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Erwerbsminderungsrente bei schwerer psychischer Erkrankung

SG Hannover – Az.: S 6 R 125/17 – Urteil vom 04.09.2018

1. Der Bescheid der Beklagten vom 02.09.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.01.2017 wird aufgehoben und die Beklagte verurteilt, der Klägerin eine Rente wegen voller Erwerbsminderung unter Berücksichtigung eines Leistungsfalles am 27.07.2015 auf Dauer zu gewähren.

2. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin.

Tatbestand

Die 1974 in der Türkei geborene Klägerin begehrt die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente.

Die Klägerin lebt seit August 1980 in Deutschland. Seit dem 30.06.2005 verfügte sie über eine Aufenthaltserlaubnis. Zum 18.12.2017 wurde sie eingebürgert und erhielt die deutsche Staatsangehörigkeit. Am Folgetag wurde die Klägerin aus der türkischen Staatsangehörigkeit entlassen.

Für die Klägerin ist ein Grad der Behinderung von 50 vor dem Hintergrund eines depressiven Syndroms mit Somatisierungstendenz anerkannt.

Die Klägerin nahm verschiedene Beschäftigungen als Putzfrau und Näherin wahr. Zuletzt war die Klägerin 2010 in einem Obst- und Gemüsegeschäft tätig. Der Ehemann der Klägerin betreibt als Selbständiger ebenfalls einen Obst- und Gemüsehandel. Dort war sie nicht beschäftigt.

Die Klägerin gebar 1996 ihren Sohn I., 1997 ihre Tochter K., 1998 ihren Sohn M., 2001 ihre Tochter O., 2002 ihre Tochter Q. und am 2008 ihren Sohn S.. K. verstarb am T. im Alter von knapp 4 Monaten am plötzlichen Kindstod. Ein staatsanwaltschaftliches Ermittlungsverfahren gab es insoweit nicht.

Vom 24.10.2007 bis zum 01.11.2007 nahm die Klägerin gemeinsam mit ihren vier Kindern eine Mutter-Kind Maßnahme des Müttergenesungswerkes unter den Aufnahmediagnosen einer Neurasthenie, einer Angststörung, einer depressiven Episode sowie einem Spannungskopfschmerz wahr (Entlassungsbericht vom 10.12.2007). Die Klägerin äußerte, Selbstmordgedanken zu haben. Ihre Kinder hielten sie davon ab, dem nachzugeben. Die Klägerin beendete die Maßnahme vorzeitig. Die Reha-Ziele einer psycho-physischen Stabilisierung und Antriebssteigerung konnten, so die Klinik, nicht erreicht werden.

Seit 2011 leidet die Klägerin unter Beschwerden im rechten Arm. Seit 2013 klagt die Klägerin über Ganzkörperschmerzen. Ein pathologischer körperlicher Befund konnte nicht erhoben werden. Daneben machte die Klägerin ein Brennen im Genitalbereich und Unterleibsschmerzen geltend. Die Klägerin nahm die Hilfe ihres behandelnden Frauenarztes Dr. U. und des Kinderwunschteams in V. 2008 erfolgreich in Anspruch. Sie äußerte im September 2009, noch unbedingt einen Sohn haben zu wollen. Es wurden häufige mikrobiologische Abstriche und vaginale Sonographien durch den behandelnden Frauenarzt vorgenommen. Mindestens am 11.07.2011, 09.10.2012, 14.11.2012, 03.06.2013, 02.07.2013, 02.10.2014, 21.01.2015, 02.03.2015, 16.11.2015, 12.01.2016 erfolgten Inseminationen, am 14.01.2014, 11.03.2014, 10.06.2014 eine In-vitro-Fertilisation (IVF). Diese blieben erfolglos.

Am 27.07.2015 beantragte die Klägerin die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente. Sie leide unter einer Neurasthenie, Depressionen, einer Angststörung, einer Somatisierungsstörung mit Schmerzen, vorrangig im rechten Arm, und zeitweisen Halluzinationen. Sie habe zudem starke Rückenschmerzen und einen Bandscheibenvorfall erlitten. Sie habe keine Kraft und sei durch die Schmerzen so stark belastet, dass sie keiner geregelten Arbeit nachgehen könne.

