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Bildung des Gesamt-GdB unter Berücksichtigung eines Wirbelsäulenschadens

Landessozialgericht Berlin-Brandenburg – Az.: L 11 SB 9/09 – Urteil vom 28.07.2011

Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 28. Oktober 2008 wird zurückgewiesen.

Die im Berufungsverfahren für die Zeit vom 23. August 2005 bis zum 4. September 2005 neu erhobene Klage wird abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander auch nicht für das Verfahren vor dem Landessozialgericht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Der Kläger begehrt für den Zeitraum vom 23. August 2005 bis zum 31. Dezember 2009 die Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von 50.

Der 1945 geborene Kläger war zuletzt bis November 2001 als selbständiger Metallbauer tätig und dann arbeitslos.

Mit bestandskräftigem Bescheid vom 29. August 2001 stellte der Beklagte nach gutachtlicher Stellungnahme des Facharztes für Sozialmedizin Dr. S vom 20. Juli 2001 einen Gesamt-GdB von 30 aufgrund folgender Funktionsbeeinträchtigungen und -behinderungen fest:

– Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, Nervenwurzelreizerscheinungen (Einzel-GdB: 20),

– chronische Bronchitis (Einzel-GdB: 20).

Einen Verschlimmerungsantrag des Klägers vom 9. Dezember 2002 lehnte der Beklagte nach Einholung einer gutachtlichen Stellungnahme des Facharztes für Sozialmedizin Dr. S vom 7. März 2003 mit bestandskräftigem Bescheid vom 9. Oktober 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. Februar 2004 ab.

Auf einen erneuten Verschlimmerungsantrag des Klägers stellte der Beklagte nach Einholung von Befundberichten bei den behandelnden Ärzten – dem Facharzt für Allgemeinmedizin Dr. J vom 22. Juni 2004 nebst Ergänzung vom 29. November 2004 und dem Arzt für Orthopädie Dr. T vom 24. Juni 2004 sowie vom 25. November 2004 – sowie nach Einholung von Gutachten des ärztlichen Gutachters M vom 28. Dezember 2004 und der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie und Sozialmedizinerin G vom 17. März 2005 nach Ablehnung durch Bescheid vom 12. Januar 2005 auf den hiergegen erhobenen Widerspruch mit Abhilfebescheid vom 23. März 2005 einen Gesamt-GdB von 40 aufgrund folgender Funktionsbeeinträchtigungen und -behinderungen fest:

– Seelische Störung (Einzel-GdB: 30),

– chronische Bronchitis (Einzel-GdB: 20),

– Postnucleotomie-Syndrom im Lendenwirbelsäulenbereich (Einzel-GdB: 20).

Am 5. September 2005 (Eingang bei dem Beklagten) stellte der Kläger einen erneuten Verschlimmerungsantrag bei dem Beklagten unter Hinweis auf seelische Leiden, Schmerzen und Luftnot sowie Schwindel bei Belastung. Der Beklagte lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 26. Januar 2006 nach gutachtlicher Stellungnahme des Arztes S vom 18. Januar 2006, der Befundberichte der Fachärztin für Neurologie Dr. G vom 26. Oktober 2005, des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. J vom 26. Oktober 2005, des Facharztes für Orthopädie Dr. W vom 9. November 2005 und der Fachärztin für Arbeitsmedizin O vom 2. Januar 2006 ausgewertet hatte, ab. Auf den gegen den Bescheid vom 26. Januar 2006 gerichteten Widerspruch holte der Beklagte ein Gutachten von der Ärztin für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie Dr. W vom 16. Juli 2006 ein. Die Gutachterin bestätigte die bisher festgestellten Einzel-GdB sowie den Gesamt-GdB und führte unter anderem aus, dass es sich bei der Bewertung des als Anpassungsstörungen zu bezeichnenden seelischen Leidens um eine solche im oberen Bereich handele; der Kläger sei weder in psychotherapeutischer Behandlung noch nehme er entsprechende Medikamente. Der Kläger überreichte zum Beleg der von ihm beklagten Luftnot einen Arztbrief der D Krankenhaus GmbH, B, vom 12. September 2000 über eine stationäre Behandlung des Klägers vom 30. April bis zum 9. Mai 2000, während der die Diagnose „Status asthmaticus, allergischer Genese“ gestellt worden war. Durch Widerspruchsbescheid vom 7. August 2006 wies der Beklagte den Widerspruch des Klägers zurück.

