Schmerz und Soziales: Wie die Beweislast für Schmerzerkrankungen im Sozialrecht entschieden wird
Das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg wies die Berufung einer Klägerin ab, die Erwerbsminderungsrente aufgrund von Schmerzerkrankungen und Fibromyalgie beantragt hatte. Die Klägerin konnte nicht überzeugend darlegen, dass ihre Erwerbsminderung bereits vor Dezember 2020 bestand. Die medizinischen Gutachten und Beweise reichten nicht aus, um eine volle Erwerbsminderung für den strittigen Zeitraum nachzuweisen.
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✔ Das Wichtigste in Kürze
Die zentralen Punkte aus dem Urteil:
- Ablehnung der Berufung: Das Gericht lehnte die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Cottbus ab.
- Fehlende Beweise: Die Klägerin konnte nicht ausreichend beweisen, dass sie schon vor Dezember 2020 voll erwerbsgemindert war.
- Medizinische Gutachten: Verschiedene medizinische Gutachten wurden herangezogen, um den Gesundheitszustand der Klägerin zu beurteilen.
- Teilanerkenntnis der Beklagten: Die Beklagte erkannte einen Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung ab Dezember 2020 an.
- Chronische Schmerzerkrankung: Die Klägerin litt an einer chronischen Schmerzerkrankung und Fibromyalgie.
- Streitiger Zeitraum: Im Mittelpunkt stand der Zeitraum von Juni 2016 bis November 2020.
- Beweislast der Klägerin: Die Klägerin trug die Beweislast für ihre Erwerbsminderung.
- Einschätzung des Gesundheitszustandes: Es gab unterschiedliche Einschätzungen zum Gesundheitszustand der Klägerin und ihrer Arbeitsfähigkeit.
Übersicht
Erwerbsminderung und Rechtsprechung: Ein komplexes Feld
In der juristischen Auseinandersetzung um Erwerbsminderungsrente steht oft die Frage im Zentrum, inwieweit Gesundheitsprobleme und Krankheiten die Arbeitsfähigkeit einer Person einschränken. Besonders bei Fällen von Schmerzerkrankungen kann die Bewertung der Erwerbsminderung herausfordernd sein. Die Beweislast liegt hierbei häufig bei den Betroffenen, was den Prozess kompliziert gestaltet. Gerichtsentscheidungen, wie die des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg, spielen eine wesentliche Rolle in der Klärung solcher Fälle. Sie setzen Maßstäbe, wie medizinische Gutachten und individuelle Krankheitsbilder in Bezug auf die Arbeitsfähigkeit zu bewerten sind.
Die Entscheidungen solcher Gerichte sind von großer Bedeutung für die Klägerin oder den Kläger sowie für das Verständnis der sozialrechtlichen Rahmenbedingungen. Sie geben Aufschluss darüber, wie das Recht in konkreten Einzelfällen angewendet wird und welche Kriterien für die Beurteilung von Erwerbsminderungsrenten herangezogen werden. Die Details des vorliegenden Urteils bieten tiefe Einblicke in die Komplexität dieser juristischen Materie und zeigen auf, wie Gerichte in Deutschland in ähnlichen Fällen entscheiden könnten. Lassen Sie uns nun einen detaillierteren Blick auf dieses spezifische Urteil werfen, um die vielschichtigen Aspekte dieser Thematik zu beleuchten.
Der Weg zur Erwerbsminderungsrente: Ein juristischer Marathon
Im Fokus des aktuellen Falles steht die Klägerin, eine im Jahr 1964 geborene Frau, die bis 2015 in der Kfz-Werkstatt ihres Ehemannes beschäftigt war. Aufgrund einer chronischen Schmerzerkrankung und Fibromyalgie stellte sie 2016 einen Antrag auf Erwerbsminderungsrente. Dieser Antrag wurde von der Beklagten, der Rentenversicherung, abgelehnt, was den Beginn eines langwierigen Rechtsstreits markierte. Die Beweislast für die Erwerbsminderung lag bei der Klägerin. Verschiedene medizinische Gutachten wurden eingeholt, um den Gesundheitszustand und das Leistungsvermögen der Klägerin zu bewerten. Eine entscheidende Rolle spielte dabei das Gutachten von Dr. Ha, einer Fachärztin für Neurologie, die der Klägerin noch ein vollschichtiges Leistungsvermögen für leichte körperliche und geistige Arbeiten bescheinigte.
Die rechtliche Hürde: Beweisführung und medizinische Gutachten
Die Klägerin sah sich mit der Herausforderung konfrontiert, ihre vollständige Erwerbsminderung nachzuweisen. Hierbei erwies sich das neurologisch-psychiatrische Gutachten des Facharztes Dr. S als zentral, welches jedoch kein vollständig aufgehobenes Leistungsvermögen der Klägerin bestätigte. Die Situation wurde komplexer, als weitere Gutachten hinzugezogen wurden, darunter auch die Einschätzungen von behandelnden Ärzten und Spezialisten, die unterschiedliche Perspektiven auf den Gesundheitszustand der Klägerin boten. Der Schmerztherapeut Dr. N und die Anästhesiologin Dr. L lieferten weitere Einblicke in die medizinische Historie der Klägerin, die jedoch nicht ausreichten, um die erforderliche Beweislast für eine volle Erwerbsminderung ab Juni 2016 zu erfüllen.