Die Beklagte holte Befundberichte des Hausarztes Dr. W. und des behandelnden Nervenarztes Dr. X. ein. Dr. W. teilte mit, dass die ausgiebige organische Abklärung der Beschwerden kein somatisches Korrelat gezeigt habe. Zusätzlich leide die Klägerin unter Schlafstörungen, Ängsten und zeitweise optischen Halluzinationen. Seitdem sie ihre Tochter verloren habe, habe die Klägerin Beschwerden. Darüber hinaus habe er eine gynäkologische Untersuchung wegen vaginaler Schmerzen veranlasst. Dr. X. erklärte, dass die Klägerin ihm Schmerzen am ganzen Körper und an den Gelenken geschildert habe. Sie habe das Gefühl „verrückt zu werden“, habe Albträume, Ängste, der ganze Körper kratze, sie schlafe nachts nicht und das Herz rase. Sie habe von Fehlhandlungen berichtet und davon, dass sie alles „kaputt mache“. Sie habe Stress mit ihrem Ehemann, könnte ihre fünf Kinder nicht lieben, im Traum sähe sie Schlangen. Sie sei sehr vergesslich geworden, finde ihre Wohnung nicht mehr. Auch als Kind sei sie schon unglücklich gewesen. Ihr Ehemann drohe ihr mit Scheidung, er gehe vielleicht auch fremd. Zu einer stationären psychiatrischen Behandlung habe sich die Klägerin nicht durchringen können. Unter einer Medikation mit 100mg Sertralin am Morgen und 25mg und 5mg Olanzapin abends gelinge das Schlafen. Ohne Absprache habe die Klägerin sodann versucht, Medikamente auszulassen. Die beschriebenen Probleme seien zurückgekehrt.

Erwerbsminderungsrente bei schwerer psychischer Erkrankung
(Symbolfoto: Von Orawan Pattarawimonchai/Shutterstock.com)

Die Beklagte beauftragte die Psychiaterin Frau Y. mit der Erstellung eines Gutachtens. Die Klägerin schilderte hier am 28.07.2016, dass eine Tochter im Babyalter verstorben sei. Sie sei zu früh auf die Welt gekommen und hätte ein Lungenleiden gehabt. Einen Bruder „hasse“ sie. Er habe sie in allen Dingen misshandelt. Nach dem Tod der Tochter habe sie zweimal versucht, sich das Leben zu nehmen. In jungen Jahren hätte sie sich selbst Verletzungen auf dem rechten Oberarm beigebracht. In ihrer Heimat habe man sie zu einem Hoca geschickt, der bei ihr den Teufel habe austreiben wollen, der von ihr Besitz ergriffen hätte. Daran glaube sie nicht. Sie befinde sich in mehr oder weniger unregelmäßiger ambulanter nervenärztlicher Behandlung. Sie nehme nur bedarfsweise Medikamente ein. Von einer stationären psychiatrischen Behandlung wolle sie nichts wissen. Aus dem gynäkologischen Bericht des Dr. Z. vom 25.04.2016 ergäben sich die Diagnosen einer Vulvitis und einer Vulvodynie. Die Klägerin werde psychosomatisch mitbetreut bei ausgeprägtem Kinderwunsch. Seit 2013 klage die Klägerin über ein Brennen, insbesondere beim Geschlechtsverkehr. Die Sachverständige teilt mit, dass eine Eigenanamnese der Klägerin so gut wie nicht habe erfragt werden können, da die Klägerin vieles nicht wisse oder sich darüber ausschweigen wolle. Seit Jahren habe sie brennende Unterleibsschmerzen, für die bisher keine Ursache habe gefunden werden können. Sie habe Ganzkörperschmerzen. Sie könne Zuhause nicht viel tun. Läge viel auf dem Sofa. Der Ehemann sei zuständig für die Einkäufe. Sie wisse nicht, ob er fremdginge, wolle ihm aber auch nicht Unrecht tun. Man verstehe sie nicht. Ihre Kinder wolle sie „keine Stunde alleine lassen“. Sie suche verzweifelt nach der Ursache der brennenden Unterleibsschmerzen. Sie habe Wahrnehmungsstörungen. Rede mit sich, glaube dann, mit den Kindern gesprochen zu haben, obwohl keines in der Nähe gewesen sei. Im psychischen Befund sei die Kontaktherstellung zunächst nicht gut gewesen. Im weiteren Verlauf habe die Sachverständige von Demütigung, Kränkung, Verlust, Enttäuschung und wenigen Vertrauen spendenden, Halt- und Schutz gebenden Personen erfahren. Ihre Anliegen trage die Klägerin mit leiser Stimme vor. Die Antworten kämen teilweise verzögert. Zum Schluss der Untersuchung sei es zu einem leisen Weinen bei der Versicherten gekommen. Die Klägerin sei sehr bedürftig. Psychotische Inhalte hätten sich nicht gezeigt. Die Halluzinationen seien bisher nicht geklärt. Gegenüber dem Ehemann habe die Klägerin eine besonders misstrauische Haltung. Eine akute Suizidalität sei nicht gegeben. Die Klägerin sei gepflegt und attraktiv. Die Narben der Selbstverletzungen habe man am rechten Oberarm sehen können. Eine Testdiagnostik sei aufgrund der instabilen psychischen Verfassung der Klägerin nicht möglich gewesen. Die Klägerin fühle sich von ihrem Mann abgewertet. Die Klägerin habe erzählt, dass ihre Tochter gestorben sei, gehe darauf aber nicht weiter ein. Eine sach- und fachgerechte Diagnostik und Therapie seien bisher bei der Klägerin aufgrund von deren eigenwilliger Einstellung nicht zustande gekommen. Eine vorzeitige Verrentung führe bei der sehr jungen Klägerin nicht zu einer Stabilisierung, da es an Eigeninitiative fehle. Es sei davon auszugehen, dass die Klägerin leichte Tätigkeiten ohne Nachtschicht, ohne Akkord, ohne besondere Anforderungen an die psychische Belastbarkeit im Wechselrhythmus 6 Stunden und mehr arbeitstäglich ausüben könne. Es liege eine Anpassungsstörung vor.