Hiergegen hat der Kläger am 11. August 2006 Klage beim Sozialgericht Berlin erhoben. Das Sozialgericht hat ein allgemeinmedizinisches Gutachten des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. B vom 8. März 2006 beigezogen, das dieser in dem Rentenverfahren vor dem Sozialgericht Berlin erstellt hatte. Es hat außerdem einen Befundbericht des Facharztes für Innere Medizin und Pneumologen P vom 7. März 2007 eingeholt. Der Beklagte hat gutachtliche Stellungnahmen vorgelegt, und zwar eine nervenfachärztliche Stellungnahme der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie und Psychotherapeutin Dr. W vom 6. Dezember 2006, eine fachchirurgische Stellungnahme der Fachärztin für Chirurgie Dr. L vom 9. Januar 2007 sowie internistische Stellungnahmen der Fachärztin für Innere Medizin R vom 15. Januar 2007 und vom 10. April 2007.

In dem Verfahren vor dem Sozialgericht Berlin, in dem der Kläger eine Altersrente für schwerbehinderte Menschen nach § 236a des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch begehrt hatte, holte das Sozialgericht außer dem schon erwähnten Gutachten von Dr. B Befundberichte des Facharztes für Orthopädie Dr. W vom 1. September 2005, des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. J vom 5. September 2005, der Fachärztin für Neurologie Dr. G vom 11. Oktober 2005 und der Fachärztin für Arbeitsmedizin O vom 4. November 2005 ein und wies die Klage durch Urteil vom 1. November 2006 ab. In dem Berufungsverfahren holte das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg einen Befundbericht bei der Fachärztin für Psychiatrie L vom 30. März 2007 ein. Das Verfahren endete durch Vergleich am 8. Juni 2007, in dem sich der beklagte Rentenversicherungsträger verpflichtete, den Rentenantrag des Klägers erneut zu prüfen, soweit bei diesem ein Gesamt-GdB von 50 festgestellt werden sollte.

Das Sozialgericht hat die auf Zuerkennung eines Gesamt-GdB von mindestens 50 gerichtete Klage durch Urteil vom 28. Oktober 2008 abgewiesen. Ein höherer Gesamt-GdB als 40 komme nicht in Betracht.

Gegen das ihm am 10. Januar 2009 zugestellte Urteil hat der Kläger am 13. Januar 2009 Berufung eingelegt. In dem Berufungsschriftsatz hat er beantragt, bei ihm unter Abänderung des erstinstanzlichen Urteils einen GdB von 50 ab dem 23. August 2005 festzustellen. Der Befundbericht von der Fachärztin für Psychiatrie L vom 30. März 2007 sei vom Sozialgericht nicht berücksichtigt worden. Für seine chronische Bronchitis sei ein GdB von 40, mindestens aber 30 anzusetzen. Für seine Wirbelsäulenbeschwerden sei ein GdB von 30 anzusetzen, wegen seiner psychischen Beschwerden ein solcher von 40. Er leide seit Jahren an Schwindelgefühlen, die mit einem GdB von 30 zu bewerten seien.

Am 5. März 2008 hat der Kläger bei dem Beklagten einen erneuten Verschlimmerungsantrag gestellt. Der Beklagte hat Befundberichte bei dem Orthopäden Dr. S vom 22./27. Januar 2009 sowie der Fachärztin für Psychiatrie L vom 27. Januar 2009 eingeholt, aber über den Verschlimmerungsantrag noch nicht entschieden.

