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Bemessung von psychischen Gesundheitsstörungen nach Arbeitsunfall

Landessozialgericht Baden-Württemberg – Az.: L 9 U 1737/21 – Urteil vom 17.10.2022

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 13. April 2021 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind im Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Im Übrigen verbleibt es bei der erstinstanzlichen Kostenentscheidung.

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten streitig ist die Gewährung einer höheren Verletztenrente aufgrund der Folgen eines Arbeitsunfalls vom 17.08.2011.

Der am 1966 geborene Kläger erlernte zunächst den Beruf des Kfz-Mechanikers, absolvierte nach längerer Arbeitslosigkeit eine Umschulung zum Industriekaufmann und übte diesen Beruf über fünf Jahre in einer sozialen Einrichtung aus. Nach selbstständiger Tätigkeit im Bereich der Fahrzeugversiegelung und des Fahrzeughandels übernahm er im Jahr 2007 mit einem Partner den Fitness- und Spa-Bereich in einem H Hotel. Bei einem privaten Autounfall mit dem PKW am 05.07.2008 erlitt der Kläger unter anderem ein HWS-Trauma und beschrieb daraus resultierende anhaltende Rücken- und Kopfschmerzen.

Jeweils auf dem Heimweg von der Arbeitsstätte wurde der Kläger in den späten Abendstunden am 14.07.2009 und am 17.08.2011 auf der Straße vor seiner in unmittelbarer Nähe des Arbeitsplatzes gelegenen Wohnung in der H Weststadt überfallen und niedergeschlagen.

Beim ersten tätlichen Angriff am 14.07.2009 wurde der Kläger nach eigenen Angaben auf dem Weg vom Parkplatz zu seiner Wohnung von hinten angegriffen und ins Gesicht geschlagen, sodann wurde ihm auf dem Boden liegend mit dem beschuhten Fuß mehrfach heftig ins Gesicht, den Brustkorb und Arme getreten. Er erlitt dabei unter anderem einen Jochbeinbruch, eine Gehirnerschütterung, Platzwunden und Hämatome im Gesicht sowie Schürfwunden an den Knien und Ellenbogen.

Bemessung von psychischen Gesundheitsstörungen nach Arbeitsunfall
(Symbolfoto: myboys.me/Shutterstock.com)

Im Rahmen eines wegen des ersten tätlichen Angriffs durchgeführten Verfahrens wegen Beschädigtenversorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) wurde auf Veranlassung des Versorgungsamts ein Gutachten bei L eingeholt. Dieser führte aufgrund einer Untersuchung des Klägers am 27.04.2011 unter dem 26.08.2011 aus, spätestens seit Ende 2008 liege bei diesem eine somatoforme Schmerzstörung vor und seit Juli 2009 eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), die ohne das schädigende Ereignis nicht eingetreten wäre und daher hierauf kausal zurückzuführen sei. Die somatoforme Schmerzstörung habe in geringerer Ausprägung bereits zum Zeitpunkt der nach dem OEG anerkannten Schädigung vorgelegen. Der Kläger habe angegeben, dass zum Zeitpunkt des Überfalls eine deutliche Besserung der bezeichneten Vorerkrankung eingetreten war. Nach dem Überfall am 15.07.2009 seien von Seiten des Fachgebiets weitere umfangreiche Beeinträchtigungen und Störungen zur Ausprägung gelangt. Hervorzuheben seien u.a. sich lebendig aufdrängende Erinnerungen an den Überfall, vegetative Funktionsstörungen, nächtliche Albträume, Konzentrationsstörungen, übermäßige Schreckhaftigkeit, Zunahme aggressiver Impulse, eine depressive Symptomatik mit Freudlosigkeit sowie umfangreiche Ängste. Nach Angaben des Klägers sei auch im Verlauf der psychotherapeutischen Behandlung bisher keine deutliche Besserung und Abnahme der Beschwerden eingetreten. Auch im Verlauf der eigenen Untersuchung hätten sich keine Hinweise für eine deutliche Besserung der beschriebenen Beeinträchtigungen ergeben. Es fänden sich keine Hinweise für bewusst übersteigerte Darstellungen des Klägers. Die bei ihm zur Ausprägung gelangten psychischen Beeinträchtigungen könnten diagnostisch den Bereichen des Wiedererlebens einer Traumatisierung (sich aufdrängenden lebendigen Erinnerungen), der erhöhten psychischen Sensitivität und Erregung (Schlafstörungen, erhöhte Reizbarkeit) sowie in besonderem Maß der Vermeidung (ausgeprägter sozialer Rückzug, das Haus wird bei Dunkelheit nicht mehr verlassen) zugeordnet werden. Eine außergewöhnliche Belastung mit Bedrohung des Lebens sei nachgewiesen. Damit lägen bei Anwendung der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10) die diagnostischen Kriterien einer PTBS vor. Dieses Krankheitsbild sei kausal auf die anerkannte Schädigung vom 14.07.2009 zurückzuführen. Als Schädigungsfolgen seien insgesamt die Hervorrufung einer PTBS und die Verschlimmerung einer somatoformen Schmerzstörung zu nennen. Ohne ein entsprechendes multimodales Setting drohe mit hoher Wahrscheinlichkeit eine weitere Chronifizierung des Störungsbildes, und eine beurteilungsrelevante Besserung könne in absehbarer Zeit nicht begründet werden.

Der Kläger wurde nach dem ersten Überfall psychotherapeutisch behandelt. In einem Befundbericht des Zentrums für Psychosoziale Medizin des Universitätsklinikums H (S und S1) vom 18.04.2011 wird ausgeführt, der Kläger habe sich am 11.04.2011 in der Traumaambulanz der psychosomatischen Klinik vorgestellt. Er habe über massive Schlafstörungen und Kontrollzwang berichtet und angegeben, er sei sehr leicht geängstigt durch irgendwelche Geräusche. Sein soziales Umfeld sei ihm praktisch vollständig abhandengekommen. Er habe ausgesprochen angespannt gewirkt und einschießende Muskelzuckungen gehabt. Es sei ihm eine stationäre Therapie vorgeschlagen worden, was er abgelehnt habe. Es seien die Diagnosen PTBS (ICD-10: F43.1) und mittelgradige depressive Episode (ICD-10: F32.1) gestellt worden.

W stellte unter dem 12.11.2013 die Diagnosen PTBS (ICD-10: F43.1) und Depression (ICD-10: F32.1) und führte dazu aus, der Kläger sei seit Januar 2011 in ihrer Behandlung und habe die Behandlung nach längerer Unterbrechung – durch den Überfall vom August 2011 – im März 2012 wieder aufgenommen.