Mit Bescheid vom 02.09.2016 lehnte die Beklagte die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente ab. Die Klägerin erfülle die medizinischen Voraussetzungen nicht.

Dagegen erhob die Klägerin am 14.09.2016 Widerspruch. Sie leide an Depressionen, körperlicher Schwäche, Bandscheibenproblemen, Rückenschmerzen sowie einer Nervenentzündung im rechten Arm. Ihr behandelnder Nervenarzt, Dr. X., bestätige, dass die Klägerin mit der Erziehung ihrer fünf Kinder überfordert zu sein scheine und aus der Sicht seines Fachgebietes derzeit nicht einer geregelten Tätigkeit auf dem Arbeitsmarkt nachgehen könne. Er habe eine Medikation vorgeschlagen. Es gebe Compliance-Probleme. Eine stationäre oder teilstationäre Behandlung sei derzeit nicht vorstellbar.

Der sozialmedizinische Dienst der Beklagten wies darauf hin, dass die ambulanten Therapiemöglichkeiten nicht ausgeschöpft seien. Nur alle 2-3 Monate suche die Klägerin ihren behandelnden Nervenarzt auf. Medikamente nehme sie lediglich bedarfsweise. Eine quantitative Leistungsminderung sei nicht ableitbar.

Mit Widerspruchsbescheid vom 16.01.2017 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin zurück. Zwar leide die Klägerin unter Anpassungsstörungen. Trotz dieser Gesundheitsstörungen könne die Klägerin jedoch noch leichte Arbeiten täglich 6 Stunden und mehr verrichten.

Dagegen wendet sich die Klägerin mit ihrer am 16.02.2017 vor dem Sozialgericht Hannover erhobenen Klage. Insbesondere der behandelnde Nervenarzt Dr. X. könne bestätigen, dass es aufgrund der gravierenden psychischen und psychosomatischen Erkrankungen der Klägerin ausgeschlossen sei, dass diese eine Tätigkeit von sechs und mehr Stunden täglich ausüben könne. Die Klägerin könne ihre rechte Hand überhaupt nicht mehr bewegen. Infolge einer Nierenkolik sei die Klägerin kurzfristig stationär aufgenommen worden. Zusätzlich sei eine Blasenentzündung festgestellt worden (Bericht des Klinikums AA. vom 13.03.2017). Zudem leide die Klägerin nunmehr auch unter einer „Pelviopathia  spastica“. Diese Beeinträchtigung sei nicht heilbar. Der behandelnde Facharzt für Frauenheilkunde Dr. AB. bestätige, dass für die chronischen Unterbauchbeschwerden und Veränderungen im Vulva-Bereich keine organischen Erklärungen vorhanden seien. Es bestehe ein chronischer HPV-Infekt. Dieser Befund bestehe fort und beeinträchtige die Lebensqualität, sowie das Sexualleben nachhaltig. Auch die behandelnde Hausärztin Frau Dr. AC. bestätige das aufgehobene Leistungsvermögen der Klägerin. Zur Versorgung der Kinder bemühe die Klägerin Verwandte, insbesondere ihre Mutter. Diese kümmere sich auch um den Haushalt.