Der Senat hat einen Befundbericht bei der Fachärztin für Psychiatrie L vom 17. August 2009 eingeholt und den Kläger mit Schreiben vom 31. März 2011 darum gebeten zu erklären, ob und gegebenenfalls bei wem er sich in ärztlicher – insbesondere in psychiatrischer – Behandlung befinde. Mit Schreiben vom 3. April 2011 hat der Kläger darauf unter anderem erklärt, das „Zeitfenster [s]einer Klage und Berufungsklage [betrage] den Zeitraum von ca. August 2005 bis ca. Ende 2009“, und auf den Befundbericht der Fachärztin für Psychiatrie L vom 30. März 2007 verwiesen.

Der Kläger beantragt nach seinem schriftsätzlichen Vorbringen sinngemäß, das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 28. Oktober 2008 abzuändern und den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 26. Januar 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. August 2006 zu verurteilen, für den Kläger für die Zeit vom 23. August 2005 bis zum 31. Dezember 2009 einen Grad der Behinderung von 50 festzustellen.

Der Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen und die im Berufungsverfahren für die Zeit vom 23. August 2005 bis zum 4. September 2005 neu erhobene Klage als unzulässig abzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend und verweist auf die erstinstanzlich eingereichten fachärztlichen Stellungnahmen sowie die im Berufungsverfahren vorgelegte fachchirurgische Stellungnahme der Fachärztin für Chirurgie H vom 16. Juli 2009 und die psychiatrischen Stellungnahmen des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie und Sozialmediziners Dr. S vom 21. Juli 2009, vom 11. September 2009 und vom 27. April 2011.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, insbesondere die Schriftsätze der Beteiligten, den Inhalt der Gerichtsakte des Sozialgerichts Berlin sowie den Verwaltungsvorgang des Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Soweit der Kläger sein Begehren im Berufungsverfahren auch auf den Zeitraum vom 23. August bis 4. September 2005 erstreckt hat, entscheidet der Senat nicht über eine Berufung, sondern eine Klage. Denn insoweit hat das Sozialgericht, das ausweislich des Tatbestandes des angegriffenen Urteils von dem im September 2005, also dem am 5. September 2005 gestellten Antrag, ausgegangen ist, keine Entscheidung getroffen. Diese Klage ist bereits deshalb unzulässig, weil der Beklagte für diesen Zeitraum keine Verwaltungsentscheidung getroffen hat. Ein Antrag vor dem 5. September 2005, über den der Beklagte hätte befinden können, ist den Akten nicht zu entnehmen.

Die Berufung des Klägers ist im Übrigen zulässig, jedoch unbegründet. Das Urteil des Sozialgerichts ist zutreffend.

Der angefochtene Bescheid des Beklagten in der Gestalt des Widerspruchsbescheides ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Feststellung eines GdB von 50 im Zeitraum vom 5. September 2005 bis zum 31. Dezember 2009. Denn eine wesentliche Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen, die die Zuerkennung eines GdB von mehr als 40 rechtfertigt, liegt nicht vor (§ 48 Abs. 1 Satz 1 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch).

