetzung in diesem Bereich ist oft geprägt von komplexen medizinischen Gutachten und einer detaillierten Analyse der Arbeitsfähigkeit der betroffenen Person. Es geht um mehr als nur die Interpretation trockener Paragrafen – es geht um das Wohl und die Absicherung von Menschen nach einem Arbeitsunfall.

Der folgende Text gibt Einblick in ein konkretes Urteil, das exemplarisch die Herausforderungen und Feinheiten in der Handhabung solcher Fälle beleuchtet. Erfahren Sie, wie das Gericht in einem spezifischen Fall entschieden hat und welche Lehren daraus für ähnliche Fälle im Sozialrecht gezogen werden können. Tauchen Sie ein in die Welt des Sozialrechts, wo juristische Expertise und menschliches Schicksal aufeinandertreffen.

Der Unfall und seine Folgen: Eine komplexe juristische Auseinandersetzung

Ein Arbeitsunfall im November 2016 setzte eine Reihe von Ereignissen in Gang, die schließlich vor dem Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen endeten. Die betroffene Klägerin, eine angelernte Verkäuferin, erlitt auf dem Weg zur Arbeit einen schweren Unfall, der zu einer langwierigen medizinischen Behandlung führte. Ihre Verletzungen, darunter eine Keilfraktur der Femurdiaphyse und eine Schienbeinhalsfraktur, erforderten eine operative Versorgung und eine umfangreiche Nachbehandlung, einschließlich mehrerer Rehabilitationsmaßnahmen. Während dieser Zeit erhielt die Klägerin Verletztengeldzahlungen von der AOK, welche von der beklagten Unfallversicherung übernommen wurden.

Streitpunkt Verletztengeld: Die Auseinandersetzung mit dem Unfallversicherungsträger

Die zentrale Streitfrage drehte sich um die Fortführung der Verletztengeldzahlungen. Die Beklagte, der Unfallversicherungsträger, stellte die Zahlungen ein, da sie annahm, dass der Fall der Klägerin nach § 46 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 SGB VII (Siebtes Buch Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Unfallversicherung) als „78-Wochen-Fall“ zu behandeln sei. Demnach endet das Verletztengeld mit Ablauf der 78. Woche nach Beginn der Arbeitsunfähigkeit. Die Klägerin widersprach dieser Entscheidung und führte an, dass weitere Heilbehandlungen nötig seien und eine Wiederaufnahme ihrer Tätigkeit als Verkäuferin möglich erscheine.

Gerichtliche Entscheidung: Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen greift ein

Das Sozialgericht Aurich wies die Klage der Verkäuferin zunächst ab, basierend auf der Einschätzung, dass mit einer Wiedererlangung ihrer Arbeitsfähigkeit für eine Tätigkeit als Verkäuferin nicht zu rechnen sei. Die Klägerin legte jedoch Berufung ein, woraufhin das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen das Urteil des Sozialgerichts Aurich aufhob und die Beklagte dazu verurteilte, das Verletztengeld über den 29. Juni 2018 hinaus bis zur Bekanntgabe des Abhilfebescheids am 13. Januar 2019 zu gewähren.

Juristische Feinheiten und die Rolle der medizinischen Gutachten

Die juristische Entscheidungsfindung des Landessozialgerichts basierte auf einer detaillierten Analyse der medizinischen Gutachten und Berichte. Diese zeigten, dass die Klägerin weiterhin arbeitsunfähig war und nur leichte körperliche Arbeitstätigkeiten möglich waren. Das Gericht erkannte an, dass die ursprüngliche Prognoseentscheidung der Beklagten fehlerhaft war und korrigiert werden musste. Die Entscheidung des Gerichts berücksichtigte die umfassende medizinische und berufliche Situation der Klägerin und verdeutlichte die Notwendigkeit einer individuellen Bewertung in solchen Fällen.

Das vorliegende Urteil zeigt die Komplexität der Fälle, die sich aus Arbeitsunfällen ergeben können, und unterstreicht die Bedeutung einer sorgfältigen juristischen und medizinischen Beurteilung. Es beleuchtet auch die Rolle der Sozialgerichte bei der Überprüfung von Entscheidungen der Unfallversicherungsträger und betont die Wichtigkeit des Zugangs zu qualifizierter rechtlicher Vertretung für Betroffene. Dieser Fall dient als wichtiges Beispiel für die rechtlichen Herausforderungen, die sich aus der Beendigung von Verletztengeldzahlungen ergeben, und bietet wertvolle Einblicke in die juristische Praxis im Sozialrecht.

Wichtige Begriffe kurz erklärt


Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, um Verletztengeld von einem Unfallversicherungsträger zu erhalten?

Um Verletztengeld von einem Unfallversicherungsträger in Deutschland zu erhalten, müssen bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein.

Erstens muss die versicherte Person infolge eines Versicherungsfalls, das heißt eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit, arbeitsunfähig sein oder wegen einer Heilbehandlung eine ganztägige Erwerbstätigkeit nicht ausüben können.

Zweitens muss die versicherte Person unmittelbar vor Beginn der Arbeitsunfähigkeit oder der Heilbehandlung Anspruch auf Arbeitsentgelt, Arbeitseinkommen, Krankengeld, Pflegeunterstützungsgeld, Verletztengeld, Versorgungskrankengeld, Übergangsgeld, Unterhaltsgeld, Kurzarbeitergeld, Arbeitslosengeld, nicht nur darlehensweise gewährtes Bürgergeld nach § 19 Absatz 1 Satz 1 des Zweiten Buches oder nicht nur Leistungen für Erstausstattungen für Bekleidung bei Schwangerschaft und Geburt nach dem Zweiten Buch oder Mutterschaftsgeld gehabt haben.