Vom 22.05.2017 bis zum 13.06.2017 habe sich die Klägerin in stationärer Behandlung der Klinik für Allgemeinpsychiatrie und Psychotherapie AD. unter den Diagnosen einer rezidivierenden depressiven Episode mit psychotischen Symptomen, aktuell vorrangig Eifersuchtswahn, befunden. Dem Entlassungsbericht sei zu entnehmen, dass die Klägerin ihren Ehemann mit einem Messer an der Hand verletzt habe. Die Klinik habe ein paranoides Erleben der Klägerin festgestellt. Sie kontrolliere ihren Ehemann sehr misstrauisch. Nach dem Tod der Tochter habe sie schon einmal unter optischen Halluzinationen gelitten. Die Klägerin habe auch eine Abhörschaltung am PKW des Ehemannes initiiert. Sie haben in einem Gespräch Vorwürfe des Betruges an ihren Ehemann gerichtet. Sie sei dort sehr aufbrausend und beleidigend geworden. Die Klinik regte an, die Neuroleptika-Medikation mit Olanzapin 15 mg für mindestens ein Jahr fortzusetzen. Es sei eine ambulante psychiatrische Weiterbehandlung erforderlich.

Die Klägerin beantragt, den Bescheid der Beklagten vom 02.09.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbeschei-des vom 16.01.2017 aufzuheben und ihr eine Rente wegen voller Erwerbsminderung unter Berücksichtigung eines Leistungsfalles am 27.07.2015 (Rentenantrag) zu gewähren.

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Sie hält ihre Bescheide für rechtmäßig. Vor dem Hintergrund des Klinikaufenthaltes in AD. sei von einer zumindest vorübergehenden Verschlechterung des Zustandes der Klägerin auszugehen. Entlassen worden sei sie dort jedoch in stabilisierten Zustand. Ein aufgehobenes Leistungsvermögen liege nicht vor.

Die Kammer hat zur weiteren Sachverhaltsermittlung einen Befundbericht des Facharztes für Urologie/Andrologie Dr. AE. vom 04.04.2017, der Fachärztin für Allgemeinmedizin Dr. AC. vom 05.04.2017, des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. X. vom 10.04.2017, des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. W. vom 13.04.2017, den vollständigen Entlassungsbericht des Müttergenesungswerkes „AF.“ vom 10.12.2007,  eine Mitteilung über den Inhalt der Patientenakte der Klägerin bei dem vorbehandelnden Arzt für Frauenheilkunde Dr. U. durch Frau AG. vom 01.01.2018 und ein Gutachten der Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, Fachärztin für psychotherapeutische Medizin, Psychoanalyse Frau AH. vom 01.05.2018 eingeholt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Vortrags der Beteiligten und des Sachverhalts im Übrigen wird auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Entscheidung gewesen sind.

Entscheidungsgründe

Die Klage ist zulässig und begründet.

Der Bescheid der Beklagten vom 02.09.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.01.2017 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten.

Die Klägerin hat einen Anspruch auf eine unbefristete Erwerbsminderungsrente unter Berücksichtigung eines Leistungsfalles am 27.07.2015 (Rentenantrag).

