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Brille kaputt Bürgergeld: Wann Jobcenter für Reparatur zahlt – LSG Urteil

Für Menschen im Bürgergeld-Bezug bedeutet eine kaputte Brille oft mehr als nur ein Ärgernis: Es ist eine existenzielle Frage, wer die hohen Reparaturkosten übernimmt, wenn das Budget keine Spielräume lässt. Das Jobcenter lehnt Anträge häufig ab und verweist auf den Regelbedarf. Ein spektakulärer Fall landete nun vor dem Landessozialgericht in Nordrhein-Westfalen, das eine wegweisende Entscheidung traf. Dieses Urteil enthüllt, unter welchen Bedingungen das Jobcenter für die Sehhilfe zahlen muss und wo die Fallstricke lauern.

Übersicht

Bürgergeldempfängerin prüft Ablehnung einer Übernahme einer Brillenreparatur. LSG NRW entscheidet.
Das LSG Urteil klärt die Kosten für eine kaputte Brille bei Bürgergeld-Bezug | Symbolbild: KI generiertes Bild

Das Wichtigste: Kurz & knapp

  • Das Jobcenter muss Kosten für die Reparatur einer kaputten Brille übernehmen, wenn es sich wirklich um eine Reparatur handelt und die Brille weiterverwendet wird. Der einfache Austausch zerkratzter Gläser gilt hier als Reparatur, nicht als Neuanschaffung.
  • Betroffen sind Menschen, die Bürgergeld beziehen und dringend auf therapeutische Hilfsmittel wie Brillen angewiesen sind.
  • Bevor Kosten selbst getragen werden, sollte zuerst die Krankenkasse kontaktiert werden, da sie vorrangig zuständig ist. Wird dies nicht beachtet, kann der Anspruch auf Erstattung verloren gehen.
  • Das Jobcenter springt dann als „Ausfallbürge“ ein, übernimmt aber nur die Kosten, die medizinisch notwendig und angemessen sind – teurere, komfortable Extras müssen selbst bezahlt werden.
  • Wichtig ist, alle Anträge schriftlich zu stellen, Belege gut aufzubewahren und bei Ablehnung Widerspruch oder Klage innerhalb der Fristen einzulegen.
  • Das Urteil stärkt die Rechte von Bürgergeld-Empfängern, macht aber auch deutlich, wie wichtig korrekte Verfahrenswege sind, damit Hilfen nicht verloren gehen.
  • Das Urteil wurde vom Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen gefällt und wird nun vom Bundesgerichtshof überprüft, daher könnten sich die Regeln in Zukunft noch ändern.

Quelle: Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen Az.: L 12 AS 116/23 vom 27. November 2024

Brille kaputt, Geld knapp: Wann das Jobcenter für die Reparatur einspringen muss – Ein wegweisendes Urteil und seine Folgen

Ein unglücklicher Sturz, eine zerbrochene Brille – für viele Menschen ein Ärgernis, für Bezieher von Bürgergeld oft eine finanzielle Katastrophe. Die Kosten für eine neue Sehhilfe oder auch nur für neue Gläser können schnell mehrere hundert Euro betragen, eine Summe, die im knappen Budget kaum unterzubringen ist. Genau mit einem solchen Fall musste sich das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen auseinandersetzen. Das Urteil (Aktenzeichen L 12 AS 116/23) gibt Betroffenen Hoffnung, zeigt aber auch klar die Grenzen der Kostenübernahme durch das Jobcenter auf und unterstreicht die Wichtigkeit, formale Wege einzuhalten.

Stellen wir uns Frau S. vor, eine Bürgergeld-Empfängerin aus Köln. Im Dezember 2019 hatte sie sich eine neue Gleitsichtbrille für insgesamt 900 Euro angeschafft – eine Investition in gutes Sehen, die wohlüberlegt war. Die Fassung kostete 140 Euro, die hochwertigen Gläser jeweils 380 Euro. Doch das Glück währte nicht lange. Etwa acht Monate später, im August 2020, stürzte Frau S. und verletzte sich im Gesicht. Die unglückliche Folge: Beide Brillengläser waren stark zerkratzt und unbrauchbar geworden. Das Brillengestell selbst konnte glücklicherweise gerichtet und weiterverwendet werden. Ohne funktionierende Brille war Frau S. in ihrem Alltag jedoch stark eingeschränkt.