In einem von F aufgrund persönlicher Untersuchung des Klägers unter dem 17.05.2011 für die A Krankenversicherung zur Feststellung der Arbeitsunfähigkeit/Berufsunfähigkeit erstellten Gutachten hat diese die Hauptdiagnose PTBS (ICD-10: F43.1) und die Nebendiagnose depressive Episode (ICD-10: F32.1) gestellt und dazu ausgeführt, nach langem Vorlauf werde nun seit Januar 2011 eine Behandlung der PTBS am Heimatort durchgeführt. Eine stationäre Behandlung in einer Fachklinik habe nicht durchgeführt werden können, da der Kläger sich wegen der Unmöglichkeit, seine heimische Umgebung zu verlassen, hierzu nicht in der Lage sah. Unter der ambulanten Behandlung habe aber bislang keine nennenswerte Besserung der Krankheitssymptomatik und/oder des Krankheitscopings erreicht werden können. Der klinische Befund stelle sich im Vergleich zu den Voruntersuchungen tendenziell als eher verschlechtert dar. Es sei mittlerweile eine erhebliche Chronifizierung mit nahezu vollständigem Verlust des sozialen Umfelds eingetreten. Auf nicht absehbare Zeit sei nicht damit zu rechnen, dass der Kläger in seinem Beruf oder auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt Tätigkeiten von nennenswertem wirtschaftlichem Wert werde ausführen können.

Beim zweiten tätlichen Angriff vom 17.08.2011, bei dem der Kläger nach seinen Angaben wiederum auf dem Heimweg von der Arbeitsstelle vor seiner Hauseingangstür von hinten – er meine vom selben Täter – überfallen wurde, erlitt dieser durch Fußtritte unter anderem zahlreiche Kopfverletzungen (Platzwunden, Frakturen des linken Orbita-Bogens, Maxilla und des Jochbeins links), die kieferchirurgische Operationen (Implantation von Titanplatten, spätere Plattenentfernung) nach sich zogen.

Der Kläger wurde nach dem zweiten tätlichen Angriff weiterhin ambulant psychiatrisch behandelt. In einem Befundbericht des Zentrums für Psychosoziale Medizin des Universitätsklinikums H (S und S1) werden unter dem 04.09.2012 die Diagnosen schwere depressive Episode ohne psychotische Symptome (ICD-10: F32.2), rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig schwere Episode ohne psychotische Symptome (ICD-10: F32.2), PTBS (ICD-10: F43.1) und Fibromyalgie (ICD-10: M79) gestellt. Hierzu wird ausgeführt, bereits der erste Überfall habe eine PTBS sowie eine leichte depressive Episode (ICD-10: F 32.1) nach sich gezogen. Der Kläger sei damals in eine ambulante traumaorientierte Psychotherapie vermittelt worden, die gegenwärtig noch fortgeführt werde. Während sich nach dem ersten Unfall eine leichte Besserung im Befinden eingestellt habe, habe sich nach dem zweiten Überfall eine chronifizierte Entwicklung abgespielt, die gegenwärtig anhalte. Der Kläger gehe nicht mehr unter Menschen und habe Angst, vor die Türe zu gehen. Das Haus verlasse er ohnehin nicht mehr, wenn es dunkel sei. Es bestehe eine absolute Indikation für eine stationäre Therapie, die der Kläger allerdings nicht wolle, weil er sich durch die Anwesenheit anderer Menschen in einem nicht aushaltbaren Maße geängstigt fühle. In einem Befundbericht vom 07.08.2013 werden von S und S1 die weiteren Diagnosen Zwangsstörung, vorwiegend Zwangshandlungen (ICD-10: F62.1), Agoraphobie, ohne Angabe einer Panikstörung (ICD-10: F40.0), sonstige andauernde Persönlichkeitsstörung nach Extrembelastung mit chronischem Schmerzsyndrom (ICD-10: F62.8), extreme soziale Anpassungsschwierigkeiten und Verdacht auf paranoide Schizophrenie gestellt. In weiteren Befundberichten vom 28.10.2013, 07.05.2014 und 10.06.2014 wird der „nachdrückliche Verdacht“ auf eine paranoide Schizophrenie diagnostiziert. Die behandelnde W stellte in Befundberichten vom 21.12.2012 und 12.11.2013 die Diagnosen PTBS (ICD-10: F32.1) und Depression (ICD-10: F32.1) und führte dazu aus, der Kläger habe nach längerer Unterbrechung und nach Entfernung einer Platte im Gesicht (April 2012) die Behandlung bei ihr wieder aufgenommen. Der psychische Zustand habe sich durch den erneuten Überfall im August 2011 deutlich verschlechtert. Der Kläger sei nicht in der Lage, ein normales Leben zu führen. Er habe keine sozialen Kontakte mehr, auch nicht zur Familie und verlasse die Wohnung nur noch für Arzttermine und unter großer Angst. Alle Wege lege er mit dem Taxi zurück.

In einem von E (Universitätsklinikum F) für die Berufsunfähigkeitsversicherung des Klägers erstellten fachpsychiatrischen Gutachten vom 15.02.2012 werden die Diagnosen eines schweren depressiven Syndroms bei Verdacht auf primär chronifizierte depressive Episode mit psychotischen Symptomen (ICD-10: F32.3) sowie eine PTBS (ICD-10: F43.1) gestellt. Der Kläger habe 2009 und 2011 jeweils außergewöhnliche Traumata mit massiver Bedrohung der körperlichen Integrität erlitten. Damit erfüllten die traumatischen Ereignisse offensichtlich die Schwerekriterien für ein Trauma im Sinne der Diagnosestellung einer PTBS. Im unmittelbaren Anschluss an das Trauma im Juli 2009 habe sich eine Symptomatik mit vermehrten Ängsten und einer ausgeprägten Schreckhaftigkeit entwickelt und einer auch in der Untersuchung nachvollziehbaren ausgeprägten psychovegetativen Instabilität und massiver Hyperreflexie. Verbunden damit sei es zu einer kognitiven Einengung auf das Unfallereignis, einem massiven sozialen Rückzug und einem ausgeprägten Meidungsverhalten fast des gesamten öffentlichen Raumes, insbesondere in der Dunkelheit, gekommen. Verbunden damit habe sich zunehmend und in zunehmend chronifizierendem Ausmaß eine schwere depressive Episode, verbunden mit aktuell wahrscheinlichen psychotischen Symptomen entwickelt. Im Verlauf habe sich wohl zunächst die PTBS und dann im weiteren Verlauf die depressive Störung entwickelt.

Die Beklagte erkannte – nach anfänglichen Zweifeln am Bestehen von Versicherungsschutz, da der Kläger bereits wegen des Autounfalls 2008 nach Aktenlage bis zum Jahr 2013 durchgehend arbeitsunfähig geschrieben war und nach seinen Angaben (trotzdem) vor beiden Überfällen an der Betriebsstätte gewesen war, um dort Wechselgeld vorbeizubringen – beide Ereignisse als Arbeitsunfälle an (Bescheid vom 07.11.2013). Sie lehnte allerdings zugleich unter Hinweis auf die unfallunabhängig unter der Diagnose Zerrung HWS/Schleudertrauma (ICD 10: S13.4) bis 2013 attestierte Arbeitsunfähigkeit die Gewährung von Verletztengeld wegen des ersten Unfalls ab (Bescheid vom 07.11.2013, Widerspruchsbescheid vom 13.03.2014). Dagegen erhob der Kläger Klage beim Sozialgericht Mannheim (SG – S 13 U 1173/14 -). Nach Vorlage einer Stellungnahme des vom 29.09.2014, dass die Arbeitsunfähigkeit des Klägers wegen der Halswirbelbeschwerden (durch den Unfall von 2008) zum 29.06.2009 geendet habe und der Kläger anschließend wieder voll erwerbsfähig und erst nach dem Überfall am 15.07.2009 wieder arbeitsunfähig gewesen sei, schlossen die Beteiligten einen Vergleich, wonach dem Kläger Verletztengeld für die Zeit vom 15.06.2009 bis 11.01.2011 zu zahlen war und über den Rentenanspruch ab 12.01.2011 in einem gesonderten Verfahren zu entscheiden sei.