Versicherte haben nach § 43 Abs. 2 Satz 1 des Sechsten Buches des Sozialgesetzbuchs (SGB VI) Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung und nach § 43 Abs. 1 Satz 1 SGB VI Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze, wenn sie voll bzw. teilweise erwerbsgemindert sind (Nr. 1), in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben (Nr. 2) und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben (Nr. 3). Voll erwerbsgemindert sind nach § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Teilweise erwerbsgemindert sind nach § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Sowohl für die Rente wegen teilweiser als auch für die Rente wegen voller Erwerbsminderung ist Voraussetzung, dass die Erwerbsfähigkeit durch Krankheit oder Behinderung gemindert sein muss. Entscheidend ist darauf abzustellen, in welchem Umfang ein Versicherter durch Krankheit oder Behinderung in seiner körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit beeinträchtigt wird und in welchem Umfang sich eine Leistungsminderung auf die Fähigkeit, erwerbstätig zu sein, auswirkt. Bei einem Leistungsvermögen, das dauerhaft eine Beschäftigung von mindestens sechs Stunden täglich bezogen auf eine Fünf-Tage-Woche ermöglicht, liegt keine Erwerbsminderung im Sinne des § 43 Abs. 1 und Abs. 2 SGB VI vor. Wer noch sechs Stunden unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts arbeiten kann, ist nicht erwerbsgemindert; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (§ 43 Abs. 3 SGB VI).

Die Klägerin ist nach diesen Bestimmungen voll erwerbsgemindert.

Die Kammer stützt ihre Überzeugung auf die im Laufe des Verfahrens eingeholten Befundberichte und Gutachten, insbesondere das Gutachten der Psychiaterin Frau AH. vom 01.05.2018. Die Ausführungen sind in sich schlüssig, vollständig und widerspruchsfrei und stehen im Einklang mit den erhobenen Befunden.

Danach leidet die Klägerin auf gynäkologischem Gebiet unter einer chronischen HPV-Infektion, und einer Pelvipathia spastica, sowie auf orthopädisch-internistischem Gebiet unter einem rezidivierendem LWS-Syndrom und einer Arthrose des rechten Handgelenkes.

Der Schwerpunkt der Beeinträchtigungen besteht jedoch im psychiatrischen Fachgebiet. Die Sachverständige Frau AH. diagnostizierte bei der Klägerin eine rezidivierende depressive Episode mit psychotischen Symptomen (Störung von Stimmung, Antrieb und Affekt mit Trugwahrnehmungen und Wahnwahrnehmungen), eine somatoforme autonome Funktionsstörung des Urogenitalsystems, eine Somatisierungsstörung sowie eine Neurasthenie. Ob daneben eine posttraumatische Belastungsstörung vorliegt, vermochte die Sachverständige mangels Angaben der Klägerin nicht zu beurteilen. In der Untersuchungssituation war die Klägerin krankheitsbedingt überfordert, angestrengt und gequält. Sie wirkte ängstlich, ausgesprochen misstrauisch und kam in geduckter Körperhaltung, die sie während der gesamten Untersuchung beibehielt, in den Untersuchungsraum. Die Klägerin ist innerlich unruhig, zittert, besonders bei belastenden Themen. Ihre Mimik ist starr. Sie nimmt keinen Blickkontakt auf und guckt während der gesamten Untersuchung nach unten. Sie spricht mit leiser Stimme und ist kaum zu verstehen. Die Stimmung ist deutlich depressiv ausgelenkt, der Antrieb gemindert, der Affekt eingeengt. Es bestehen allgemeine depressive Symptome wie vermehrtes Grübeln, Verlust der Lebensfreude bis hin zu Lebensüberdruss und eine ausgeprägte Lustlosigkeit. Die Klägerin hat sich sozial zurückgezogen. Sie hat auch Albträume. Der formale Gedankengang ist deutlich verlangsamt. Die Klägerin gibt akustische und optische Halluzinationen an. Es besteht ein fraglich paranoides Erleben bei ausgesprochen misstrauischer Haltung. Zeitlich, örtlich und zur Person ist die Klägerin voll orientiert. Das Durchhaltevermögen ist reduziert, so auch das Konzentrationsvermögen. Trotz der erlebten Misshandlungen durch den Ehemann – dieser hat sie nach ihren Angaben häufig geschlagen, körperlich und verbal misshandelt – leidet die Klägerin an dem Trennungskonflikt. Sie war bereits durch den Bruder misshandelt worden.