Der steinige Weg zum Ersatz: Antrag, Ablehnung und der Gang vor Gericht

Am 11. September 2020 wandte sich Frau S. an das zuständige Jobcenter Köln und beantragte die Übernahme der Kosten für zwei neue Brillengläser. Sie legte einen Kostenvoranschlag über 780 Euro vor – der Preis für Gläser gleicher Qualität wie die beschädigten. In ihrem Antrag wies sie darauf hin, dass ihre private Unfall- und Hausratversicherung für den Schaden nicht aufkommen würde.

Die Antwort des Jobcenters kam prompt und war ernüchternd: Mit Bescheid vom 15. September 2020 wurde der Antrag abgelehnt. Die Begründung: Die beantragte Sonderleistung sei bereits durch den gewährten Regelbedarf abgedeckt. Der Regelbedarf ist jener monatliche Pauschalbetrag im Bürgergeld, der die laufenden Kosten des täglichen Lebens wie Ernährung, Kleidung und auch kleinere Gesundheitsausgaben decken soll.

Frau S. ließ sich nicht entmutigen und legte am 12. Oktober 2020 Widerspruch ein. Sie argumentierte, dass die Kosten für die Brillengläser eben nicht im Regelsatz enthalten seien und daher als Zuschuss gewährt werden müssten. Sie verwies dabei sogar auf frühere Urteile des Bundessozialgerichts, was zeigt, dass sie sich bereits intensiv mit der Rechtslage auseinandergesetzt hatte. Da sie dringend auf ihre Brille angewiesen war, kaufte Frau S. die neuen Brillengläser bereits am 20. November 2020 für die veranschlagten 780 Euro – ein finanzielles Risiko, da über ihren Widerspruch bislang nicht entschieden war.

Das Jobcenter blieb bei seiner Haltung und wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 14. Januar 2021 als unbegründet zurück. Nun wurde die Argumentation detaillierter: Der Austausch beider Brillengläser sei keine Reparatur mehr, sondern ein Austausch im Sinne einer Neuanschaffung.

Die Kosten für die Anschaffung von Brillen seien aber vom Regelbedarf umfasst. Zudem verwies das Jobcenter auf ein anderes Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen und die Möglichkeit für Frau S., ein Darlehen zu beantragen oder eine Bezuschussung durch ihre Krankenkasse, die T., zu prüfen.

Für Frau S. war klar: Sie musste den Rechtsweg beschreiten. Sie erhob Klage vor dem Sozialgericht (SG) Köln. Doch auch hier erlitt sie zunächst eine Niederlage. Das SG Köln wies ihre Klage mit Urteil vom 2. Dezember 2022 (Aktenzeichen S 11 AS 414/21) ab. Die Kernaussagen des Gerichts: Der Austausch der Gläser sei grundsätzlich als Neuanschaffung zu werten. Außerdem hätte Frau S. einen vorrangigen Anspruch gegen ihre Krankenkasse gehabt, den sie hätte verfolgen müssen.

Doch Frau S. gab nicht auf und legte Berufung beim Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen ein. Und dieser Schritt sollte zumindest teilweise erfolgreich sein.

Das Urteil des Landessozialgerichts: Ein Teilerfolg mit Signalwirkung

Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen fällte am 27. November 2024 eine differenzierte Entscheidung, die das Urteil des Sozialgerichts Köln teilweise abänderte. Der Senat verurteilte das Jobcenter, Frau S. Leistungen nach dem SGB II (Sozialgesetzbuch Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitsuchende, bzw. Bürgergeld) in Höhe von 256 Euro zu gewähren. Das Jobcenter musste zudem ein Drittel der außergerichtlichen Kosten von Frau S. für beide Rechtszüge erstatten. Entscheidend war jedoch auch: Das LSG ließ die Revision zum Bundessozialgericht (BSG) zu, was die grundsätzliche Bedeutung des Falles unterstreicht.

Doch wie kam das Gericht zu dieser Entscheidung? Die Richter des LSG beleuchteten mehrere juristische Aspekte sehr genau.