Das Verletztengeld wird von dem Tag an gezahlt, ab dem die Arbeitsunfähigkeit ärztlich festgestellt wird. Wegen der vorrangigen Lohn- oder Gehaltsfortzahlung beginnt die Zahlung des Verletztengeldes in der Regel erst mit der 7. Woche der Arbeitsunfähigkeit. Die Zahlungen enden mit dem letzten Tag der Arbeitsunfähigkeit, bzw. mit dem Beginn der Zahlung von Übergangsgeld.

Die Höhe des Verletztengeldes ist in § 47 SGB VII geregelt und entspricht in der Regel dem Nettoeinkommen des Versicherten. Allerdings reduziert sich der Anspruch aus dem Verletztengeld in der Praxis deutlich, da von dem Verletztengeld noch die regelmäßig anfallenden Beiträge für die Sozialversicherung abgezogen werden.

Der zuständige Unfallversicherungsträger ist der Ansprechpartner für das Verletztengeld. Sind die Voraussetzungen erfüllt, so erfolgt eine Auszahlung des Geldes für einen Maximalzeitraum von 78 Wochen.

Sollte die Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers für einen längeren Zeitraum als drei Tage anhalten, so muss der Arbeitgeber die Meldung an den Unfallversicherungsträger vornehmen.

Während der Dauer der Verletztengeldzahlung werden die Beiträge für Pflege- sowie Krankenversicherung der vollen Höhe nach von dem Unfallversicherungsträger übernommen. Den hälftigen Beitrag von der Renten- sowie Arbeitslosenversicherung muss die versicherte Person tragen.


Das vorliegende Urteil

Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen – Az.: L 14 U 19/22 – Urteil vom 19.06.2023

Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Aurich vom 25. Januar 2022 aufgehoben und der Bescheid der Beklagten vom 22. Mai 2018 in der Gestalt des Teilabhilfebescheides vom 10. Januar 2019 und des Widerspruchsbescheides vom 16. Januar 2019 abgeändert.

Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin über den 29. Juni 2018 hinaus bis zum 13. Januar 2019 (Bekanntgabe des Abhilfebescheides) Verletztengeld zu gewähren. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin zur Hälfte.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Klägerin einen Anspruch auf Gewährung von Verletztengeld über den 29. Juni 2018 hinaus hat.

Die P. geborene und damals als angelernte Verkäuferin bei der Q. R. GmbH & Co KG tätige Klägerin erlitt am 30. November 2016 auf dem Weg zur Arbeit mit dem Fahrrad einen Unfall, als sie auf Glatteis wegrutschte und auf die Bordsteinkante fiel (Durchgangsarztbericht vom 30. November 2017 sowie Unfallanzeige vom 2. Dezember 2016). Hierbei zog sie sich eine Keilfraktur der Femurdiaphyse (größter mittlerer Teil des Oberschenkelknochens) mit Schienbeinhalsfraktur rechts zu, die im Rahmen eines stationären Aufenthalts im S. -Hospital T. vom 30. November 2016 bis 7. Dezember 2016 operativ mit Osteosynthesematerial vorsorgt wurde (Bericht vom 7. Dezember 2016). Hieran schloss sich eine langwierige ambulante Behandlung der Klägerin an (u.a. Berufsgenossenschaftliche Stationäre Weiterbehandlung – BGSW – vom 7. März 2017 bis 28. März 2017 im Reha-Zentrum U., Abschlussbericht vom 28. März 2017; Behandlung durch Dr. V., Krankenhaus W. mit dortigem Schraubenwechsel; erneute BGSW danach vom 27. September 2017 bis 25. Oktober 2017 im Reha-Zentrum U. mit ausführlichem Krankheitsbericht vom 25. Oktober 2017; Beginn einer Arbeits- und Belastungserprobung ab dem 2. Januar 2018, die die Klägerin nach bereits zwei Tagen am 8. Januar 2017 wegen zu hoher Belastung und Schmerzen im Bereich der Nagelstelle abbrach; erneuter stationärer Aufenthalt von 1. Februar 2018 bis 5. Februar 2018 im Krankenhaus W. zur Metallentfernung mit dortiger Diagnose eines kleinen medialen Bandscheibenvorfalls –BSV- im Segment L3/4 sowie einer Bandscheibenprotrusion im Segment L5/S1 nach Kernspintomographie vom 28. Februar 2018, der nicht als Traumafolge angesehen wurde und Veranlassung einer neurologischen Untersuchung durch den Neurologen X., Berichte vom 26. April 2018 und 31. Januar 2019).

Die Klägerin erhielt ab dem 30. November 2016 von der AOK Y. Verletztengeldzahlungen zu Lasten der Beklagten im Rahmen des Verletztengeld-Generalauftrags sowie eines Einzelauftrags. In der Berechnung des Verletztengeldes berücksichtigte die AOK dabei Einkünfte der Klägerin aus zwei weiteren geringfügigen Beschäftigungen (Z. AA. GmbH als Hilfsarbeiterin in der Produktion und AB. Verbrauchermarkt als angelernte Verkäuferin).

Noch bevor die Klägerin sich entsprechend des erstellten Reha-Plans in eine weitere BGSW-Maßnahme begab, hörte die Beklagte diese mit Schreiben vom 26. April 2018 zu einer beabsichtigten Einstellung des Verletztengeldes an, weil es sich laut Bericht des PD Dr. AC. /Dr. V. vom 11. April 2018 und interner Aktenvermerke vom 24. April 2018/25. April 2018 grundsätzlich im Falle der Klägerin um einen „78.Wochen-Fall“ (§ 46 Abs. 3 Nr. Satz 2 Nr. 3 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Unfallversicherung (SGB VII) handele (Beginn: 30. November 2016, Ablauf: 30. Mai 2018) und stellte mit Bescheid vom 22. Mai 2018 die Gewährung des Verletztengeldes mit Ablauf des 29. Mai 2018 ein.