Ein aufgehobenes Leistungsvermögen liegt seit dem Rentenantrag am 27.07.2015  (Leistungsfall) vor. Dabei bezieht sich die Kammer bzgl. der gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Klägerin auf die überzeugenden Ausführungen der Gutachterin Frau AH., denen sie nach eigener Einschätzung folgt. Bereits dem Befundbericht des Dr. X. vom 26.05.2015 ist in der Beschreibung der Symptomatik ein schweres Krankheitsbild zu entnehmen. Dieser hatte die Klägerin immer wieder aufgefordert, sich in stationäre oder teilstationäre Behandlung zu begeben, was von der Klägerin abgelehnt worden war. Seit der stationären Behandlung in AD. Anfang 2018 ist keine Verbesserung, sondern eine weitere Verschlechterung der Symptomatik zu verzeichnen.

Das Gutachten der Frau Y. hält die Kammer im Einklang mit der Sachverständigen Frau AH. für zu positiv. Frau Y. gab die durch die Klägerin beschriebenen Wahrnehmungsstörungen wieder, ebenso wie die quälenden brennenden Schmerzen im Rahmen der somatoformen autonomen Funktionsstörung. Eine Bewertung diesbezüglich nahm Frau Y. nicht vor. Die katastrophalen ehelichen Bezüge erwähnte die Klägerin gegenüber Frau Y. wohl nicht, ebenso wenig wie die erlebten Gewalterfahrungen und Erniedrigungen durch den Ehemann.

Gegen die Annahme eines aufgehobenen Leistungsvermögens bereits ab Rentenantragstellung spricht nicht, dass in dem Haushalt der Klägerin minderjährige Kinder – 2015 waren diese 7, 13, 14, 17 und 19 Jahre alt – zu versorgen waren. Die Klägerin hat insoweit einerseits die Mithilfe durch ihre Mutter dargestellt, die fast täglich vorbeikomme. Andererseits bedurften die älteren Kinder keiner umfassenden Betreuung. Im Gegenteil: Sie unterstützten die Klägerin bei der Versorgung der jüngeren Geschwister.

An dem Vorliegen einer wahnhaften Störung in dem Ausmaß, wie sie die Sachverständige schildert, hat die Kammer keinen Zweifel. Den Tod ihrer 1997 geborenen Tochter hat die Klägerin nicht verarbeiten können. Schon damals reagierte sie mit der Entwicklung einer Depression und optischen Halluzinationen. Dies ergibt sich insbesondere auch aus dem Entlassungsbericht des Müttergenesungswerkes aus dem Dezember 2007. Gegenüber dem Neurologen und Psychiater Dr. X., an den die Klägerin von der Hausärztin unter Hinweis auf die Problematik bzgl. der verstorbenen Tochter überwiesen worden war, erwähnte die Klägerin den Tod dieser Tochter nur am Rande, ebenso wie gegenüber der sachverständigen Psychiaterin Frau Y..

Das Auf-sich-nehmen der zahlreichen Inseminationen und In-vitro-Fertilisationen und der damit einhergehenden körperlich-hormonellen und seelischen Belastungen ist nur unter der Annahme verständlich, dass die Klägerin Stimmen folgte, die ihr sagten, sie solle noch „ein Kind machen“, damit es ihr besser gehe. Das Verhältnis zu ihrem Ehemann war durch ein erhebliches Misstrauen geprägt. Es handelte sich um eine Zwangsheirat. Die Klägerin litt unter einem Brennen in der Scheide und Unterleibsschmerzen, die sie ununterbrochen quälten. Die Klägerin hatte 2008 – immerhin 34jährig – ihr 6. Kind geboren und beendete die künstlichen Befruchtungsversuche erst im Januar 2016 – d.h. im nunmehr 41. Lebensjahr. Die Klägerin war – dies steht für die Kammer nach dem vorliegenden Sachverhalt und der Beurteilung der Sachverständigen fest – insoweit fremdbestimmt.

Im Frühjahr 2018 ist die Situation eskaliert. Die Klägerin hat ihren Ehemann mit einem Messer an der Hand verletzt. Während der Behandlung im Klinikum AD. wurde die psychotische Komponente der Erkrankung deutlicher. Im Vordergrund sieht die Kammer den Trennungskonflikt entgegen der Annahme der Beklagten jedoch nicht. Insbesondere eine Lösung aus der gemeinsamen Wohnung dürfte nicht dazu führen, dass das Leistungsvermögen der Klägerin steigt. Maßgeblich ist nicht der Trennungskonflikt, sondern der nicht verarbeitete Tod der Tochter 1997.