Die Brille als therapeutisches Gerät und die Frage der Reparatur

Ein zentraler Punkt war die Einordnung der Brille. Das LSG stufte sie als therapeutisches Gerät im Sinne des § 24 Absatz 3 Satz 1 Nummer 3 SGB II ein. Diese Vorschrift ist wichtig, denn sie besagt, dass Bedarfe für die Reparatur von therapeutischen Geräten und Ausrüstungen sowie die Miete von therapeutischen Geräten gesondert neben dem Regelbedarf erbracht werden.

Kosten für die Reparatur solcher Geräte sind also nicht pauschal vom Regelbedarf umfasst. Das Gericht stützte sich dabei auch auf Ausfüllhinweise des Statistischen Bundesamts zur Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS), aus denen hervorgeht, dass zwar die Anschaffung von Brillen regelbedarfsrelevant ist, nicht aber deren Reparatur.

Damit war die nächste Frage entscheidend: Handelte es sich beim Austausch der beiden Brillengläser um eine Reparatur oder um eine Neuanschaffung, wie das Jobcenter und das Sozialgericht argumentiert hatten? Das LSG stellte hier klar: Es ist unerheblich, ob nur ein oder beide Gläser ausgetauscht werden müssen. Eine Reparatur liegt dann vor, wenn die defekte Brille durch den Austausch der Gläser in den funktionsfähigen Zustand vor dem Schadensereignis zurückversetzt wird.

Da das Brillengestell im Fall von Frau S. weiterverwendet wurde und die neuen Gläser die gleichen Werte wie die alten aufwiesen (also kein Austausch wegen veränderter Sehstärke erfolgte), handelte es sich nach Ansicht des LSG eindeutig um eine Reparatur. Diese Auslegung ist für Betroffene günstig, da sie verhindert, dass Jobcenter umfangreichere Reparaturen zu leicht als Neuanschaffungen deklarieren, um eine Kostenübernahme zu umgehen.

Experten-Box: Regelbedarf, Sonderbedarf und therapeutische Geräte im Bürgergeld

Im Bürgergeld-System (Stand: Mai 2025) ist der Regelbedarf eine monatliche Pauschale, die typische laufende Ausgaben wie Nahrung, Kleidung, Haushaltsenergie (ohne Heizung und Warmwasser) und auch kleinere, regelmäßig anfallende Gesundheitsausgaben abdecken soll. Er ist so bemessen, dass daraus auch Ansparungen für größere, seltene Anschaffungen möglich sein sollen.

Demgegenüber steht der Sonderbedarf nach § 24 SGB II für einmalige, unabweisbare Ausgaben in besonderen Lebenslagen, die nicht vom Regelbedarf umfasst sind und auch nicht vorhersehbar waren oder angespart werden konnten. Dazu zählt gemäß § 24 Abs. 3 S. 1 Nr. 3 SGB II explizit die Reparatur von therapeutischen Geräten und Ausrüstungen. Therapeutische Geräte sind Hilfsmittel, die medizinisch notwendig sind, um eine Krankheit zu behandeln, einer Behinderung vorzubeugen oder sie auszugleichen. Beispiele sind Hörgeräte, Prothesen und eben auch Brillen. Die Kosten für die Anschaffung solcher Geräte sind in der Regel dem Regelbedarf oder den Leistungen der Krankenversicherung zuzuordnen, ihre Reparaturkosten können jedoch als Sonderbedarf geltend gemacht werden.

Der vergessene Weg: Der Anspruch gegen die Krankenkasse

Das LSG bestätigte jedoch auch einen wichtigen Punkt der Vorinstanz: Frau S. hätte grundsätzlich einen Anspruch auf Reparatur ihrer Brille gegen ihre gesetzliche Krankenkasse, die T-Kasse., gehabt. Ihre Sehbeeinträchtigung – auf dem rechten Auge über -7 Dioptrien – erfüllte die Voraussetzungen nach § 33 Absatz 2 Satz 2 Nummer 2 SGB V. Diese Norm regelt den Anspruch auf Sehhilfen für Versicherte über 18 Jahre unter bestimmten Bedingungen. Ein solcher Anspruch auf Hilfsmittel umfasst in der Regel auch deren Reparatur und setzt nicht zwingend eine erneute ärztliche Verordnung voraus, sofern die medizinische Notwendigkeit fortbesteht und es sich um eine Instandsetzung handelt.