Nach § 69 Abs. 1 Satz 1 des Sozialgesetzbuches Neuntes Buch (SGB IX) stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den Grad der Behinderung fest. Bei der Prüfung, ob diese Voraussetzungen vorliegen, sind für die Zeit bis zum 31. Dezember 2008 (grundsätzlich) die vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (vormals Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung) herausgegebenen Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) in ihrer jeweils geltenden Fassung (hier maßgeblich Ausgaben 2005 und 2008 – AHP 2005 und 2008) zu beachten, die gemäß § 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX für die Zeit ab dem 1. Januar 2009 durch die in der Anlage zu § 2 der Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 BVG – Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) – vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I Seite 2412) festgelegten „versorgungsärztlichen Grundsätze“ abgelöst worden sind, die inzwischen ihrerseits durch die Verordnungen vom 1. März 2010 (BGBl. I Seite 249), 14. Juli 2010 (BGBl. I Seite 928) und 17. Dezember 2010 (BGBl. I Seite 2124) Änderungen erfahren haben. Die AHP sind zwar kein Gesetz und sind auch nicht aufgrund einer gesetzlichen Ermächtigung erlassen worden. Es handelt sich jedoch bei ihnen um eine auf besonderer medizinischer Sachkunde beruhende Ausarbeitung im Sinne von antizipierten Sachverständigengutachten, die die möglichst gleichmäßige Handhabung der in ihnen niedergelegten Maßstäbe im gesamten Bundesgebiet zum Ziel hat. Die AHP engen das Ermessen der Verwaltung ein, führen zur Gleichbehandlung und sind deshalb auch geeignet, gerichtlichen Entscheidungen zugrunde gelegt zu werden. Gibt es solche anerkannten Bewertungsmaßstäbe, so ist grundsätzlich von diesen auszugehen (vgl. z. B. Bundessozialgericht <BSG>, Urteil vom 18. September 2003 – B 9 SB 3/02 R -, bestätigt in BSG, Urteil vom 2. Dezember 2010 – B 9 SB 4/10 R – beide bei juris), weshalb sich auch der Senat für die Zeit bis zum 31. Dezember 2008 grundsätzlich auf die genannten AHP stützt. Für die Zeit ab dem 1. Januar 2009 ist demgegenüber für die Verwaltung und die Gerichte die zu diesem Zeitpunkt in Kraft getretene Anlage zu § 2 VersMedV maßgeblich, mit der die in den AHP niedergelegten Maßstäbe mit lediglich redaktionellen Anpassungen in eine normative Form gegossen worden sind, ohne dass die bisherigen Maßstäbe inhaltliche Änderungen erfahren hätten. Trotz der im Jahre 2010 vorgenommenen Änderungen gelten sie im vorliegenden Fall fort, weil die Änderungen Bereiche betreffen, auf die es hier nicht ankommt.

Einzel-GdB sind entsprechend den genannten Maßstäben als Grad der Behinderung in Zehnergraden entsprechend den Maßstäben des § 30 Abs. 1 BVG zu bestimmen. Für die Bildung des Gesamt-GdB bei Vorliegen mehrerer Funktionsbeeinträchtigungen sind nach § 69 Abs. 3 SGB IX die Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander zu ermitteln, wobei sich nach Teil A Nr. 3 a) der Anlage zu § 2 VersMedV (Seite 10; ebenso bereits Teil A Nr. 19 AHP 2005 und 2008, Seite 24 ff.) die Anwendung jeglicher Rechenmethode verbietet. Vielmehr ist zu prüfen, ob und inwieweit die Auswirkungen der einzelnen Behinderungen voneinander unabhängig sind und ganz verschiedene Bereiche im Ablauf des täglichen Lebens betreffen oder ob und inwieweit sich die Auswirkungen der Behinderungen überschneiden oder gegenseitig verstärken. Dabei ist in der Regel von einer Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten Grad 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden, wobei die einzelnen Werte jedoch nicht addiert werden dürfen. Leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB-Grad von 10 bedingen, führen grundsätzlich nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung; auch bei leichten Funktionsstörungen mit einem GdB-Grad von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen (Teil A Nr. 3 d) aa) – ee) der Anlage zu § 2 VersMedV, Seite 10; ebenso zuvor AHP 2005 und 2008 Teil A Nr. 19 Abs. 1, 3 und 4, Seite 24 ff.).

Hiervon ausgehend hat der Kläger keinen Anspruch auf Zuerkennung eines höheren GdB als 40 ab dem 5. September 2005. Denn den bei ihm bestehenden Funktionsbeeinträchtigungen wird mit dem von dem Beklagten festgestellten GdB von 40 angemessen Rechnung getragen. Dies ergibt sich maßgeblich aus dem Gutachten des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. B vom 8. März 2006, das der Senat verwerten kann. Dem steht hier nicht die Tatsache entgegen, dass es sich um ein Sachverständigengutachten handelt, das in einem die gesetzliche Rentenversicherung betreffenden Gerichtsverfahren erstellt worden ist.