Im einem von der Beklagten in Auftrag gegebenen Gutachten zur Zusammenhangsfrage bei psychischen Gesundheitsstörungen stellte H1 unter dem 30.06.2014 beim Kläger die Hauptdiagnose einer andauernden Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung (ICD-10: F62.0) auf der Grundlage einer PTBS als Vorläufer und Bedingung für diese Diagnose. Die andauernde Persönlichkeitsänderung werde als eine chronische, irreversible Auswirkung dieser Störung gesehen. Die von den ärztlichen Behandlern des Klägers zusätzlich diagnostizierte schwere depressive Episode, Fibromyalgie, Zwangsstörung, Agoraphobie sowie nachdrücklicher Verdacht auf paranoide Schizophrenie zeige weite Überschneidungen mit seiner Hauptdiagnose. Sichere, untrügliche Zeichen für eine schizophrene oder paranoide Psychose seien bei der Begutachtung nicht gefunden worden. Er tendiere zu der Annahme, dass keine eigenständige schizophrene Psychose bestehe, sondern flüchtige, der allgemeinen Überreagibilität und Anspannung geschuldete Fehlwahrnehmungen nicht-psychotischen Ursprungs. Vor dem (gemeint: ersten) Unfallzeitpunkt sei der Kläger nervenärztlich gesund gewesen; es habe kein Vorschaden bestanden. Der zweite Überfall 2011 habe dann zu einer außergewöhnlichen und in körperlicher Hinsicht auch drastischeren Traumatisierung geführt. Ab der unfallbedingten Arbeitsfähigkeit (ab 12.01.2011) schätze er die MdE für die PTBS auf 50 v.H. ein.

Auf Vorhalt der Beklagten, dass er sich hinsichtlich der verneinten psychiatrischen Vorerkrankung vor 2009 in Widerspruch zum Gutachten des Versorgungsamts setze, und Nachfrage, wie hoch die MdE ab dem 12.01.2011 aufgrund des Unfalls 2009 einzustufen sei und ob durch den Unfall vom 17.08.2011 ab dem 18.08.2011 eine eigenständige MdE bedingt sei, hielt H1 in einer ergänzenden Stellungnahme vom 07.10.2014 daran fest, dass er unfallunabhängig keine psychiatrische Vorerkrankung diagnostiziert habe, was im krassen Gegensatz zu dem Gutachten des Versorgungsamts, aber in Übereinstimmung mit sämtlichen sonstigen gutachterlichen und nichtgutachterlichen Einschätzungen stehe. Die unfallbedingte MdE betrage ab Auslaufen des Verletztengeldanspruchs (11.02.2011) 50 v.H. Der Beschwerdevortrag decke sich weitestgehend mit denjenigen, die bereits vor dem zweiten Überfall bestanden habe, sodass er eine nochmalige Verschlechterung des Funktionsstatus durch den Unfall vom 17.08.2011 nicht begründen könne.

Wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 14.07.2009 bewilligte die Beklagte dem Kläger mit Bescheid vom 13.11.2014 eine Rente ab dem 12.01.2011 nach einer MdE von 50 v.H. auf unbestimmte Zeit. Als Folgen des Arbeitsunfalls wurden festgestellt: Andauernde Persönlichkeitsveränderung nach Extrembelastung in Form einer Affektarmut, einer Verlangsamung des formalen Denkens, einer aufgehobenen Schwingungsfähigkeit, einer stark erhöhten inneren und äußeren Anspannung, eines bizarren körperlichen Ausdrucksverhaltens, einer motorischen Unruhe, eines sozialen Rückzugs, einer Entfremdung, einer feindlichen und misstrauischen Haltung der Umwelt gegenüber und einem Gefühl der Leere und Hoffnungslosigkeit. Der beim Unfall erlittene Nasenbeinbruch sei bis auf eine Verkrümmung im Wesentlichen folgenlos verheilt. Die Prellungen des Brustkorbes und des Oberarms rechts seien folgenlos verheilt. Den hiergegen eingelegten Widerspruch des Klägers wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 05.10.2017 zurück mit der Begründung, das der Bescheiderteilung zu Grunde liegende Gutachten des H1 vom 30.06.2014 und dessen ergänzende Stellungnahme vom 07.10.2014 seien in sich schlüssig. Zweifel an der Richtigkeit der gutachterlichen Einschätzung bestünden nicht. Eine zunehmende extreme Entwicklung im Hinblick auf eine paranoide Schizophrenie mit dem Gesamtbild einer desolaten Lebensführung mit Verwahrlosung und akustischen Halluzinationen sei nicht im Zusammenhang mit dem Unfallereignis zu sehen. Dagegen erhob der Kläger am 08.11.2017 Klage beim SG. Mit Beschluss vom 30.05.2018 ordnete das SG auf übereinstimmenden Antrag der Beteiligten das Ruhen jenes Verfahrens an. Nach Wiederaufnahme nahm der Kläger die Klage am 17.10.2020 zurück (S 12 U 2648/19).

Wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 17.08.2011 bewilligte die Beklagte dem Kläger mit Bescheid vom 16.06.2016 eine Rente nach einer MdE von 50 v.H. für den Zeitraum vom 18.08.2011 bis 22.08.2011 und einer MdE von 20 v.H. für den Zeitraum vom 23.08.2011 (Beginn des ersten stationären Aufenthalts) bis zum 21.04.2012 (Entlassung aus dem zweiten stationären Aufenthalt). Über den genannten Zeitraum hinaus liege eine MdE in rentenberechtigendem Umfang nicht vor. Als Folgen des Arbeitsunfalls wurden anerkannt: Nach Brüchen des linken Jochbeins und des Jochbogens, des linken Orbita-Bodens und der lateralen Kieferhöhlenwand links bestehende Gefühlsminderung der linken Gesichtshälfte, Kopfschmerzen, Schwindel und Spannungsgefühl in den Zähnen. Die Kopfplatzwunde und die multiplen Schürfwunden seien folgenlos ausgeheilt. Nicht im Zusammenhang mit diesem Arbeitsunfall stünden die Folgen des Überfalls vom 14.07.2009. Den hiergegen gerichteten Widerspruch des Klägers wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 05.10.2017 zurück. Zur Begründung führte sie aus, einige ausführliche Untersuchungen in kurzer zeitlicher Abfolge vor dem zweiten Unfallereignis am 17.08.2011, wie die durch L im Rahmen des Gutachtens für das Versorgungsamt am 27.04.2011 und die durch F im Auftrag der DKV am 17.05.2011 hätten jeweils einen deutlich beeinträchtigten psychopathologischen Zustand mit noch massiv ausgeprägter Symptomatik einer PTBS gezeigt. L beschreibe, dass sich auch bei seiner eigenen Untersuchung keine Hinweise für eine deutliche Besserung der beschriebenen Beeinträchtigungen ergeben hätten. Die Folgen des Unfalls vom 14.07.2009 hätten sich also noch auf höchstem Niveau gefunden, als sich der zweite Unfall ereignet habe. Dieser habe daher zu keiner Verschlimmerung des psychischen Befindens des Klägers geführt. Die Entwicklung im Hinblick auf eine paranoide Schizophrenie sei unfallunabhängig.