Allerdings gab es hier ein Problem: Dieser an sich bestehende Primäranspruch gegen die Krankenkasse war im konkreten Fall nach Auffassung des LSG ausgeschlossen. Der Grund lag darin, dass Frau S. den sogenannten Beschaffungsweg nicht eingehalten hatte. Sie hatte die Krankenkasse erst kontaktiert, nachdem sie die neuen Brillengläser eigenmächtig gekauft hatte. Sie versuchte, eine nachträgliche Kostenerstattung zu erreichen, anstatt sich vorab mit der Kasse in Verbindung zu setzen und die Möglichkeiten einer Sachleistung oder einer genehmigten Kostenerstattung zu klären.

Dieses Versäumnis führte zum Verlust des Anspruchs gegenüber der Krankenkasse. Die Krankenkasse hatte in einer Stellungnahme im Verfahren mitgeteilt, dass eine nachträgliche Erstattung selbstbeschaffter Sehhilfen nicht möglich sei. Hätte Frau S. den korrekten Weg beschritten, wäre eine Kostenbeteiligung in Höhe von 256 Euro (abzüglich 10 Euro gesetzlicher Zuzahlung) für Standardgläser möglich gewesen.

Das Jobcenter als „Ausfallbürge“: Einspringen im Notfall

Da der vorrangige Anspruch gegen die Krankenkasse aufgrund des Fehlers von Frau S. im Beschaffungsweg nicht realisiert werden konnte, sah das LSG nun das Jobcenter in der Pflicht. Als Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende tritt das Jobcenter subsidiär ein, um das medizinische Existenzminimum der Klägerin sicherzustellen.

Das Gericht argumentierte, dass das sozialrechtlich zu gewährende Existenzminimum, das sich aus Artikel 1 Absatz 1 Grundgesetz (Menschenwürde) in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 1 Grundgesetz (Sozialstaatsprinzip) ableitet, auch eine ausreichende medizinische Versorgung umfasst. Dieser Grundsatz der „Ausfallbürgschaft“ stellt sicher, dass Leistungsberechtigte nicht ohne notwendige medizinische Versorgung bleiben, auch wenn ein primär zuständiger Leistungsträger aus bestimmten Gründen nicht leistet. Das Jobcenter ist also eine Art letzter Anker.

Die Grenzen der Haftung: Nur das medizinisch Notwendige

Obwohl das Jobcenter somit grundsätzlich leistungspflichtig wurde, begrenzte das LSG den Anspruch der Höhe nach auf das medizinisch Notwendige. Das Gericht stützte sich dabei auf die bereits erwähnte Auskunft der Krankenkasse T., die im Laufe des Gerichtsverfahrens eingeholt wurde. Demnach wäre seitens der Krankenkasse eine Kostenbeteiligung in Höhe von 256 Euro für Brillengläser aus Standardmaterial (Produkt Zeiss GS Easy View Min. 1.6, je 128 Euro) möglich gewesen.

Die von Frau S. tatsächlich erworbenen, deutlich teureren und höherwertigen Gläser (Modell „Top 2 1.74 Super ET Hartschicht Cleanschicht“ für 780 Euro) wurden als medizinisch nicht zwingend notwendig über diesen Standard hinausgehend bewertet.

Folglich sprach das LSG Frau S. nur einen Anspruch auf Erstattung der Kosten in Höhe dieser 256 Euro zu. Die erhebliche Differenz zu den tatsächlich aufgewendeten 780 Euro musste Frau S. selbst tragen. Dieses Ergebnis zeigt, dass die Rolle des Jobcenters als „Ausfallbürge“ zwar einen grundlegenden Schutz bietet, aber keine Garantie für die vollständige Übernahme aller tatsächlich entstandenen Kosten darstellt, insbesondere wenn diese über das als medizinisch notwendig und wirtschaftlich erachtete Maß hinausgehen.

Es ist auch ein deutliches Signal, die korrekten Verfahrenswege einzuhalten und die Notwendigkeit von Mehrausgaben sorgfältig zu prüfen und gegebenenfalls vorab mit den Leistungsträgern abzustimmen.