Hiergegen erhob die Klägerin mit Schreiben vom 3. Juni 2018 Widerspruch und verwies zur Begründung auf die seit dem 4. Juni 2018 begonnene BGSW-Maßnahme.

Diese fand vom 4. Juni 2018 bis 29. Juni 2018 im Diakoverse AD., AE., statt (Abschlussbericht vom 4. Juli 2018 mit Arbeitstherapeutischer Leistungsanalyse vom 26. Juni 2017/27. Juni 2018) und ergab, dass der Klägerin eine Wiederaufnahme ihrer Tätigkeit als Verkäuferin nicht möglich sei. Es bestünden weiterhin Taubheitsgefühle in der Großzehe sowie Schmerzen in der Hüfte.

Die Beklagte nahm daraufhin dann die Verletztengeldzahlung ab dem 30. Mai 2018 vorläufig und unter dem Vorbehalt der Rückforderung wieder auf (Schreiben vom 25. Juli 2018) und führte über ihren Reha-Berater am 18. Juli 2018 ein ausführliches Gespräch mit der Klägerin über die (Nicht-)Gewährung von qualifizierten Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (LTA), weil die Klägerin keinen Schul- und Berufsabschluss besitze und auch lediglich eine angelernte Tätigkeit (drei Tätigkeiten auf 450,–Euro-Basis) ausgeübt habe sowie keinen Führerschein besitze (Bericht vom 26. Juli 2018). Die Beklagte gewährte der Klägerin deshalb Hilfen zur Erlangung eines neuen Arbeitsplatzes, indem sie das Bildungswerk der AF. gGmbH (AG.), AH. wegen einer von der Klägerin zunächst gewünschten Qualifizierung zur Kosmetikerin sowie der Vermittlung einer Arbeitsstelle einschaltete. Die Vermittlung verlief allerdings erfolglos, weil die Klägerin sich nicht mehr meldete, woraufhin die Beklagte die Betreuung zum 20. Dezember 2018 einstellte (Bericht des AG. vom 28. November 2018). Die Klägerin teilte der Beklagten dann zwar mit Schreiben vom 1. Juli 2019 ihre Bereitschaft zur Teilnahme einer Ausbildung als Kosmetikerin mit, allerdings kam diese ebenfalls nicht zustande, weil die Klägerin erforderliche Zeugnisse nicht einreichte (Vermerk vom 2. September 2022).

Mit Schreiben vom 16. August 2018 teilte die Beklagte der Klägerin dann mit, dass sie beabsichtige, die Verletztengeldzahlung ab dem 29. Juni 2018 (= letzter Tag der stationären BGSW-Maßnahme in AE.) einzustellen.

Die Klägerin verwies hingegen darauf, dass eine Prognoseentscheidung noch nicht getroffen worden sei und deshalb weiterhin ein Anspruch auf Gewährung von Verletztengeld bestehe (Schreiben vom 10. September 2018).

Mit Teilabhilfebescheid vom 10. Januar 2019 (siehe auch Vermerk von 3. Januar 2019), der Klägerin per Postzustellungsurkunde am 12. Januar 2019 zugestellt, nahm die Beklagte ihren Bescheid vom 22. Mai 2018 teilweise zurück und stellte die Verletztengeldzahlung mit Ablauf des 29. Juni 2018 ein.

Mit Widerspruchsbescheid vom 16. Januar 2019 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin zurück.

Mittlerweile hatte die Beklagte bereits Begutachtungen der Klägerin zur Feststellung der in diesem Verfahren nicht streitgegenständlichen Rentenleistungen veranlasst (Dr. AI., chirurgisches Gutachten vom 15. Oktober 2018, Einschätzung einer Minderung der Erwerbsfähigkeit – MdE- um 20 v.H.) und mit Bescheid vom 5. Dezember 2018 der Klägerin ab dem 30. Juni 2018 (= Ende der Verletztengeldzahlung) Rentenleistungen auf Grundlage einer MdE um 20 v.H. bewilligt. Ferner bezeichnete sie die Unfallfolgen sowie unfallunabhängigen Erkrankungen (u.a. BSV sowie Bandscheibenvorwölbung).

Weitere Begutachtungen veranlasste die Beklagte im Verlauf des Widerspruchsverfahrens, weil eine bei der Klägerin festgestellte Innenrotationsfehlstellung des Knies als weitere Unfallfolge in Betracht kam (chirurgisches Gutachten von Dr. AJ. /Dr. AK. vom 21. Februar 2019 mit einer Einschätzung der MdE um 20 v.H.; neurologisches Gutachten des Dr. AL. vom 26. August 2019 mit einer Einschätzung der MdE um 10 v.H. sowie einer als Unfallfolge anzusehenden Läsion des Nervus Peronäus sowie Nervus cutaneus femoris lateralis; Gesamt-MdE-Einschätzung laut Stellungnahme von Prof. Dr. AM. /Dr. AJ. /Dr. AK. vom 30. September 2019 um 20 v.H.). Mit Bescheid vom 6. November 2019 bewilligte die Beklagte der Klägerin dann Rentenleistungen auf unbestimmte Zeit in gleicher Höhe.

Das von der Klägerin beim Sozialgericht Aurich geführte Klageverfahren (S 3 U 25/20) verlief insofern erfolgreich, als das SG mit Urteil vom 25. Januar 2021 die dort streitgegenständlichen Bescheide abgeändert und weitere Unfallfolgen festgestellt hat; die auf höhere Rentenleistungen gerichtete Klage hingegen hat das SG abgewiesen. Das Berufungsverfahren L 14 U 20/20 hat die Klägerin in einem am 15. März 2023 durchgeführten Erörterungstermin mit Sachverständigen durch Berufungsrücknahme beendet.