Am 08.11.2017 hat der Kläger Klage beim SG erhoben und dazu ausgeführt, er sei vor dem ersten Überfall im Jahr 2009 gesund gewesen. Die psychischen Störungen seien Folge der durch die Überfälle erlittenen Traumata. Zu einem Zeitpunkt, als der Verarbeitungsprozess des ersten Überfalls noch im Gange gewesen sei, sei der zweite Überfall passiert und er sei nochmals vor seiner Haustüre von hinten überfallen, zusammengeschlagen und erneut schwer verletzt worden. Ihm seien durch Fußtritte erneut schwere Kopfverletzungen zugefügt worden, die kieferchirurgisch operiert werden mussten. Die psychischen Störungen und Verschlimmerungen seien durch dieses erneute Geschehen verursacht worden.

Das SG hat zur Aufklärung des Sachverhalts zunächst die behandelnden Ärzte des Klägers als sachverständige Zeugen schriftlich befragt.

W hat unter dem 26.06.2018 ausgeführt, der Kläger sei seit dem 27.01.2011 bis heute in ihrer Behandlung. Er leide an einer PTBS, die ihn im Alltag sehr einschränke. Die Anfang 2011 begonnenen Fortschritte in der Behandlung seien durch den erneuten Überfall im August 2011 jäh zunichte gemacht worden. Der Zustand habe sich durch den zweiten Überfall deutlich verschlechtert. Inzwischen sei die Diagnose so schwerwiegend, dass eine stationäre Behandlung nötig gewesen wäre, die aufgrund der Schwere des Krankheitsbildes nicht stattfinden konnte. Es sei zu befürchten, dass ein Zusammentreffen mit anderen Menschen aufgrund der Angst und Panik des Klägers, wie auch dem Erleben seiner inneren Zerstörtheit, zu einer weiteren Verschärfung der Symptomatik beigetragen hätte. Nach dem zweiten Überfall sei es durch die soziale Isolierung zu einer Chronifizierung gekommen. Es seien psychotische Symptome hinzugekommen und die Ängste seien stärker geworden bis hin zu aufkeimender Suizidalität. Die medikamentöse Behandlung durch H2 sei unterstützend.

H2 hat unter dem 19.06.2018 ausgeführt, der Kläger sei seit 30.04.2013 in seiner Behandlung. Die Exploration gebe ein psychotisches Erleben zu erkennen mit innerer Anspannung, schwersten Angstzuständen und einer Wahnsymptomatik mit Beeinträchtigungs- und Verfolgungswahn, gedrückter Stimmungslage, ausgeprägter psychomotorischer Unruhe und sozialem Rückzug. Bei vorbekannter PTBS sei seit dem 30.04.2013 das Vollbild einer paranoiden schizophrenen Psychose zu diagnostizieren. Aus der Sicht des behandelnden Arztes sei das derzeitige Krankheitsbild auf die Unfallereignisse 2009 und vor allem 2011 zurückzuführen. Dass der Unfall 2011 zu einer Verschlimmerung führen musste, sei Wesen seines komplexen Krankheitsgeschehens. Die Schwere des Krankheitsbilds habe durch den Unfall 2011 eine Vertiefung erfahren, was letztlich in das schwere psychiatrische Krankheitsbild einer schizophrenen Psychose gemündet habe. Die Erwerbsfähigkeit sei dauerhaft als aufgehoben einzuschätzen.

Die Beklagte ist der Klage entgegengetreten unter Berufung auf das von F in ihrem Gutachten vom 17.05.2011 beschriebene Vollbild einer PTBS. Die Folgen des ersten Unfalls hätten sich noch auf höchstem Niveau befunden, als sich der zweite Unfall ereignete. Die von H2 beschriebene zusätzliche Entwicklung einer schizophrenen Psychose sei nicht mehr im Rahmen einer unfallbedingten Verursachung zu sehen.

Das SG hat weiter Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens bei S2 (Psychiatrisches Zentrum N), der auf der Grundlage mehrerer Untersuchungstermine (11.03.2019, 29.03.2019 und 09.04.2019) im Gutachten vom 31.07.2019 folgende Gesundheitsstörungen beim Kläger diagnostiziert hat:

1. Paranoide Schizophrenie (ICD-10: F20.0)

2. Schwere depressive Episode (ICD-19: F32.2)

3. Posttraumatische Belastungsstörung (ICD-10: F45.4)

4. Anhaltende somatoforme Schmerzstörung (ICD-10: F45.4).

Das Schädigungsereignis vom 17.08.2011 habe neben anderen Faktoren mit Wahrscheinlichkeit eine zumindest annähernd gleichwertige Bedeutung für die Verstärkung und Chronifizierung vorbestehender Erkrankungen der PTBS und der dann schweren depressiven Episode. Die seit dem Unfall 2008 vorbestehende und anhaltende somatoforme Schmerzstörung sei durch das Ereignis nicht richtunggebend beeinflusst worden. Die später manifeste paranoide Schizophrenie habe sich schädigungsunabhängig entwickelt.

Vor dem Unfall vom 17.08.2011 habe bereits eine PTBS vorgelegen, die nur in ihrer symptomatischen Ausprägung abgemildert war, jedoch weiterhin im Vollbild bestand. Durch das Unfallereignis sei es zu einer anhaltenden Verschlimmerung des Ausprägungsgrads und der damit zusammenhängenden Funktionseinschränkungen gekommen. Die depressive Störung sei vor dem Unfall 2011 als mittelgradig, anschließend als schwer einzuschätzen. Vor wie nach dem Schädigungsereignis hätten die Funktionsbeeinträchtigungen die psychisch-emotionale und die sozial-kommunikative Dimension betroffen. Die mittelgradige depressive Erkrankung und die PTBS hätten vor dem Ereignis zu mittelgradigen Beeinträchtigungen in zwei Dimensionen geführt, wofür nach dem „Neuen methodischen Ansatz“ von Philipp eine MdE von 30 v.H. zu bestimmen sei. Das Schädigungsereignis habe zu einer Verschlimmerung des Ausprägungsgrads mit vollständiger Beeinträchtigung in der psychisch-emotionalen und sozial-kommunikativen Dimension geführt, woraus eine Einschätzung der MdE von 60 v.H. resultiere. Der verschimmerungsbedingte Anteil betrage damit 30 v.H.

Zum Gutachten von S2 haben beide Beteiligte Stellung genommen. Die Beklagte hat eingewendet, die Bewertung der Gesamt-MdE von 60 v.H. sei nachvollziehbar, nicht aber die Bewertung der MdE aus dem Unfall von 2009 mit (nur) 30 v.H. Nach dem Gutachten von H1 habe schon vor dem Unfall 2011 eine PTBS im Vollbild vorgelegen, die mit einer MdE von 50 v.H. angemessen bewertet worden sei. Der Verschlimmerungsanteil durch den zweiten Unfall betrage daher lediglich 10 v.H. Die Kläger-Seite hat ausgeführt, dass nach den vorgelegten Befundberichten von H3 die Schwere des Krankheitsbilds durch das Ereignis 2011 eine Vertiefung erfahren habe, was letztlich in das schwere psychiatrische Krankheitsbild einer schizophrenen Psychose gemündet habe.