Gemäß § 128 Abs. 1 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Das Gericht würdigt das Gesamtergebnis des Verfahrens einschließlich der Beweisaufnahme frei nach der Überzeugungskraft der jeweiligen Beweismittel und des Beteiligtenvortrags unter Abwägung aller Umstände und insbesondere einander widersprechender Beweisergebnisse (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Sozialgerichtsgesetz, 9. Auflage 2008, § 128, Rn. 4). Dabei ist das durch Dr. B erstellte Gutachten hier ein geeignetes und damit in die Beweiswürdigung einzubeziehendes Beweismittel. Denn nach dem durch das Erste Gesetz zur Modernisierung der Justiz (1. Justizmodernisierungsgesetz) vom 24. August 2004 (BGBl. I S. 2198) mit Wirkung zum 1. September 2004 eingefügten § 411a der Zivilprozessordnung, der gemäß § 118 Abs. 1 SGG im sozialgerichtlichen Verfahren entsprechend anwendbar ist, kann die schriftliche Begutachtung durch die Verwertung eines gerichtlich oder staatsanwaltschaftlich eingeholten Sachverständigengutachtens aus einem anderen Verfahren ersetzt werden. Diese Vorschrift ermöglicht es, ein in einem anderen Verfahren eingeholtes Gutachten nicht nur als Urkundenbeweis, sondern als Sachverständigenbeweis zu benutzen (vgl. BSG, Beschluss vom 13. Juli 2010 – B 9 VH 1/10 B – juris; vgl. auch Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Sozialgerichtsgesetz, 9. Auflage 2008; § 103, Rn. 11e; vgl. BSG, Beschluss vom 26. Mai 2000 – B 2 U 90/00 B – juris, wo noch von der Verwertung im Wege des Urkundenbeweises ausgegangen wird).

Der Senat ist hier nicht gehalten, selbst ein Sachverständigengutachten einzuholen. Insbesondere § 103 SGG, nach dem das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen erforscht, wobei die Beteiligten dabei heranzuziehen sind (Satz 1), und es an das Vorbringen und die Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden ist (Satz 2), erfordert hier keine weitere Sachverhaltsaufklärung durch Einholung eines Sachverständigengutachtens. Der Umfang der in § 103 SGG geregelten Amtsermittlungspflicht richtet sich nach dem Streitgegenstand, nämlich dem prozessualen Anspruch des Klägers unter Berücksichtigung der Verteidigung des Beklagten und der möglichen Entscheidung des Gerichts (vgl. Leitherer, a. a. O., Rn. 4). Die Gerichte haben den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen, wobei das Ausmaß der Aufklärung und die Wahl der Beweismittel in ihr pflichtgemäßes Ermessen gestellt sind und weitgehend vom Einzelfall abhängen (vgl. Großer Senat des BSG, Beschluss vom 11. Dezember 1969 – GS 2/68 – juris). Den Umfang der Amtsermittlung bestimmt das Gericht also aufgrund pflichtgemäßer Würdigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls (vgl. BSG, Urteil vom 17. Dezember 1997 – 11 RAr 61/97 – juris). Dabei gilt der allgemeine Grundsatz, dass sich die amtliche Sachaufklärungspflicht nicht auf Tatsachen erstreckt, für deren Bestehen die Umstände des Einzelfalls keine Anhaltspunkte bieten (vgl. BSG, Urteile vom 21. September 2000 – B 11 AL 7/00 R – und vom 5. April 2000 – B 5 RJ 38/99 R – beide bei juris).

Nach Maßgabe dieser Grundsätze erachtet der Senat bei pflichtgemäßer Würdigung sämtlicher Umstände des Einzelfalles eine (erneute) Begutachtung des Klägers hier nicht als geboten. Ob es zur Aufklärung eines Sachverhalts in medizinischer Hinsicht im gerichtlichen Verfahren regelmäßig der Einholung eines Sachverständigengutachtens bedarf und ob dabei sowohl im Hinblick auf das jeweilige medizinische Fachgebiet als auch im Hinblick auf die sozialmedizinischen Erfordernisse auf eine hinreichende Qualifikation und Erfahrung von Sachverständigen zu achten ist (so Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 12. Mai 2011 – L 13 SB 49/11 – juris), kann hier dahinstehen. Denn das Gutachten des Sachverständigen Dr. B, an dessen hinreichender Qualifikation und Erfahrung auch in Bezug auf das vorliegende schwerbehindertenrechtliche Verfahren keine Zweifel bestehen, enthält hier solche Feststellungen, die eine Bewertung des GdB des Klägers ohne weiteres ermöglichen.