Gegen die Beendigung der Verletztengeldzahlung mit Ablauf des 29. Juni 2018 hat die Klägerin ebenfalls Klage beim SG Aurich erhoben, die sie im Wesentlichen dahingehend begründet hat, dass weitere Maßnahmen der Heilbehandlung zum Wiedereintritt der Arbeitsfähigkeit für die zuletzt ausgeübte Tätigkeit möglich und mit einer Wiederaufnahme der Tätigkeit als angelernte Verkäuferin zu rechnen sei.

Die Beklagte hat sich auf die Einschätzungen der im Verfahren eingeholten Gutachten bezogen, wonach die eigene Prognoseentscheidung bestätigt worden sei. Durch weitere Maßnahmen der Heilbehandlung sei danach mit dem Wiedereintritt der Arbeitsfähigkeit für die zuletzt ausgeübte Tätigkeit als angelernte Verkäuferin und Kassiererin aufgrund der Folgen des Arbeitsunfalls nicht mehr zu rechnen. Ergänzend hierzu hat die Beklagte eine Stellungnahme ihrer beratenden Ärztin Dr. AN. vom 26. November 2019 zum Verfahren gereicht.

Das SG hat das im Parallelverfahren zur Rentenfeststellung von Amts wegen eingeholte Sachverständigengutachten des Dr. AO., Chirurg/Unfallchirurg, vom 14. September 2020 zum Verfahren beigezogen und mit Urteil vom 25. Januar 2022 die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es zusammengefasst ausgeführt, dass sich die Beklagte im Rahmen der nach § 46 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 SGB VII erforderlichen Prognoseentscheidung zutreffend auf den Bericht des Dr. V. vom 9. April 2018 bezogen habe, woraus implizit hervorgehe, dass mit einer Wiedererlangung der Arbeitsfähigkeit der Klägerin für eine Tätigkeit als Verkäuferin nicht zu rechnen sei. Dies sei nicht nur durch die Reha-Maßnahme in AE. sowie der dort durchgeführten arbeitstherapeutischen Leistungsanalyse bestätigt worden, sondern auch durch die im weiteren Verwaltungsverfahren eingeholten Gutachten von Dr. AI., Prof. Dr. AP. und Dr. AL. sowie durch das Gutachten des Dr. AO.. Ferner habe die Klägerin als angelernte Verkäuferin keinen Anspruch auf Gewährung von qualifizierenden LTA-Maßnahmen, weil lediglich solche Maßnahmen einen Anspruch auf Übergangsgeld auslösten. Die Beklagte sei berechtigt gewesen, die Verletztengeldzahlung mit dem Ende der Reha-Maßnahme in AE. mit Ablauf des 29. Juni 2019 einzustellen.

Gegen das ihr am 3. Februar 2022 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 2. März 2022 Berufung eingelegt, mit der sie ihr Begehren auf Gewährung von Verletztengeld über den 29. Juni 2019 hinaus weiterverfolgt. Die Klägerin ist der Auffassung, dass eine Beendigung der Verletztengeldzahlung ab dem 30. Juni 2018 nicht möglich sei, weil die Prognoseentscheidung der Beklagten nicht zutreffend sei. Ferner seien ihr – der Klägerin – LTA-Maßnahmen zu bewilligen, weil eine Vermittlung durch das Bildungswerk nicht ausreichend sei.

Die Klägerin beantragt nach ihrem schriftlichen Vorbringen,

1. das Urteil des Sozialgerichts Aurich vom 25. Januar 2022 und den Bescheid der Beklagten vom 22. Mai 2018 in der Gestalt des Teilabhilfebescheides vom 10. Januar 2019 und des Widerspruchsbescheides vom 16. Januar 2019 aufzuheben,

2. die Beklagte zu verurteilen, ihr über den 29. Juni 2018 hinaus Verletztengeld zu gewähren.

Die Beklagte beantragt nach ihrem schriftlichen Vorbringen, die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte beruft sich auf die Begründung ihrer Bescheide sowie die Gründe der erstinstanzlichen Entscheidung. Ergänzend verweist sie auf einen zur Gerichtsakte gereichten Vermerk der zuständigen Reha-Beraterin vom 2. September 2022, dem der genaue Ablauf der Betreuung der Klägerin entnommen werden könne. Die Klägerin habe danach erforderliche beglaubigte und in die deutsche Sprache zu übersetzende Zeugnisse trotz Aufforderungen bisher nicht eingereicht.

Der Senat hat im vorbereitenden Verfahren am 15. März 2023 durch seinen Berichterstatter einen Erörterungstermin durchgeführt, in dem die vorher von Amts wegen mit einer Begutachtung der Klägerin beauftragten Sachverständigen Dr. AQ., Neurologin, AR., und Herr AS., Chirurg, AT., ihre schriftlich erstellten Sachverständigengutachten erstattet und den Beteiligten für Rückfragen zur Verfügung gestanden haben.

Dr. AQ. ist in ihrem am 25. Januar 2023 erstellten Sachverständigengutachten zusammengefasst zum Ergebnis gelangt, dass die Gefühlsstörungen im Bereich des rechten Unterschenkels und der rechten Großzehe mit überwiegender Wahrscheinlichkeit unfallunabhängig seien. Diese seien allerdings, soweit sie das Gebiet des Nervus personeus beträfen, als Unfallfolge anerkannt. Hierfür sei die Einzel-MdE auf neurologischem Fachgebiet ab Dezember 2019 mit 10 v.H. einzuschätzen.