In der ergänzenden gutachtlichen Stellungnahme nach Aktenlage hat S2 am 26.08.2020 ausgeführt, er habe der Einschätzung von H1 nicht vollends folgen können und insbesondere eine manifeste paranoide Schizophrenie diagnostiziert, deren erste Vorläufersymptome bereits Ende 2012 dokumentiert seien. Zur Klärung der Frage, ob und wenn ja in welchem Umfang es im Zusammenhang mit dem zweiten Schädigungsereignis zu einer funktionellen Verschlechterung gekommen sei, habe er die signifikanten Befundberichte und Gutachten aus 2011 und 2012 erneut analysiert und anschließend in integrierender Betrachtung in den Dimensionen der psychisch-emotionalen und der sozial-kommunikativen Funktionsbeeinträchtigungen in Bezug auf das Ereignis von 2011 analysiert und entsprechend dem methodischen Ansatz von Philipp 2015 bewertet. Hiernach ergebe sich bei der Beurteilung möglicher psychisch-emotionaler Funktionsbeeinträchtigungen (dazu gehörten Veränderungen im Bereich von Antrieb, kognitiven Kompetenzen und Affektivität) zusammenfassend eine mittelgradige Veränderung vor dem Ereignis und eine vollständige Beeinträchtigung nach dem Ereignis von 2011. Im Bereich sozial-kommunikativer Funktionsbeeinträchtigungen (dazu gehörten Veränderungen im Bereich der Verkehrsfähigkeit, des sozialen Kontaktverhaltens sowie des Antriebs) ergebe sich zusammenfassend eine schwere Beeinträchtigung vor dem Ereignis 2011 und eine vollständige Beeinträchtigung anschließend. Unter Verwendung des methodischen Ansatzes von Philipp seien Funktionsbeeinträchtigungen in zwei von drei möglichen Dimensionen – nämlich in den Bereichen der psychisch-emotionaler Funktionsbeeinträchtigungen und der sozial-kommunikativen Funktionsbeeinträchtigungen – zu berücksichtigen. Für die Zeit vor dem Schädigungsereignis 2011 ergebe sich bei mittelgradiger Beeinträchtigung in einer Dimension und schwerer Beeinträchtigung in einer zweiten Dimension eine MdE von 40 v.H.; für die Zeit danach ergebe sich aus der vollständigen Beeinträchtigung einer Dimension und einer vollständigen Beeinträchtigung einer zweiten Dimension eine MdE von 60 v.H. Hieraus resultiere im Ergebnis durch das Ereignis 2011 eine Verschlimmerung um eine MdE von 20 v.H. Bei kritischer Revision des eigenen Ergebnisses ergebe sich somit eine etwas höhere vorbestehende Funktionsbeeinträchtigung (ca. 40 v.H. statt 30 v.H.) und ein etwas geringerer verschlimmerungsbedingter Anteil von ca. 20 v.H.

In der mündlichen Verhandlung vor dem SG hat die Beklagte am 13.04.2021 ein Teilanerkenntnis abgegeben, wonach sie als Folgen des Arbeitsunfalls vom 17.08.2011 zusätzlich eine Verstärkung einer posttraumatischen Belastungsstörung mit nachfolgender schwerer depressiver Episode sowie einen Anspruch auf Verletztenrente nach einer MdE von 60 v.H. für die Zeit vom 18. bis 22.08.2011, in Höhe von 30 v.H. vom 30.08.2011 bis 21.04.2012 sowie von 20 v.H. ab dem 22.04.2012 anerkennt. Der Kläger hat dieses Teilanerkenntnis angenommen, aber daran festgehalten, dass auch über den 21.04.2012 hinaus die MdE auf Grund des Arbeitsunfalls vom 17.08.2011 mit 30 v.H. zu bemessen sei. S2 habe in seinem Gutachten die MdE aufgrund der Verschlimmerung durch das Ereignis von 2011 mit 30 v.H. angegeben. Eine Begründung für die nachträgliche Korrektur auf 20 v.H. im Rahmen der Rahmen der ergänzenden Stellungnahme gebe es nicht. Zusammen mit den Folgen des Arbeitsunfalls vom 14.07.2009 sei die Erwerbsfähigkeit des Klägers praktisch aufgehoben. Auch die paranoide Schizophrenie sei als Unfallfolge zu berücksichtigen.