Der Verwertung des Gutachtens von Dr. B steht schließlich auch nicht entgegen, dass es mittlerweile mehr als fünf Jahre alt ist und bezogen auf den streitigen Zeitraum über drei Jahre alt war. Die Einholung eines (weiteren) Sachverständigengutachtens ist – wie auch die sonstige Beweiserhebung – zur Erfüllung der Ermittlungspflicht des Gerichts nach § 103 SGG nur erforderlich, wenn sich das Gericht bei Zugrundelegung seiner rechtlichen Beurteilung hätte gedrängt fühlen müssen, bestimmte weitere Ermittlungen anzustellen (vgl. BSG, Beschluss vom 7. November 2001 – B 9 SB 51/00 B – juris). Ein Gutachten muss also nicht allein wegen Zeitablaufs ungeeignet sein, die Grundlage der Entscheidungsfindung zu bilden. Ein Verfahrensmangel liegt in der Verwertung eines länger zurückliegenden Gutachtens nur dann, wenn das Gericht sich hätte gedrängt fühlen müssen, ein neues Gutachten einzuholen (vgl. BSG, Beschluss vom 1. Dezember 1987 – 5b BJ 208/86 – juris). Letzteres ist hier nicht der Fall. Denn – wie in der Erörterung der einzelnen Erkrankungen noch aufzuzeigen sein wird – hat der Senat keine Anhaltspunkte dafür, dass es seit der Begutachtung durch Dr. B zu einer für die Bemessung des GdB wesentlichen Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Klägers gekommen ist. Vielmehr geht aus den eingeholten Befundberichten sowie den übrigen medizinischen Unterlagen hervor, dass es jedenfalls bis zum Ende des streitigen Zeitraums zu keiner derartigen Verschlechterung des Gesundheitszustands gekommen ist. Dabei gilt hier im Einzelnen Folgendes:

Der Beklagte hat die psychische Störung des Klägers als stärker behindernde Störung mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit nach Teil B Nr. 3.7 der Anlage zu § 2 VersMedV, Seite 27, und Teil A Nr. 26.3 AHP 2005 und 2008 (Seite 48) zu Recht großzügig mit einem Einzel-GdB von 30 beurteilt. Eine Höherbewertung ist nach den vorliegenden medizinischen Unterlagen ausgeschlossen. Dies ergibt sich in erster Linie aus dem Gutachten des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. B vom 8. März 2006. In der Untersuchung durch diesen Sachverständigen wirkte der Kläger allenfalls subdepressiv und mäßig affektlabil. Kontaktaufnahme und Kommunikation waren problemlos, der Kläger wirkt recht aufgeräumt und in sich ruhend. Die Anamnese wurde umfassend und detailgenau dargelegt, während des ausführlichen Gespräches zeigten sich keine krankheitswertigen kognitiven Defizite bei normaler Konzentrations- und Merkfähigkeit bei gutem Durchhaltevermögen. Aus der Alltagsanamnese ergaben sich ebenfalls keine Hinweise für eine manifeste Depression oder Angsterkrankung; bestätigen ließen sich allenfalls leichtere soziale Rückzugstendenzen mit dezenter phobischer Tönung. Nichts anderes lässt sich dem vom Beklagten im Widerspruchsverfahren eingeholten Gutachten der Ärztin für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie Dr. W vom 16. Juli 2006 entnehmen. Sie schildert eine „etwas“ depressiv-dysphorische Stimmungslage. Bei dieser Sachlage und allenfalls sporadischer fachärztlicher Behandlung – eine Tatsache, die für das psychiatrische Fachgebiet auf einen nur geringen Leidensdruck schließen lässt – lässt sich eine wesentliche Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit überhaupt nur deshalb knapp rechtfertigen, weil der Kläger unter einem organisch nicht erklärlichen Schwindelgefühl, das der Sachverständige Dr. B als einen Teilaspekt einer Psychosomatose betrachtet, sowie unter einem Luftnotgefühl, bei dem es sich nach Dr. B am ehesten um ein Hyperventilationssyndrom handelt, leidet. Auch die Mitteilungen der behandelnden Ärzte rechtfertigen nicht die Annahme eines höheren GdB. Dr. G, die der Kläger nur ein Mal aufgesucht hat, benennt in ihrem Befundbericht vom 26. Oktober 2005 als Diagnosen eine soziale Phobie sowie Angst und depressive Störung gemischt. Die Fachärztin für Psychiatrie L, die der Kläger zwischen Januar und August 2007 und einmalig nochmals am 19. März 2009 aufgesucht hat, diagnostiziert neben einer Insomnie eine depressive Störung (anamnestisch eher larvierte Depression) bei Chronifizierungstendenz des Störungsbildes. In ihrem Befundbericht vom 30. März 2007 hat sie als Diagnose eine Anpassungsstörung mit depressiver Symptomatik (differentialdiagnostisch eher anhaltende Angst und depressive Störung gemischt) genannt. Funktionsbeeinträchtigungen im Sinne einer wesentlichen Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit lassen sich diesen Diagnosen nicht ohne weiteres entnehmen.