Der Chirurg AS. ist in seinem am 15. März 2023 erstatteten Sachverständigengutachten zum Ergebnis gelangt, dass der Klägerin aus medizinischer Sicht nicht mehr zuzumuten sei, ihrer zuletzt ausgeübten beruflichen Tätigkeit als angelernte Verkäuferin und Mitarbeiterin im Versand wettbewerbsfähig nachzugehen. Das Verletztengeld sei zutreffend mit Abschluss der Reha-Maßnahme in der Klinik AE. eingestellt worden, weil die dort erhobenen Befunde mit der spezifischen Austestung der Leistungsfähigkeit ergeben hätten, dass der Klägerin mittelschwere und schwere Tätigkeiten nicht mehr möglich seien. Damit sei eine Arbeitstätigkeit als Verkäuferin mit nur leichten Tätigkeiten nicht mehr vorstellbar.

Die Klägerin (Schriftsatz vom 1. Juni 2023) sowie die Beklagte (Schriftsatz ebenfalls vom 1. Juni 2023) haben sich mit einer Entscheidung des Senats durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Dem Senat haben außer den Prozessakten die die Klägerin betreffenden Verwaltungsunterlagen der Beklagten sowie die beigezogenen Verfahrensakten L 14 U 20/20 vorgelegen. Alle Akten sind Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Sachvortrags der Beteiligten wird hierauf verwiesen.

Entscheidungsgründe

Der Senat konnte durch Urteil ohne mündliche Verhandlung gemäß §§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG entscheiden, nachdem sich alle Beteiligten hiermit einverstanden erklärt haben.

Die gemäß §§ 143 f. SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin ist zulässig, jedoch nur teilweise begründet.

Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage §§ 54 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Abs. 4 SGG statthaft, weil die Beklagte das der Klägerin gewährte Verletztengeld nicht durch Dauer-Verwaltungsakt, sondern über die Krankenkasse der Klägerin über General- bzw. Einzelauftrag jeweils erst nach Eingang entsprechender Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen bewilligt hat (siehe hierzu Senatsurteile vom Urteil vom 21. November 2019 – Az.: L 14 U 313/18, vom 18. März 2020 – Az.: L 14 U 118/18, Urteil vom 31. August 2021 – Az.: L 14 U 131/20 sowie Beschluss vom 30. Januar 2020 – Az.: L 14 U 101/15 – veröffentlicht unter www.sozialgerichtsbarkeit.de; siehe auch Landessozialgericht Saarland, Urteil vom 10. März 2021 – Az.: L 7 U 17/18 – Rn. 32 – zitiert nach juris sowie Schur in Hauck/Noftz, SGB VII – K § 46 – Rn. 31 m.w.N.; zur statthaften Klageart einer reinen Anfechtungsklage bei Gewährung von Verletztengeld in Form eines Dauerverwaltungsaktes: Senatsurteil vom 20. Februar 2017 – Az. L 14 U 31/15; Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 23. Oktober 2018 – Az.: L 9 U 1730/17 – veröffentlicht jeweils unter www.sozialgerichtsbarkeit.de). Die Klage ist in dem im Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Das SG Aurich hat mit seinem Urteil vom 25. Januar 2022 zu Unrecht die Klage abgewiesen. Der Bescheid der Beklagten vom 22. Mai 2018 in der Gestalt des Teilabhilfebescheides vom 10. Januar 2019 und des Widerspruchsbescheides vom 16. Januar 2019 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 54 Abs. 2 Satz 1 SGG). Die Klägerin hat einen Anspruch auf Gewährung von Verletztengeld über den 29. Juni 2018 hinaus bis zum Zeitpunkt der Bekanntgabe (§ 37 Abs. 5 SGB X i.V.m. § 65 SGB X, § 3 VwZG – Feddern in jurisPK-SGB X, § 65 – Rn. 17 bis 19) des Teilabhilfebescheides vom 10. Januar 2019 am 12. Januar 2019.

Rechtsgrundlage für die mit Bescheid vom 22. Mai 2018 in der Gestalt des Teilabhilfebescheides vom 10. Januar 2019 erfolgte Einstellung des Bewilligung des Verletztengeldes bildet § 46 Abs. 3 Satz 2 SGB VII. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgericht (BSG) in seinem Urteil vom 13. September 2005 (Az. B 2 U 4/04 R, Rn. 40, 41 mit Hinweis auf das Prüfschema von Köllner/Benz in Die BG 2000, Seite 39, 40 – „Das Ende des Verletztengeldanspruchs (§ 46 Abs. 3 SGB VII)“; siehe allgemein auch BSG, Urteil vom 30. Oktober 2007 – Az.: B 2 U 31/06 R), der sich der Senat bereits nach eigener Prüfung angeschlossen hat (Urteil vom 17. Dezember 2012 – Az.: L 14 U 151/10 – veröffentlicht unter www.sozialgerichtsbarkeit.de), hat vor einer Anwendung des § 46 Abs. 3 Satz 2 Ziffer 3 SGB VII auch eine Prüfung der Nummern 1. und 2. des § 46 Abs. 3 Satz 1 SGB VII zu erfolgen (so ausdrücklich Köllner/Benz a.a.O., Seite 40, die ausführen: „Das Eingreifen von § 46 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 SGB VII setzt nicht nur das Vorliegen der zwei Grundvoraussetzungen (kein Wiedereintritt der Arbeitsfähigkeit, keine qualifizierten berufsfördernden Leistungen) voraus, sondern auch die vorherige Prüfung der Fälle in § 46 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 und Nr. 2 SGB VII“).