Das SG hat die (verbliebene) Klage mit Urteil vom 13.04.2021 abgewiesen, soweit sie über das Teil-Anerkenntnis hinausgeht. Der Kläger habe keinen Anspruch, aufgrund des Arbeitsunfalles vom 17.08.2011 auch über den 21.04.2012 hinaus eine Verletztenrente nach einer MdE von 30 v.H. und nicht nur von 20 v.H. zu erhalten. Eine Verursachung der beim Kläger diagnostizierten paranoiden Schizophrenie und der anhaltenden somatoformen Schmerzstörung durch die Ereignisse von 2009 und 2011 lasse sich nicht feststellen. Letztere habe sich bereits im Anschluss an den privaten Verkehrsunfall des Klägers vom 05.07.2008 entwickelt, bei dem dieser eine HWS-Distorsion und eine Schädelprellung erlitten habe. Wie S2 in seinem Gutachten wiedergegeben habe, seien bereits vor dem Arbeitsunfallereignis vom 14.07.2009 wiederholt chronifizierte Schmerzen, ein Verdacht auf eine somatoforme Schmerzstörung, ein myalgisches Schmerzsyndrom und eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung diagnostiziert worden. Soweit der behandelnde H2 in seiner schriftlichen Aussage als sachverständiger Zeuge vom 19.06.2018 die Auffassung geäußert habe, die Schwere des Krankheitsbildes des Klägers habe durch das erneute Ereignis 2011 eine Vertiefung erfahren, was letztlich in das schwere psychiatrische Krankheitsbild einer schizophrenen Psychose gemündet sei, habe dieser die Aussage nicht aufgrund eines unmittelbaren lückenlosen Eindrucks vom Kläger bereits seit dem streitigen Arbeitsunfall treffen können, da er den Kläger erstmals am 30.04.2013 und damit über 20 Monate nach dem Arbeitsunfall behandelt habe. Wie S2 aufgrund umfangreicher Auswertung der Aktenlage zutreffend dargestellt habe, sei die psychotische Symptomatik beim Kläger zunächst als vage Symptomatik ab Dezember 2012 aktenkundig und ab ca. Ende 2013 einer paranoiden Schizophrenie zugeordnet worden. Zutreffend führe der Sachverständige hierzu aus, zur Entstehung schizophrener Erkrankungen trügen nach dem aktuellen Stand der Wissenschaft verschiedene Faktoren bei, wobei zu ca. 50 % eine entsprechende genetische Veranlagung als Ursache anzunehmen sei. Weitere mögliche Ursachen lägen in Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen, in immunologischen oder gegebenenfalls auch toxischen Einflüssen (z. B. Drogenkonsum) oder auch massiver psychischer Traumatisierung im Kindesalter. Die doch in einigem zeitlichen Abstand zu dem hier angeschuldigten Arbeitsunfallereignis im Erwachsenenalter aufgetretene Schizophrenie des Klägers könne angesichts dessen nach dem aktuellen Stand der Wissenschaft nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf den Überfall vom 17.08.2011 zurückgeführt werden. Wie der Sachverständige nachvollziehbar ausgeführt habe, hätten die schwer traumatisierenden Überfälle vom 14.07.2009 und 17.08.2011 rechtlich wesentlich eine PTBS und eine depressive Störung verursacht, die nach dem zweiten Arbeitsunfall als schwere depressive Episode zu klassifizieren sei. Nachvollziehbar habe S2 die MdE dem von Philipp (Der medizinische Sachverständige 2015, S. 255-262) veröffentlichten und auch in dem Standardwerk der unfallmedizinischen Literatur Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit (9. Aufl. 2017 Seite 170 ff.) zitierten Vorschlag folgend am Ausmaß der jeweiligen Funktionsbeeinträchtigungen in den Dimensionen psychisch-emotional, sozial-kommunikativ und körperlich-funktionell bemessen. Anhand dessen habe der Sachverständige im Gutachten vom 31.07.2019 eine vollständige Beeinträchtigung in zwei dieser drei Dimensionen, nämlich in der psychisch-emotionalen und in der sozialen-kommunikativen Dimension, angenommen und hieraus eine insgesamt nach dem Ereignis vom 17.08.2011 bestehende arbeitsunfallbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit von 60 v.H. angenommen. Dem sei zu folgen, da zum einen keine Beeinträchtigung der sogenannten körperlich-funktionellen Dimension vorliege und die schädigungsunabhängig vorbestehende anhaltende somatoforme Schmerzstörung sowie die schädigungsunabhängig nachgehend entstandene paranoide Schizophrenie nicht berücksichtigt werden könnten. Das Gericht schließe sich der Einschätzung des Sachverständigen S2 auch insoweit an, als dieser seine zunächst grobe Einschätzung, die MdE i.H.v. 60 v.H. beruhe jeweils etwa zur Hälfte auf dem Arbeitsunfallereignis vom 14.07.2009 und dem vom 17.08.2011, im Zuge seiner ergänzenden gutachtlichen Stellungnahme nach Aktenlage vom 26.08.2020 revidiert habe. S2 habe bereits im Rahmen der Gutachtenserstellung die Gerichts- und Verwaltungsakten umfassend ausgewertet, den Kläger bei insgesamt drei Terminen untersucht und dementsprechend eine außerordentlich sorgfältige und differenzierte Auseinandersetzung mit der gesamten Krankheitsgeschichte des Klägers und den sich stellenden Kausalitätsfragen vorgenommen. In der ergänzenden gutachtlichen Stellungnahme habe er dann nochmals gezielt Gutachten und Befundberichte vom 27.04. 17.05. und 28.07.2011 (also relativ kurze Zeit vor dem hier streitgegenständlichen Ereignis) mit einem am 15.02.2012 (also danach) erstatteten Gutachten abgeglichen und jeweils die Beeinträchtigung in psychisch-emotionaler und sozialkommunikativer Dimension miteinander verglichen, namentlich in den Punkten Bewegung im sozialen Raum, soziales Kontaktverhalten, Antrieb, Affektivität und kognitive Kompetenzen. Er habe hieraus schlüssig abgeleitet, dass die Folgen des ersten Arbeitsunfallereignisses doch bereits schwerer waren und auch zum Zeitpunkt des Eintritts des zweiten Unfallereignisses noch vorlagen als zunächst angenommen, und habe dementsprechend die Folgen des ersten Arbeitsunfallereignisses nunmehr mit 40 v.H. und die Verschlimmerung aufgrund des zweiten Arbeitsunfallereignisses mit 20 v.H. bemessen. Er habe dabei insbesondere auch, wie vom Kläger zuletzt nochmals in der mündlichen Verhandlung angemahnt, die seinerzeitigen Feststellungen des den Kläger behandelnden psychotraumatologisch spezialisierten Facharztes S berücksichtigt. Auch das Gericht müsse bei Würdigung der gesamten Aktenlage feststellen, dass beim Kläger bereits aufgrund des ersten Arbeitsunfallereignisses eine doch gravierende Beeinträchtigung der seelischen Gesundheit mit entsprechenden Auswirkungen auf die Berufstätigkeit bestanden habe. Dies werde beispielsweise auch daran deutlich, dass sich der Kläger nach dem Befundbericht von S vom 28.07.2011 bereits vor dem zweiten Überfall in einem psychisch ausgesprochen schlechten Zustand befand, in keiner Weise arbeitsfähig war, vielmehr einfachste Tätigkeiten wie z.B. Einkaufen trainiert werden mussten und er am Unfalltag nur ganz ausnahmsweise wegen der Notwendigkeit der Bereitstellung von Wechselgeld die Arbeitsstelle aufgesucht hatte. Dem habe der Beklagte durch das Teilanerkenntnis vom 13.04.2021 hinreichend Rechnung getragen. Eine höhere MdE als 20 v.H. aufgrund des Arbeitsunfallereignisses von 2011 sei ab 22.04.2012 nicht festzustellen, weshalb die hierauf gerichtete Klage abzuweisen gewesen sei.

Gegen das seiner Prozessbevollmächtigten am 22.04.2021 zugestellte Urteil hat der Kläger am 19.05.2021 Berufung beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingelegt und sein bisheriges Vorbringen wiederholt und vertieft. S2 habe im Gutachten vom 31.07.2019 auf die Beweisfrage des Gerichts, wie hoch die durch die Unfallfolgen bedingte MdE des Klägers seit dem 18.08.2011 einzuschätzen sei, den verschlimmerungsbedingten Anteil auf 30 v.H. bemessen und diesen nach Aktenlage am 26.08.2020 auf Veranlassung des Gerichts auf einen Anteil von nur noch 20 v.H. reduziert. Die mehr als ein Jahr spätere Stellungnahme könne für die richterliche Entscheidung nicht herangezogen werden. Es fehle an Aktualität und Nähe zur ausführlichen Exploration und Untersuchung sowie zum Gutachten. Dies verstoße gegen den Unmittelbarkeitsgrundsatz der Gutachtenserstattung. Dass der Vorsitzende durch Vorlage des Widerspruchs der Beklagten zur MdE von 30 v.H. den Gutachter zur Reduzierung veranlasst und den befürwortenden Schriftsatz der Unterzeichnerin dabei nicht vorgelegt habe, verletze zudem das Recht des Klägers auf ein faires Verfahren nach Art. 2 Abs. 1 Grundgesetz (GG) i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG). Das einseitige Schreiben mit Anlagen des Vorsitzenden vom 27.03.2020 lasse die gebotene Neutralität vermissen und habe dem Gutachter gegenüber ein Signal gesetzt, den festgestellten Verschlimmerungsanteil von 30 v.H. noch einmal zu überdenken vor dem Hintergrund, dass die Behörde nur 10 v.H. bewilligen wollte. Nach dem Unfall 2011 lägen als unstreitige Diagnose eine verstärkte und chronifizierte posttraumatische Belastungsstörung und eine schwere depressive Episode vor. Nach den von Foerster und anderen entwickelten Eckwerten (Tabelle Richtwerte) begründe dies für den vorliegenden Fall folgende MdE-Eckwerte: Depressive Episode (ICD-10 F32 und F33): Beeinträchtigung entsprechend dem Schweregrad einer schweren Episode, auch mit psychotischen Symptomen: 80 – 100; Posttraumatische Belastungsstörung (ICD-10 F43.1): Schwerer Fall, gekennzeichnet durch massive Schlafstörungen mit Alpträumen, häufige Erinnerungseinbrüche, Angstzustände, die auch tagsüber auftreten können, und ausgeprägtes Vermeidungsverhalten: bis 50 (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O. Seite 170 und Ludolph, Schürmann, Gaidzik, Kursbuch der ärztlichen Begutachtung, Punkt VI-2.7.2 Psychogene Störungen nach Unfällen, Punkt 7 Einschätzung geminderten Leistungsvermögens). Der Gutachter und das Gericht stellten dagegen auf den neuen Vorschlag einer Bewertungstabelle von Philipp ab. Die Beklagte sei offenbar der Meinung, dass auch bei schweren psychischen und psychiatrischen Folgen, wie dies beim Kläger der Fall sei, nie über eine MdE von 60 gelangt werden könne, da die körperlich-funktionelle Dimension fehle. Das sei aus diesseitiger Sicht nicht plausibel, da dies bedeuten würde, dass bei psychischen Störungen immer von einem (Rest-)Leistungsvermögen von 40 v.H. auszugehen wäre, was nicht zutreffend sei. In der Kommentierung heiße es deshalb im Anschluss zu dem neuen Vorschlag von Philipp: „Bei der MdE-Einschätzung von psychischen Störungen ist geboten, jeweils einen Vergleich mit den Werten für schwere Funktionseinschränkungen bei hirnorganischen Psychosyndrom (ICD-10: F07.2) anzustellen um eine Gleichbehandlung von körperlichen und seelischen Unfallfolgen gewährleisten zu können.“ (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O., Punkt 5.1.16, Seite 172). Der methodische Ansatz von Philipp M. bedeute in dem vorliegenden Fall gegenüber dem bewährten Ansatz von Foerster und anderen eine Schlechterstellung, denn nach Letzterem wäre eine Gesamt-MdE von bis zu 100 möglich.