Kein höherer Einzel-GdB als 20 folgt aus dem Wirbelsäulenleiden. Dessen Bewertung richtet sich nach Teil B Nr. 18.9 der Anlage zu § 2 VersMedV, Seite 89 f. und Teil A Nr. 26.18 AHP 2005 und 2008, S. 115 f. Der GdB bei angeborenen und erworbenen Wirbelsäulenschäden ergibt sich danach primär aus dem Ausmaß der Bewegungseinschränkung, der Wirbelsäulenverformung und -instabilität sowie aus der Anzahl der betroffenen Wirbelsäulenabschnitte. Der Begriff Instabilität beinhaltet die abnorme Beweglichkeit zweier Wirbel gegeneinander unter physiologischer Belastung und die daraus resultierenden Weichteilveränderungen und Schmerzen. Sogenannte Wirbelsäulensyndrome (wie Schulter-Arm-Syndrom, Lumbalsyndrom, Ischialgie, sowie andere Nerven- und Muskelreizerscheinungen) können bei Instabilität und bei Einengungen des Spinalkanals oder der Zwischenwirbellöcher auftreten. Zu bewerten sind Wirbelsäulenschäden wie folgt:

– Ohne Bewegungseinschränkung oder Instabilität 0,

– mit geringen funktionellen Auswirkungen (Verformung, rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität geringen Grades, seltene und kurzdauernd auftretende leichte Wirbelsäulensyndrome) 10,

– mit mittelgradigen funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt (Verformung, häufig rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität mittleren Grades, häufig rezidivierende und über Tage andauernde Wirbelsäulensyndrome) 20,

– mit schweren funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt (Verformung, häufig rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität schweren Grades, häufig rezidivierende und Wochen andauernde ausgeprägte Wirbelsäulensyndrome) 30,

– mit mittelgradigen bis schweren funktionellen Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten 30 bis 40,

– mit besonders schweren Auswirkungen (z. B. Versteifung großer Teile der Wirbelsäule; anhaltende Ruhigstellung durch Rumpforthese, die drei Wirbelsäulenabschnitte umfasst [z. B. Milwaukee-Korsett]; schwere Skoliose [ab ca. 70° nach Cobb]) 50 bis 70,

– bei schwerster Belastungsinsuffizienz bis zur Geh- und Stehunfähigkeit 80 bis 100.