a. Nach § 46 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 SGB VII endet das Verletztengeld mit dem letzten Tag der Arbeitsunfähigkeit oder der Hinderung an einer ganztägigen Erwerbstätigkeit durch eine Heilbehandlungsmaßnahme. Damit werden die Folgen des Wegfalls der in § 45 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII normierten Grundvoraussetzung für Verletztengeld – unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit – wiederholt (vgl. BSG, Urteil vom 13. September 2005 – Az.: B 2 U 4/04 R – zitiert nach juris). Nach § 46 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB VII endet das Verletztengeld mit dem Tag, der dem Tag vorausgeht, an dem ein Anspruch auf Übergangsgeld besteht.

aa. Die Voraussetzungen des § 46 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 SGB VII lagen hier nicht vor, denn die Klägerin war bis zum Zeitpunkt der angefochtenen Bescheide auf Grund der Folgen ihres Arbeitsunfalls vom 30. November 2016 durchgehend arbeitsunfähig. Dies ergibt sich aus sämtlichen ärztlichen Berichten und ist zwischen den Beteiligten auch unstreitig. Arbeitsunfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls liegt anknüpfend an die Rechtsprechung zu diesem Begriff in der gesetzlichen Krankenversicherung vor, wenn Versicherte aufgrund der Folgen eines Versicherungsfalls nicht in der Lage sind, ihrer zuletzt ausgeübten oder einer gleich oder ähnlich gearteten Tätigkeit nachzugehen (vgl. BSG, Urteil vom 13. August 2002 – Az.: B 2 U 30/01 R – Rn. 14, 5 – zitiert nach juris). Arbeitsunfähigkeit ist danach gegeben, wenn Versicherte ihre zuletzt vor Eintritt des Versicherungsfalls konkret ausgeübte Tätigkeit wegen Krankheit nicht weiter verrichten können (vgl. BSG, Urteil vom 30. Oktober 2007 – Az.: B 2 U 31/06 R – Rn. 12 – zitiert nach juris). Dass sie möglicherweise eine andere Tätigkeit trotz der gesundheitlichen Beeinträchtigung noch ausüben können, ist unerheblich. Geben sie nach Eintritt der Arbeitsunfähigkeit die zuletzt innegehabte Arbeitsstelle beziehungsweise bei selbstständiger Tätigkeit ihre Arbeitstätigkeit auf, ändert sich allerdings der rechtliche Maßstab insofern, als für die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit nicht mehr die konkreten Verhältnisse an diesem Arbeitsplatz maßgebend sind, sondern nunmehr abstrakt auf die Art der zuletzt ausgeübten Beschäftigung abzustellen ist. Versicherte dürfen dann auf gleich oder ähnlich geartete Tätigkeiten verwiesen werden, wobei aber der Kreis möglicher Verweisungstätigkeit entsprechend der Funktion des Kranken- oder Verletztengeldes eng zu ziehen ist.

Für die vom Kläger unmittelbar vor dem Arbeitsunfall ausgeübte Tätigkeit als angelernte Verkäuferin bei Q. bestand nach allen ärztlichen Berichten Arbeitsunfähigkeit.

bb. Der Beendigungstatbestand nach § 46 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB VII kommt nicht in Betracht, da ein Anspruch der Klägerin auf Übergangsgeld (vgl. § 49 SGB VII) ab Juni 2018 nicht entstanden war.

b. Die Beklagte konnte sich grundsätzlich zutreffend auf den Beendigungstatbestand des § 46 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 SGB VII berufen. Nach dieser Vorschrift endet das Verletztengeld, wenn mit dem Wiedereintritt der Arbeitsfähigkeit nicht zu rechnen ist und Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben nicht zu erbringen sind, mit dem Tag, an dem die Heilbehandlung so weit abgeschlossen ist, dass die Versicherten eine zumutbare, zur Verfügung stehende Berufs- oder Erwerbstätigkeit aufnehmen können (Nr. 1), mit Beginn der in § 50 Abs. 1 Satz 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) genannten Leistungen, es sei denn, dass diese Leistungen mit dem Versicherungsfall im Zusammenhang stehen (Nr. 2), im Übrigen mit Ablauf der 78. Woche, gerechnet vom Tag des Beginns der Arbeitsunfähigkeit an, jedoch nicht vor dem Ende der stationären Behandlung (Nr. 3). Dabei kommt das Ende des Verletztengeldanspruches nach Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 erst in Betracht („im Übrigen“), wenn die Beendigungstatbestände der Nrn. 1 und 2 – wie hier – nicht vorliegen (BSG, Urteil vom 13.09.2005 – B 2 U 4/04 R -, a.a.O.).

§ 46 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 SGB VII beinhaltet keine absolute Zeitgrenze. Liegen die Beendigungsvoraussetzungen des § 46 Abs. 3 Satz 2 Nrn. 1 und 2 SGB VII nicht vor, kann das Verletztengeld auch über die 78. Woche hinaus zu zahlen sein (BSG, Urteil vom 30. Oktober 2007 – Az.: B 2 U 31/06 R – Rn. 22 – zitiert nach juris). Das Verletztengeld soll, wie auch das Krankengeld, dem Ersatz von Entgeltausfall oder Ausfall der in § 45 Abs. 1 Nr. 2 SGB VII genannten Entgeltersatzleistungen dienen (BSG, Urteil vom 30. Oktober 2007 – Az.: B 2 U 31/06 R – Rn. 12). Es ist eine Leistung für eine vorübergehende Zeit, sie scheidet daher bei nicht endender Arbeitsunfähigkeit als Leistung auf Lebenszeit aus.

aa. Die Voraussetzung des Beendigungstatbestands nach Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 war im März 2015 nicht erfüllt, da die Klägerin keine der in § 50 Abs. 1 Satz 1 SGB V genannten Leistungen (Rente wegen voller Erwerbsminderung, Vollrente wegen Alters aus der gesetzlichen Rentenversicherung oder ihrer Art nach vergleichbare Leistungen anderer Träger) erhielt.

bb. Die Voraussetzungen des § 46 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 SGB VII waren erfüllt.