Rechtliche Würdigung und praktische Bedeutung der Entscheidung

Das Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen ist für die Praxis der Leistungsgewährung im Bürgergeld-Bezug von erheblicher Bedeutung. Es stärkt einerseits die Position von Leistungsberechtigten, setzt aber auch klare Leitplanken.

Die Verantwortung des Jobcenters als „Ausfallbürge“ ist ein zentrales Element. Die Entscheidung bekräftigt, dass das Jobcenter das soziokulturelle Existenzminimum sicherstellen muss, wozu auch die notwendige medizinische Versorgung gehört. Dass das Jobcenter auch dann einspringen kann, wenn ein vorrangiger Anspruch – wie hier gegen die Krankenkasse – durch ein Versäumnis des Antragstellers (Nichteinhaltung des Beschaffungswegs) scheitert, ist eine wichtige Absicherung.

Gleichzeitig wird aber auch die Eigenverantwortung der Leistungsempfänger betont. Die Einhaltung korrekter Verfahrenswege, insbesondere gegenüber vorrangig verpflichteten Trägern wie den Krankenkassen, ist essenziell. Frau S. musste den Großteil der Kosten selbst tragen, weil sie sich nicht vor der Beschaffung an ihre Kasse gewandt hatte. Dies sollte eine Mahnung für alle Betroffenen sein, sich immer zuerst bei der Krankenkasse über das Vorgehen und mögliche Kostenübernahmen zu informieren. Ein Anruf oder eine schriftliche Anfrage vorab kann viel Ärger und finanzielle Einbußen ersparen.

Die Definition von „Reparatur“ durch das LSG ist ebenfalls praxisrelevant. Die Klarstellung, dass der Austausch beider Brillengläser bei Weiterverwendung des Gestells als Reparatur gilt, solange keine medizinisch indizierte Änderung der Sehstärke erfolgt, ist für Leistungsberechtigte vorteilhaft. Sie verhindert eine zu enge Auslegung, die oft zu Lasten der Betroffenen ginge.

Allerdings bestätigt das Urteil auch die Grenzen der Leistungspflicht, die im Sozialrecht generell gelten. Der Anspruch, auch im Rahmen der Ausfallbürgschaft, ist auf das Maß des medizinisch Notwendigen und Wirtschaftlichen beschränkt. Kosten für höherwertige Ausführungen, die über das objektiv Erforderliche hinausgehen (z.B. spezielle Beschichtungen, besonders dünne Gläser aus reinen Komfort- oder ästhetischen Gründen, wenn Standardgläser medizinisch ausreichen würden), muss das Jobcenter nicht tragen. Das allgemeine Wirtschaftlichkeitsgebot verpflichtet die Sozialleistungsträger zu einem sparsamen Umgang mit Steuergeldern.

Im Fall von Frau S. bedeutete dies, dass sie zwar Anspruch auf Ersatz hatte, aber nur in der Höhe, die für eine Standardversorgung angefallen wäre. Ob der von der Krankenkasse genannte Standard den zuvor vorhandenen, hochwertigeren Gläsern qualitativ entsprach, oder ob das Tragen von schwereren Standardgläsern bei hohen Dioptrienwerten zumutbar ist, sind Fragen, die im Einzelfall durchaus diskutabel bleiben. Der von Frau S. befragte Optiker hatte ja Bedenken hinsichtlich des Gewichts von Standardgläsern bei ihren Werten geäußert, was vom Gericht aber offenbar nicht als ausreichend für eine höhere Kostenübernahme gewertet wurde.

Das Urteil illustriert zudem sehr gut das komplexe Zusammenspiel zwischen SGB II (Bürgergeld) und SGB V (Gesetzliche Krankenversicherung). Das SGB II fungiert hier als nachrangiges Sicherungssystem, das Lücken füllt, die andere Systeme nicht oder nicht mehr abdecken.