Anhaltspunkte für eine Aggravation oder Simulation vermag die Kammer dem Beschwerdevorbringen der Klägerin entgegen der Auffassung der Beklagten nicht zu entnehmen. Die Kammer folgt damit der Beurteilung der Sachverständigen. Auch aus dem Verlauf der mündlichen Verhandlung haben sich solche Hinweise nicht ergeben. Die Klägerin wirkte vorgealtert und müde.

Die Klägerin hat die allgemeine Wartezeit von 60 Monaten erfüllt. Auch die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nach § 43 Abs. 2 Nr. 2 SGB VI liegen vor. Der Versicherungsverlauf (vgl. etwa vom 04.04.2017) ist mit mehr als 36 Monaten Pflichtbeitragszeiten in den letzten fünf Jahren vor Eintritt des Leistungsfalles belegt.

Die Rente ist nach Ansicht der Kammer nicht zu befristen. Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit werden zwar nach § 102 Abs. 2 S. 1 SGB VI auf Zeit geleistet. Renten, auf die ein Anspruch unabhängig von der jeweiligen Arbeitsmarktlage besteht, werden jedoch unbefristet geleistet, wenn unwahrscheinlich ist, dass die Minderung der Erwerbsfähigkeit behoben werden kann (§ 102 Abs. 2 S. 5 SGB VI). Die Frage der Wahrscheinlichkeit der Beseitigung einer Leistungsminderung ist vom Versicherungsträger bei Bescheiderteilung prognostisch zu beurteilen. Bei ihrer Beantwortung kommt es nicht auf die Duldungspflicht einer möglicherweise durchzuführenden Operation an, sondern auf die Besserungsaussichten unter Berücksichtigung aller vorhandenen therapeutischen Möglichkeiten (BSG, Urteil vom 29. März 2006 – B 13 RJ 31/05 R –, BSGE 96, 147-153, SozR 4-2600 § 102 Nr 2, Rn. 14). „Unwahrscheinlich“ i.S. des § 102 Abs. 2 Satz 4 SGB VI ist dahingehend zu verstehen, dass schwerwiegende medizinische Gründe gegen eine – rentenrechtlich relevante – Besserungsaussicht sprechen müssen, so dass ein Dauerzustand vorliegt (BSG, a.a.O. unter Bezugnahme auf Majerski-Pahlen, NZS 2002, 475 ff, 478; ebenso Jörg in Kreikebohm, SGB VI, 2. Aufl 2003, RdNr 5 zu § 102). Von solchen Gründen kann jedoch erst dann ausgegangen werden, wenn alle Behandlungsmöglichkeiten ausgeschöpft sind und auch hiernach ein aufgehobenes Leistungsvermögen besteht (BSG, a.a.O.). Daher liegt es nahe, so das BSG weiter, Unwahrscheinlichkeit i.S. des § 102 Abs. 2 Satz 5 SGB VI dann anzunehmen, wenn aus ärztlicher Sicht bei Betrachtung des bisherigen Verlaufs nach medizinischen Erkenntnissen – auch unter Berücksichtigung noch vorhandener therapeutischer Möglichkeiten – eine Besserung nicht anzunehmen ist, durch welche sich eine rentenrechtlich relevante Steigerung der Leistungsfähigkeit des Versicherten ergeben würde (BSG, a.a.O.). Erheblich ist allein, dass alle therapeutischen Möglichkeiten in Betracht gezogen werden müssen, um ein qualitatives oder quantitatives Leistungshindernis zu beheben (BSG, a.a.O.) Zwar sind bei der erst 44-jährigen Klägerin nicht alle therapeutischen Möglichkeiten ausgeschöpft. Die Sachverständige regt insoweit eine stationäre psychiatrische Behandlung an, um die Medikation zu optimieren, und empfiehlt sodann eine ambulante Weiterbehandlung. Eine Verbesserung des Leistungsvermögens dahingehend, dass dieses rentenrechtlich relevant quantitativ auf über 3 Stunden arbeitstäglich steigen könnte, sieht die Kammer ebenso wie die Sachverständige darin nicht. Das Krankheitsbild ist so chronifiziert, dass keine begründete Aussicht oder Möglichkeit auf eine wesentliche Verbesserung des Leistungsvermögens besteht. Im Gegenteil: eine weitere Verschlechterung ist zu erwarten, wenn die jugendlichen Kinder der Klägerin ausziehen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 SGG.

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