(1) Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben waren nicht (mehr) zu erbringen. Die Klägerin hat keine (qualifizierte) Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben in Anspruch genommen.

Umfasst sind von der in dieser Vorschrift genannten „Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben“ nämlich nur „qualifizierte“ Leistungen, die einen Anspruch auf Übergangsgeld nach § 49 SGB VII auslösen. Dies entspricht der ganz überwiegenden Meinung in Rechtsprechung und Literatur (BSG, Urteil vom 13. September 2005 – Az.: B 2 U 4/04 R Rn 41; Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 16. Juni 2020 – Az.: L 16 U 126/17; Schur in Hauck/Noftz, SGB VII, K § 46 Rn. 20; Westermann in jurisPK-SGB VII, § 46 Rn. 38; Köllner in DGUV-Form 2011, Seite 23, 25 – „Die wirtschaftliche Absicherung der Versicherten im Verlauf des einheitlichen Rehabilitationsverfahrens“; a.A. Heinz in SGb 2016, Seite 25, 27 – „Zur Beendigung der Verletztengeldzahlung“). Dies ergibt sich aus dem systematischen Zusammenhang und aus dem Sinn und Zweck der Entgeltersatzleistungen. Als Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben sind nur diejenigen zu verstehen, die auch unter Satz 1 Nr. 2 fallen. Das Verletztengeld soll- wie bereits ausgeführt- nicht für eine unbegrenzte Zeit gezahlt werden. Würde jede Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben gemeint sein, wären die Voraussetzungen für das Ende des Verletztengeldes fast nie erfüllt (Köllner in Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, § 46 SGB VII – Rn 48).

Die Klägerin hat aufgrund eines fehlenden Schul- und Berufsabschlusses von der Beklagten durch Einschaltung des AG. lediglich Hilfen zur Erlangung eines Arbeitsplatzes sowie eine Qualifizierung zur Kosmetikerin erhalten. Letztere hat die Klägerin allerdings nicht angetreten, darüber hinaus hat sie auch die erforderlichen Zeugnisse in übersetzter Form nicht vorgelegt. Die Vermittlung eines leidensgerechten Arbeitsplatzes stellt jedoch keine „qualifizierte“ LTA-Maßnahme dar und löst keinen Anspruch auf Übergangsgeld aus (Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 16. Juni 2020 – Az.: L 16 U 126/17; siehe auch Westermann in jurisPK-SGB VII, § 46 Rn. 38).

(2) Mit einem Wiedereintritt der Arbeitsfähigkeit der Klägerin war nicht zu rechnen. Verfahrensrechtliche Voraussetzung für die Beendigung des Verletztengeldes ist ein Verwaltungsakt, der in Form einer Prognoseentscheidung feststellt, dass mit Wiedereintritt der Arbeitsfähigkeit jedenfalls innerhalb der nächsten 78 Wochen nicht zu rechnen ist, und der die Verletztengeldzahlung beendet (BSG, Urteil vom 13. September 2005 – Az.: B 2 U 4/04 R – Rn. 39, 40 – zitiert nach juris). Das Gericht kann im Klagefall nicht anstelle des Unfallversicherungsträgers eine Prognoseentscheidung treffen (Becker/Burchardt/Krasney/Kruschinsky, Gesetzliche Unfallversicherung, Kommentar, Stand: November 2019, § 46 Rn. 22). Maßgebend für die Prognose sind die Verhältnisse im Zeitpunkt der Verwaltungsentscheidung (BSG, Urteil vom 13. September 2005 – Az.: B 2 U 4/04 R Rn. 42). Die Prognose ist voll gerichtlich überprüfbar. Der Unfallversicherungsträger hat unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles (vgl. BSG, Urteil vom 13. September 2005 – Az.: B 2 U 4/04 R), insbesondere der Art und Schwere der Verletzungen sowie der Auswirkungen auf die Erwerbstätigkeit des Versicherten zu entscheiden, ob mit dem Wiedereintritt der Arbeitsfähigkeit zu rechnen ist (BSG, Urteil vom 13. August 2002 – Az.: B 2 U 30/01 R).