Der Kläger beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 13. April 2021 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 16. Juni 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. Oktober 2017 sowie des Teilanerkenntnisses vom 13. April 2021 zu verurteilen, ihm Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 30 v.H. auch über den Zeitpunkt des 21. April 2012 hinaus auf unbestimmte Zeit zu zahlen.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Sie verweist auf die angefochtenen Bescheide sowie die Ausführungen im Urteil des SG.

Der Senat hat Beweis erhoben durch nochmalige ergänzende Befragung des S2. Dieser hat unter dem 05.08.2022 ausgeführt, dass seine frühere ergänzende Stellungnahme zwölf Monate nach dem Gutachten erstellt und ohne neuerliche Begutachtung des Probanden verfasst wurde, sei in der Sache richtig, jedoch eher nicht kritikwürdig. Im Kern sei es in der Stellungnahme von 2020 nicht um eine neue Befundung des Status praesens und gegenwärtiger Gesundheitsstörungen, sondern um eine detailliertere Analyse der Veränderung von Gesundheitszustand und Funktionseinbußen in zeitlichem Zusammenhang mit dem in Rede stehenden Schädigungsereignis von 2011 gegangen. In diesem Zusammenhang hätte eine erneute Begutachtung des Probanden nicht genützt, schließlich sei die Erinnerung des Probanden zur Entwicklung seiner gesundheitlichen Entwicklungen in der vielstündigen Begutachtung selbst bereits ausführlich erfasst worden. Hierbei sei zugleich klar geworden, dass es dem Probanden erkennbar schwer fiel, differenzielle Veränderungen in verschiedenen psychischen Bereichen in Zusammenhang mit dem Schädigungsereignis zu konkretisieren. Eine über die ausführliche und sehr zeitaufwändige Exploration hinausgehende, neuerliche Befragung des Patienten sei daher nicht fruchtbringend erschienen. Danach seien für die ergänzende gutachterliche Stellungnahme noch einmal ausführlich ärztliche Gutachten und Behandlungsberichte analysiert und die Funktionsbeeinträchtigungen erhoben und bewertet worden. Auf Basis der bewerteten Dimensionen der Funktionsbeeinträchtigung sei dann eine Einschätzung der MdE vorwiegend nach dem Schädigungsereignis nach dem methodischen Konzept von Philipp 2015 vorgenommen worden. Auch nach dem von der Kläger-Seite angesprochenen Ansatz von Foerster et al. 2007 sei keineswegs allein aus der Feststellung des Vorliegens einer psychischen Erkrankung („Diagnose“) schon eine MdE abzuleiten; vielmehr sei in jedem Fall eine Analyse von Funktionsbeeinträchtigungen in den verschiedenen Dimensionen erforderlich. Genau diesem Ansatz von Foerster et al. 2007, ergänzt durch die methodische Weiterentwicklung von Philipps 2015, habe sich der Unterzeichner zu folgen bemüht. Hieraus folge auch keine Schlechterstellung des Probanden. Vielmehr ergebe sich eine natürliche Entwicklungslinie der methodischen Ansätze von Foerster et al. 2007 zu Philipp 2015. Insgesamt lägen daher keine Argumente vor, die zu einer relevanten Modifikation der Stellungnahme aus 2021 Anlass geben würden.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der der Gerichtsakten beider Instanzen, der beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten und der Akten des Versorgungsamts des R Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die frist- und formgerecht eingelegte Berufung ist statthaft und auch im Übrigen zulässig. Berufungsausschließungsgründe gemäß § 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG) liegen nicht vor. Sie ist jedoch unbegründet. Das SG hat zu Recht die verbliebene Klage abgewiesen. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Gewährung einer höheren Verletztenrente wegen des Ereignisses vom 17.08.2011 für den streitigen Zeitraum ab dem 22.04.2012.

Voraussetzung für die Anerkennung von psychischen Gesundheitsstörungen als Unfallfolge und die Gewährung einer Verletztenrente aufgrund von solchen ist zunächst die Feststellung der konkreten Gesundheitsstörungen, die bei dem Verletzten vorliegen und seine Erwerbsfähigkeit mindern und die aufgrund eines der üblichen Diagnosesysteme und unter Verwendung der dortigen Schlüssel und Bezeichnungen erfolgen soll (Bundessozialgericht <BSG>, Urteil vom 09.05.2006 – B 2 U 1/05 R -, juris). Dies sind namentlich die Diagnosesysteme ICD-10 (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems, Version 2013) sowie DSM V (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, Stand Mai 2013).

Hiervon ausgehend hat das SG in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils zutreffend und unter Berücksichtigung der maßgeblichen Rechtsgrundlagen dargelegt, dass der Kläger weder Anspruch auf die Feststellung weiterer Unfallfolgen (auf psychiatrischem Fachgebiet) noch auf die Gewährung einer Verletztenrente nach einer MdE um 30 v.H., also um weitere 10 v.H. ab dem 22.04.2012 hat. Hiernach sind als Folgen des Arbeitsunfalls vom 17.08.2011 über die Verstärkung einer posttraumatischen Belastungsstörung (ICD-10: F43.4) mit nachfolgender schwerer depressiver Episode (ICD-10: F32.2) hinaus keine weiteren Unfallfolgen im Sinne einer Entstehung oder Verschlimmerung festzustellen, und die genannten Unfallfolgen wurden – ausgehend von einer vorbestehenden MdE von 40 v.H. – zutreffend mit einem Verschlimmerungsanteil von 20 v.H. ab dem 22.04.2012 bewertet. Der Senat schließt sich dem nach eigener Überprüfung und unter Berücksichtigung des gesamten Vorbringens des Klägers uneingeschränkt an und weist die Berufung aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung zurück (§ 153 Abs. 2 SGG).