Was Betroffene aus diesem Urteil lernen können

Für Menschen, die Bürgergeld beziehen und vor ähnlichen Problemen stehen, lassen sich aus dem Urteil einige wichtige Ratschläge ableiten, auch wenn jeder Fall individuell geprüft werden muss:

  1. Krankenkasse zuerst kontaktieren: Bei Bedarf an medizinischen Hilfsmitteln oder deren Reparatur sollte der erste Weg immer zur Krankenkasse führen. Klären Sie, ob ein Anspruch besteht und wie das genaue Vorgehen ist (ärztliche Verordnung nötig? Bestimmte Vertragspartner?). Holen Sie eine schriftliche Zusage oder Ablehnung ein, bevor Sie selbst Kosten verursachen.
  2. Unterschied Reparatur vs. Neuanschaffung kennen: Die Reparatur von therapeutischen Geräten kann als Sonderbedarf vom Jobcenter übernommen werden, die Neuanschaffung ist oft schwieriger durchzusetzen oder nur als Darlehen möglich.
  3. Medizinische Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit beachten: Auch wenn das Jobcenter leistet, wird in der Regel nur das medizinisch Notwendige und Wirtschaftlichste übernommen. Wünsche nach höherwertigen Ausführungen müssen meist selbst finanziert werden.
  4. Anträge schriftlich stellen und Belege sammeln: Stellen Sie alle Anträge schriftlich und bewahren Sie Kopien sowie alle Belege (Kostenvoranschläge, Rechnungen, ärztliche Bescheinigungen) sorgfältig auf.
  5. Widerspruch und Klage als Optionen: Wenn ein Antrag abgelehnt wird, prüfen Sie die Möglichkeit eines Widerspruchs und gegebenenfalls einer Klage. Hierbei kann eine unabhängige Sozialberatungsstelle oder ein Fachanwalt für Sozialrecht helfen. Beachten Sie unbedingt die Fristen für Widerspruch (in der Regel ein Monat nach Erhalt des Bescheids) und Klage.

Ausblick: Die Revision beim Bundessozialgericht – Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen

Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen hat die Revision zum Bundessozialgericht (BSG) zugelassen. Das bedeutet, dass die höchsten deutschen Sozialrichter diesen Fall und die damit verbundenen Rechtsfragen noch einmal überprüfen können. Eine solche Zulassung erfolgt nur, wenn eine Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder das Urteil von einer Entscheidung höherer Gerichte abweicht.

Das BSG könnte in diesem Zusammenhang einige wichtige Fragen klären, die weit über den Einzelfall von Frau S. hinausgehen:

  • Wie sind die Voraussetzungen und Grenzen der „Ausfallbürgschaft“ des Jobcenters genau zu definieren, insbesondere wenn der Primäranspruch durch ein Verhalten des Leistungsberechtigten (wie die Nichteinhaltung des Beschaffungswegs) untergegangen ist?
  • Wie ist die Abgrenzung zwischen Reparatur und Neuanschaffung bei therapeutischen Geräten wie Brillen im Detail vorzunehmen? Ist die LSG-Definition haltbar?
  • Nach welchen Kriterien bestimmt sich das „medizinisch Notwendige“ bei Hilfsmittelreparaturen? Dürfen qualitative Aspekte, die über Basiskomfort hinausgehen, aber vielleicht für die Lebensqualität wichtig sind, berücksichtigt werden, insbesondere wenn zuvor bereits höherwertige Hilfsmittel vorhanden waren? Wie ist mit unterschiedlichen Standards verschiedener Krankenkassen umzugehen?
  • Wie ist das generelle Verhältnis des Sonderbedarfs nach § 24 Abs. 3 S. 1 Nr. 3 SGB II zum Regelbedarf und zu den Leistungspflichten der gesetzlichen Krankenversicherung zu justieren?

Eine Entscheidung des BSG hätte bindende Wirkung für alle Sozialgerichte und Jobcenter und könnte somit zu einer Vereinheitlichung der Rechtsprechung in solchen Fällen führen. Sie könnte entweder die Position der Leistungsberechtigten stärken oder die Anforderungen an eine Kostenübernahme durch das Jobcenter verschärfen.

Der Fall von Frau S. und ihrer Brille zeigt exemplarisch das Spannungsfeld, in dem sich das Sozialrecht bewegt: Es geht um die Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums, die Eigenverantwortung der Bürger, die Einhaltung von Verfahren und den wirtschaftlichen Einsatz von Steuergeldern. Das Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen ist ein wichtiger Baustein in dieser komplexen Rechtsmaterie. Die Augen der Fachwelt werden nun auf das Bundessozialgericht gerichtet sein, um zu sehen, wie es diese grundlegenden Fragen bewerten wird. Für Betroffene wie Frau S. bleibt die Hoffnung, dass am Ende eine klare und gerechte Lösung steht, die ihnen im Bedarfsfall schnell und unbürokratisch hilft.