Nach dieser Maßgabe hat die Beklagte zunächst mit Bescheid vom 22. Mai 2018 eine fehlerhafte Prognoseentscheidung getroffen, denn zu diesem Zeitpunkt stand zur Feststellung, ob mit dem Wiedereintritt der Arbeitsfähigkeit der Klägerin in ihrer vor dem Arbeitsunfall ausgeübten geringfügigen Tätigkeit als angelernte Verkäuferin zu rechnen ist, noch eine im Reha-Plan vorgesehene und vereinbarte BGSW-Maßnahme in Bad Münder mit anschließender arbeitstherapeutischer Leistungsanalyse bevor. Diese führte die Klägerin in der Zeit vom 4. Juni 2018 bis 29. Juni 2018 durch, allerdings endete diese mit ihrer weiter bestehenden Arbeitsunfähigkeit. Dass mit Abschluss dieser Reha mit einem Wiedereintritt der Arbeitsfähigkeit der Klägerin für ihre Tätigkeit als Verkäuferin nicht zu rechnen gewesen ist, steht für den Senat aufgrund des Gutachtens des Sachverständigen AS. vom 15. März 2023 fest, welches der Senat gemäß § 118 Abs. 1 Satz 1 SGG in Verbindung mit §§ 402 f. ZPO als Sachverständigenbeweis verwertet hat. Der Sachverständige hat nach Auswertung der Verwaltungs- und Gerichtsakten sowie Erhebung der körperlichen Befunde für den Senat plausibel und nachvollziehbar dargelegt, dass der Klägerin aufgrund der Folgen des Arbeitsunfalls nur noch leichte körperliche Arbeitstätigkeiten möglich und ihr mittelschwere und schwere Arbeiten verschlossen waren und auch weiterhin sind. Nach für den Senat plausibler sachverständiger Einschätzung ist der Klägerin lediglich eine Arbeitstätigkeit mit nur leichten Tätigkeiten möglich. Erschwerend kommt nach den Ausführungen des Sachverständigen AS. hinzu, dass die Klägerin keine Wirbelsäulenzwangshaltungen mehr einnehmen soll und ihr auch knieende Tätigkeiten ebenfalls nicht zumutbar sind. Diese Einschätzung überzeugt den Senat, denn sie steht in Übereinstimmung mit den Ergebnissen der Reha-Maßnahme in AE. sowie dem Ergebnis der dort durchgeführten spezifischen Austestung der Leistungsfähigkeit. Diese haben ebenfalls ergeben, dass der Klägerin eine Tätigkeit als Verkäuferin nicht mehr möglich ist.

Die mit Bescheid vom 22. Mai 2018 bereits mit Ablauf des 29. Mai 2018 rechtswidrig vorgenommene Einstellung des Verletztengeldes hat die Beklagte allerdings mit Teilabhilfebescheid vom 10. Januar 2019 grundsätzlich auch zutreffend korrigiert, denn eine abschließende Prognoseentscheidung kann erst nach Vorliegen aller erheblichen entscheidungserheblichen Tatsachen und deren Würdigung erfolgen (Schur in Hauck/Noftz, § 46 Rn. 18). Eine Korrektur der fehlerhaften Prognoseentscheidung des Ausgangsbescheides war im Rahmen der Durchführung des Widerspruchsverfahrens auch zulässig, denn maßgeblich bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit durch das Gericht ist der Zeitpunkt der Bekanntgabe der letzten behördlichen Entscheidung – hier des Teilabhilfebescheides vom 10. Januar 2019 (so Schur in Hauck/Noftz, § 46 SGB VII – Rn. 18; Ricke in Großkommentar (Kasseler Kommentar), § 46 SGB VII – Rn. 13; Westermann in jurisPK-SGB VII, § 46 Rn. 35; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 20. März 2014 – Az.: L 10 U 2744/12 – Rn. 30 – zitiert nach juris). War das Verletztengeld aufgrund der nunmehr von der Beklagten zutreffend erfolgten Prognose zwingend dem Grunde nach einzustellen, hat sie hingegen in ihrem Teilabhilfebescheid vom 10. Januar 2019 eine Einstellung des Verletztengeldes unzutreffend rückwirkend mit Ablauf des 29. Juni 2018 (Ende der BGSW-Maßnahme in AE.) vorgenommen. Kann im Rahmen einer zukunftsbezogenen Prognose eine Einstellung des Verletztengeldes nicht mit Wirkung für die Vergangenheit vorgenommen werden (so BSG, Urteil vom 13. September 2005 – Az.: B 2 U 4/04 R – Rn. 42 – zitiert nach juris; Schur in Hauck/Noftz, § 46 Rn. 18), muss dies auch für eine im Verlauf des Widerspruchsverfahrens erfolgten Heilung einer fehlerhaften Prognoseentscheidung gelten. Die Heilung der fehlerhaften Prognoseentscheidung konnte demgemäß erst mit Bekanntgabe des Abhilfebescheides erfolgen. Bis zur Bekanntgabe des Teilabhilfebescheides vom 10. Januar 2019, die hier durch die am 12. Januar 2019 der Klägerin zugestellten Postzustellungsurkunde erfolgte (§ 37 Abs. 5 SGB X i.V.m. § 65 SGB X, § 3 VwZG), hat die Klägerin demgemäß einen Anspruch auf Verletztengeld (ggf. unter Anrechnung der bereits erfolgten Rentenleistungen sowie des ggf. bezogenen Arbeitslosengeldes, Krankengeldes usw.). Dies ergibt sich bereits aus folgender Kontrollüberlegung: Hätte die Beklagte richtigerweise zunächst den Eingang des Ergebnisses der ab dem 4. Juni 2018 geplanten BGSW-Maßnahme (mit Durchführung der ebenfalls vorgesehenen Leistungsanalyse) abgewartet, hätte sie auch erst nach Eingang und Auswertung der entsprechenden Berichte (u.a. des Abschlussberichtes vom 4. Juli 2018) einen entsprechenden Verletztengeldeinstellungsbescheid mit Wirkung für die Zukunft erlassen können, also zu einem weit späteren Zeitpunkt, als der Teilabhilfebescheid dies zum Ende der BGSW-Maßnahme am 29. Juni 2018 vorsieht. Insofern waren die streitgegenständlichen Bescheide der Beklagten zu korrigieren und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin bis zur Bekanntgabe des Teilabhilfebescheides am 12. Januar 2019 Verletztengeld weiterzuzahlen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG und berücksichtigt den lediglich teilweisen Erfolg der Klägerin im Hauptsacheverfahren, wonach von einem nur bis zum 12. Januar 2019 begrenzten Anspruch auf Weitergewährung des Verletztengeldes auszugehen ist. Die Klägerin hat demgemäß einen Anspruch auf Erstattung ihrer notwendigen außergerichtlichen Kosten lediglich zur Hälfte.

Es hat kein Anlass bestanden, die Revision zuzulassen.

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