Im Hinblick auf das Vorbringen im Berufungsverfahren und die im Berufungsverfahren durchgeführte Beweisaufnahme ist ergänzend auszuführen, dass der Sachverständige S2 auch zur Überzeugung des Senats schlüssig und nachvollziehbar seine im Gutachten vom 31.01.2019 vorgenommene Bewertung der vor dem Ereignis 2011 vorbestehenden MdE und den hierdurch eingetretenen Verschlimmerungsanteil durch die ergänzende Stellungnahme vom 26.08.2020 – bei unverändert eingeschätzter Gesamt-MdE von 60 v.H. – modifiziert hat. Sein methodisches Vorgehen hat S2 in der Stellungnahme gegenüber dem Senat vom 05.08.2022 nochmals überzeugend dargelegt. Hiernach wurden für die ergänzende gutachterliche Stellungnahme noch einmal insbesondere die „unfallnahen“ ärztlichen Gutachten und Behandlungsberichte näher analysiert und ausgewertet (Gutachten L aus 4/2011, Gutachten F aus 5/2011, Behandlungsbericht S aus 7/2011, Gutachten von E aus 2/2012). In einem ersten Schritt wurden dabei sämtliche genannten Gutachten auf dokumentierte psychische Teilfunktionen analysiert (Bewegung im sozialen Raum/Verkehrsfähigkeit; soziales Kontaktverhalten; Antrieb; Affektivität; kognitive Kompetenzen). Auf einer nächsten Abstraktionsstufe wurde im zweiten Schritt versucht, auf Basis der dokumentierten psychischen Teilfunktionen Funktionsbeeinträchtigungen auf höherer Aggregationsebene zu erfassen, also psychisch-emotionale, sozial-kommunikative Funktionsbeeinträchtigungen. Körperlich-funktionelle Beeinträchtigungen, wie sie nicht nur durch organische Störung, sondern auch durch psychische Störungen, somatoforme Störungen, dissoziative Störungen etc. auftreten können, waren, was zwischen den Beteiligten auch nicht im Streit ist, hier ohne Belang. Auf Basis der bewerteten Dimensionen der Funktionsbeeinträchtigung erfolgte dann eine Einschätzung des MdE vorwiegend nach dem Schädigungsereignis. Diese Analyse führte nachvollziehbar zu einer im Vergleich zum Gutachten aus 2019 identischen (Gesamt-)MdE von 60 v.H. bei einer jedoch etwas höheren MdE vor dem Schädigungsereignis, nämlich 40 v.H. (im Vorgutachten war noch etwas pauschal eine MdE von 30 v.H. angenommen worden). Hieraus folgend hat der Sachverständige eine etwas geringere Verschlimmerung durch bzw. nach dem Schädigungsereignis von 2011 angenommen (20 v.H. laut Stellungnahme von 2021 gegenüber 30 v.H. im Gutachten aus 2019) und dies nachvollziehbar erläutert. Schließlich hat sich S2 auch mit der Kritik der Kläger-Seite an seinem methodischen Vorgehen auseinandergesetzt und nachvollziehbar dargelegt, dass sich auch nach dem angesprochenen Ansatz von Foerster et al. 2007 nicht notwendig eine höhere MdE bzw. ein höherer Verschlimmerungsanteil ergeben würde. Vielmehr würden auch nach diesem Ansatz Beeinträchtigungen eines Versicherten in Bezug auf das Erwerbsleben in drei Dimensionen (psychische-emotionale Beeinträchtigung, sozial-kommunikative Beeinträchtigung, körperlich-funktionelle Beeinträchtigung) erfasst und für jede Ebene einzeln eine Schweregradbeurteilung vorgenommen, wobei sich die MdE dann aus der Gesamtschau dieser Beeinträchtigungen ergeben sollte. Wie diese Gesamtschau zu vollziehen sei, erschließe sich aus der Arbeit von Foerster et al. nicht. Hier setze Philipp 2015 an mit dem „neuen methodischen Ansatz“ und einem transparenten Algorithmus. Dieser dem aktuellen Stand der Wissenschaft entsprechende Ansatz und dessen Umsetzung und Anwendung im Einzelfall durch den Sachverständigen erscheint dem Senat plausibel und stringent und dem Verschlimmerungsanteil aus dem Unfallereignis von 2011 angemessen. Ausgehend von diesem Bewertungsmodell, welches die Gesamtheit aller unfallabhängigen psychischen und psychosomatischen Symptome in ihrer erwerbsrelevanten Leistungsbeeinträchtigung in ein und derselben diagnoseunabhängigen Tabelle (Philipp, a.a.O., S. 259 Tabelle 2) ermittelt und das auch in der Fachliteratur befürwortet wird (Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O., Seite 172), ist S2 nachvollziehbar für die Zeit vor dem Schädigungsereignis 2011 (bei mittelgradiger Beeinträchtigung in einer Dimension und schwerer Beeinträchtigung in einer zweiten Dimension) zu einer MdE von 40 v.H. gelangt und für die Zeit danach (bei vollständiger Beeinträchtigung in einer Dimension und einer vollständigen Beeinträchtigung einer zweiten Dimension) zu einer MdE von 60 v.H. Hieraus resultiert durch das Ereignis 2011 eine Verschlimmerung um eine MdE von 20 v.H. Soweit die Kläger-Seite eingewandt hat, durch dieses Bewertungsmodell sei die MdE bei einer – wie hier – vollständigen Beeinträchtigung in zwei Dimensionen stets auf 60 v.H. „gedeckelt“, was den tatsächlichen Erwerbsmöglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt nicht gerecht werde, ist dies unzutreffend. Nach dem Modell sind zwar die MdE-Korridore bis 60 v.H. bzw. bei vollständiger Beeinträchtigung in allen drei Dimensionen bis 70 v.H. definiert, was die Feststellung höherer MdE-Werte im Einzelfall nicht ausschließt. Für die Konkretisierung des MdE-Korridors 70 bis 100 bieten sich nach Philipp et. al (a.a.O., Seite 259) allerdings keine weiteren Skalenkriterien an; hier müsse das klinische Gesamtbild entscheiden.

Unter Berücksichtigung dessen liegen auf dem Unfall von 2011 beruhende Gesundheitsstörungen, welche eine (weitere) MdE von mehr als 20 v.H. über den 21.04.2012 hinaus rechtfertigen könnten, nicht vor, weshalb das SG die (verbliebene) Klage zu Recht abgewiesen hat und die Berufung keinen Erfolg haben konnte. Dass sich für den Kläger unter Einbeziehung der bestandskräftig festgestellten MdE von 50 v.H. aufgrund des Arbeitsunfalls von 2009 eine MdE von insgesamt 70 v.H. ergibt, steht dem nicht entgegen, da streitgegenständlich im vorliegenden Berufungsverfahren lediglich der Verschlimmerungsanteil aufgrund des zweiten Arbeitsunfalls war.

Hierauf und auf § 193 SGG beruht die Kostenentscheidung.

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.

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