FAQ – Häufig gestellte Fragen zur Brillenreparatur und Kostenübernahme im SGB II

Häufig gestellte Fragen (FAQ)

Was gilt als therapeutisches Gerät im Sinne des SGB II?

Basierend auf den Ausfüllhinweisen des Statistischen Bundesamtes zur Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) 2013 werden unter dem Begriff „therapeutische Mittel und Geräte“ eine Vielzahl von Gegenständen aufgeführt. Dazu gehören unter anderem elektrische und feinmechanische Gebrauchsgüter wie Hörgeräte, Massagegeräte, Bestrahlungsgeräte, Blutzucker- und Blutdruckmessgeräte sowie Ultraschall- und Kontaktlinsenreinigungsgeräte. Wichtig ist hierbei, dass Brillen und Kontaktlinsen ausdrücklich als therapeutische Geräte in diesem Sinne betrachtet werden. Auch andere therapeutische Geräte und Ausrüstungen sowie orthopädische Erzeugnisse wie Einlagen für Schuhe, Arm- und Beinprothesen, Bruchbänder, Krankenfahrstühle, -betten und Gehstöcke fallen darunter.


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Sind die Kosten für eine Brillenreparatur vom Regelbedarf im Bürgergeld umfasst?

Nein, die Kosten für die Reparatur einer Brille sind nicht vom Regelbedarf nach § 20 SGB II umfasst. Laut § 24 Abs. 3 S. 1 Nr. 3 SGB II werden Bedarfe für die Reparatur von therapeutischen Geräten, zu denen auch Brillen gehören, gesondert erbracht. Das bedeutet, dass Leistungsberechtigte einen Anspruch auf Übernahme dieser Kosten zusätzlich zum regulären Bürgergeld haben können.


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Wann gilt der Austausch von Brillengläsern als Reparatur und nicht als Neuanschaffung?

Der Austausch von Brillengläsern gilt als Reparatur, wenn die defekte Brille lediglich in ihren funktionsfähigen, defektfreien Zustand zurückversetzt wird, der vor dem Schadenseintritt bestand. Dabei spielt es keine Rolle, ob nur ein Glas oder beide Gläser ausgetauscht werden müssen, solange die neuen Gläser die gleichen Werte aufweisen wie die beschädigten und der Austausch aufgrund eines Defekts (z.B. durch einen Sturz) erfolgte und nicht primär zur Anpassung an eine geänderte Sehstärke medizinisch indiziert war. Eine Abgrenzung zur Neuanschaffung liegt vor, wenn der Ersatz der Gläser im Wesentlichen auf einer Anpassung an eine veränderte Sehstärke beruht.


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Haben gesetzlich Versicherte grundsätzlich Anspruch auf Kostenübernahme für eine Brillenreparatur durch die Krankenkasse?

Ja, grundsätzlich haben gesetzlich Versicherte, die das 18. Lebensjahr vollendet haben und bestimmte Dioptrienwerte überschreiten (mehr als 6 Dioptrien bei Myopie oder Hyperopie oder mehr als 4 Dioptrien bei Astigmatismus), Anspruch auf Versorgung mit einer Sehhilfe. Dieser Anspruch umfasst laut § 33 Abs. 1 S. 5 SGB V auch die notwendige Instandsetzung und gegebenenfalls Ersatzbeschaffung von Hilfsmitteln, wozu auch Brillen zählen, wenn die Notwendigkeit nicht vorsätzlich oder grob fahrlässig herbeigeführt wurde. Hierfür ist in der Regel auch keine neue vertragsärztliche Verordnung notwendig, es sei denn, eine erstmalige oder erneute ärztliche Diagnose oder Therapieentscheidung ist medizinisch geboten.


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Warum kann ein Anspruch gegen die Krankenkasse im konkreten Fall ausgeschlossen sein?