Nach Maßgabe dieser Vorgaben ist der Einzel-GdB für das Wirbelsäulenleiden mit 20 sehr großzügig bemessen. Dies ergibt sich aus dem Gutachten des Sachverständigen Dr. B vom 8. März 2006. Gesichert ist nach diesem Gutachten zwar ein sequestrierter Prolaps bei L5/S1, der am 19. Mai 2004 operiert worden ist. Bei der Untersuchung durch den Sachverständigen Dr. B konnten jedoch am Achsenorgan keine wesentlich von der Norm abweichenden Befunde erhoben werden. Sämtliche Abschnitte des Achsenorgans waren annähernd normal beweglich, bei gut erhaltener Inklinationsfähigkeit (FZA 16 cm, Lendenschober 10/16) waren lediglich die Seitneigung und Rotation der LWS um allenfalls ein Drittel gemindert. Nervenwurzelreizerscheinungen ließen sich nicht nachweisen, auch keine nennenswerten Residuen des Bandscheibenvorfalls (Pseudolasegue 60° und 70°, keine sensomotorischen Defizite der Beine). Die körperliche Beweglichkeit des Klägers stellte sich für den Sachverständigen ansonsten „exzellent“ dar. Es wurde eine Vielzahl von Lagerungs- und Funktionsproben harmonisch und zügig dargeboten, das Gangbild war normal. An der Wirbelsäule waren somit weder nennenswerte Funktionseinbußen noch radikuläre Zeichen oder neurologische Defizite objektivierbar. Anhaltspunkte für eine Verschlimmerung der orthopädischen Leiden seit Gutachtenerstattung durch Dr. B sind nicht erkennbar. Sie ergeben sich auch nicht aus dem Befundbericht von Dr. S vom 22./27. Januar 2009, der weitgehend die Diagnosen bestätigt, die bereits in dem Befundbericht von Dr. W vom 1. September 2005 im sozialgerichtlichen Rentenverfahren mitgeteilt worden waren, und im Übrigen keine Funktionsstörungen nennt. Bei dieser Sachlage stellt die Annahme mittelgradiger funktioneller Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt mit einem Einzel-GdB von 20 die höchstdenkbare Bewertung dar.

Die bei dem Kläger bestehende Erkrankung von Seiten der Atemwege ist wegen des geringen Grades der dauernden Einschränkung der Lungenfunktion bei Blutgaswerten im Normbereich nach Teil B Nr. 8.3 der Anlage zu § 2 VersMedV, Seite 44, und Teil A Nr. 26.8 AHP 2005 und 2008, Seite 68, mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten. Denn unter Berücksichtigung des Befundberichts des Facharztes für Innere Medizin und Pneumologen P vom 7. März 2007 ergibt sich angesichts der dort beschriebenen unauffälligen Verhältnisse kein Anhalt dafür, dass die insoweit bestehenden Funktionsbehinderungen höher zu bewerten wären. Ob daneben eine chronische Bronchitis vorliegt kann offen bleiben. Sie wäre allenfalls als eine solche der leichten Form ohne dauernde Einschränkung der Lungenfunktion und damit nach Teil B Nr. 8.2 der Anlage zu § 2 VersMedV, Seite 43, und Teil A Nr. 26.8 AHP 2005 und 2008, Seite 67, mit einem den Gesamt-GdB nicht erhöhenden Einzel-GdB von 10 zu bewerten. Anhaltspunkte für das Vorliegen einer einen Einzel-GdB von 20 bis 30 rechtfertigenden schweren Form der chronischen Bronchitis, die nach den genannten Grundlagen einen fast kontinuierlich ausgiebigen Husten und Auswurf sowie häufige akute Schübe voraussetzt, hat der Senat nicht.

Von Vorstehendem ausgehend ergibt sich kein höherer Gesamt-GdB als 40. Das mit allenfalls 30 zu bewertende psychische Leiden kann infolge der von Seiten der Atemwegserkrankung bestehenden Funktionsbeeinträchtigungen, die mit 20 zu bewerten sind, um 10 auf 40 erhöht werden. Die Funktionsbeeinträchtigungen von Seiten der Wirbelsäule, die mit höchstens 20 zu bewerten sind und allenfalls zu leichten Einschränkungen führen, wirken sich nicht GdB-erhöhend aus.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ausgang des Rechtsstreits.

Die Revision ist nicht zugelassen worden, weil ein Grund hierfür gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG nicht vorliegt.

 

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Rechtsanwalt und Notar Dr. Christian Kotz
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