Ein Anspruch gegen die Krankenkasse kann im konkreten Fall ausgeschlossen sein, wenn der Versicherte den vorgeschriebenen Beschaffungsweg nicht eingehalten hat. Das bedeutet, dass die Leistung grundsätzlich als Sach- und Dienstleistung von der Krankenkasse über deren Vertragspartner zu erbringen ist. Aufwendungen für eine selbstbeschaffte Leistung werden nur erstattet, wenn die Leistung unaufschiebbar war und von der Krankenkasse nicht rechtzeitig erbracht werden konnte oder wenn die Krankenkasse die Leistung zu Unrecht abgelehnt hatte. Wenn ein Antrag erst nach der selbstständigen Beschaffung der Leistung gestellt wird, ist der erforderliche Kausalzusammenhang zwischen einer etwaigen Ablehnung durch die Krankenkasse und den entstandenen Kosten nicht gegeben. Auch die Weiterleitung eines Antrags vom Jobcenter an die Krankenkasse nach § 16 SGB I führt nicht automatisch zu einem Anspruch, wenn der Antrag bei der Krankenkasse nicht tatsächlich zugegangen ist.


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Tritt das Jobcenter als „Ausfallbürge“ für medizinische Bedarfe ein, die nicht von der Krankenkasse übernommen werden?

Ja, das Jobcenter kann als „Ausfallbürge“ eintreten, wenn ein tatsächlich bestehender, medizinischer Bedarf eines Leistungsberechtigten nicht von der Krankenkasse gedeckt wird. Das menschenwürdige Existenzminimum, das verfassungsrechtlich gewährleistet ist, umfasst auch eine ausreichende medizinische Versorgung. Obwohl die Krankenversicherung grundsätzlich für die medizinisch notwendige Versorgung zuständig ist, gibt es Leistungen, die nicht im Leistungskatalog der Krankenkasse enthalten sind und dem Bereich der Eigenverantwortung zugerechnet werden. In solchen Fällen, in denen keine vorrangige Leistungsverpflichtung der Krankenkasse besteht, können medizinische Sonderbedarfe wie Brillen vom Grundsicherungsträger übernommen werden, wenn die Kosten nicht im Regelbedarf abgedeckt sind und der Bedarf tatsächlich nicht anderweitig gedeckt werden kann.


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In welchem Umfang werden die Kosten für eine Brillenreparatur vom Jobcenter übernommen?

Die Kostenübernahme durch das Jobcenter ist der Höhe nach auf das medizinisch Notwendige begrenzt. Das bedeutet, dass nur die Kosten für eine ausreichende, wirtschaftliche und zweckmäßige Versorgung übernommen werden. Anspruch besteht demnach auf die Kosten für Brillengläser aus Standardmaterial. Zusätzliche Optionen, die primär den Komfort oder die Bequemlichkeit betreffen (wie Hartbeschichtung, selbsttönende Beschichtungen oder Entspiegelungen), werden in der Regel als medizinisch nicht erforderlich angesehen und nicht übernommen, es sei denn, sie sind untrennbar mit dem medizinisch notwendigen Produkt verbunden oder im Einzelfall aus medizinischen Gründen erforderlich.


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Warum wurde im vorliegenden Fall der Klägerin nur ein Teil der Kosten für die Brillengläser zugesprochen?

Im vorliegenden Fall wurde der Klägerin nur ein Teil der Kosten zugesprochen, da ihr Anspruch auf das medizinisch Notwendige begrenzt ist. Obwohl die von ihr erworbenen Brillengläser teurer waren (780 €), hätte eine ausreichende, wirtschaftliche und zweckmäßige Versorgung mit Gläsern aus Standardmaterial, die den Anforderungen ihrer Sehstärke entsprächen, gewährleistet werden können. Die Krankenkasse hatte angegeben, dass für eine solche Versorgung eine Kostenbeteiligung in Höhe von 256 € möglich gewesen wäre (basierend auf einem Referenzpreis von 128 € pro Glas). Das Gericht ging davon aus, dass dieser Betrag für die medizinisch notwendige Versorgung ausreichend war und die teureren Gläser der Klägerin keine objektiv erheblichen Gebrauchsvorteile boten, die über Komfort oder Bequemlichkeit hinausgingen.


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