Die Entscheidung des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg
Das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg spielte eine entscheidende Rolle in diesem Rechtsstreit. Nachdem das Sozialgericht Cottbus die Klage der Klägerin ursprünglich abgewiesen hatte, legte sie Berufung ein. Das Landessozialgericht bestätigte jedoch die ursprüngliche Entscheidung und wies die Berufung zurück. Das Gericht begründete seine Entscheidung damit, dass die Klägerin nicht überzeugend darlegen konnte, dass ihre Erwerbsminderung bereits vor Dezember 2020 bestanden hatte. Dies war vor allem deshalb relevant, da die Beklagte den Anspruch auf Erwerbsminderungsrente ab Dezember 2020 anerkannte.
Ausblick und Bedeutung für zukünftige Fälle
Dieser Fall wirft ein Schlaglicht auf die Komplexität und Schwierigkeiten, die mit der Beantragung einer Erwerbsminderungsrente verbunden sein können, insbesondere wenn es um Krankheiten wie chronische Schmerzerkrankungen oder Fibromyalgie geht. Es zeigt sich, dass die Beweislast und die Interpretation medizinischer Gutachten eine zentrale Rolle in der Entscheidungsfindung spielen. Dieser Fall könnte richtungsweisend für ähnliche Fälle in der Zukunft sein, insbesondere in Bezug auf die Bewertung von Schmerzerkrankungen und deren Einfluss auf die Arbeitsfähigkeit. Der Beschluss des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg unterstreicht die Bedeutung detaillierter medizinischer Dokumentation und die Notwendigkeit für Kläger, ihre Ansprüche klar und fundiert zu untermauern.
✔ Wichtige Begriffe kurz erklärt
Wie wird die Beweislast im Rahmen eines Rentenverfahrens wegen Erwerbsminderung gehandhabt, insbesondere bei Krankheiten wie Schmerzerkrankungen?
Im Rahmen eines Rentenverfahrens wegen Erwerbsminderung trägt der Antragsteller die objektive Beweislast für die gesundheitlichen Einschränkungen und deren Auswirkungen auf die Erwerbsfähigkeit. Das bedeutet, dass der Antragsteller nachweisen muss, dass er aufgrund seiner gesundheitlichen Situation nicht mehr in der Lage ist, eine Erwerbstätigkeit auszuüben.
Bei Krankheiten wie Schmerzerkrankungen ist es besonders wichtig, die konkreten Leistungseinschränkungen festzustellen. Es reicht nicht aus, sich nur mit der Frage des Vorliegens einer solchen Erkrankung auseinanderzusetzen. Die Rentenversicherung prüft in jedem Einzelfall, ob die Krankheit tatsächlich zu einer Erwerbsminderung führt.
In Fällen, in denen die Erwerbsminderung aufgrund einer psychischen Erkrankung geltend gemacht wird, kann es zu Komplikationen kommen. Beispielsweise kann es vorkommen, dass die Rentenversicherung argumentiert, die Erwerbsminderung sei bereits zu einem früheren Zeitpunkt eingetreten, zu dem der Antragsteller noch nicht die erforderlichen Versicherungszeiten erfüllt hatte. In solchen Fällen kann es hilfreich sein, Widerspruch gegen die Entscheidung einzulegen und gegebenenfalls rechtliche Unterstützung in Anspruch zu nehmen.
Es ist zu erwähnen, dass psychische Erkrankungen eine dominierende Rolle in den Verfahren um Erwerbsminderungsrenten spielen. Daher ist es besonders wichtig, bei solchen Erkrankungen einen gründlichen Nachweis der Erwerbsminderung zu erbringen.
Welche Rolle spielen medizinische Gutachten im Verfahren um die Erwerbsminderungsrente und wie werden diese im Gerichtsprozess bewertet?
Im Verfahren um die Erwerbsminderungsrente spielen medizinische Gutachten eine entscheidende Rolle. Sie dienen der Feststellung des Gesundheitszustandes des Antragstellers und seiner Auswirkungen auf die Erwerbsfähigkeit. Die Begutachtung erfolgt in der Regel durch einen Facharzt für Sozialmedizin, der vom Rentenversicherungsträger oder vom Gericht beauftragt wird.
Das Gutachten muss den Anforderungen der sozialmedizinischen Begutachtungsleitlinien entsprechen und Aussagen zu folgenden Punkten enthalten:
- der Diagnose der Erkrankung oder Behinderung
- der aktuellen Funktionsfähigkeit des Antragstellers
- den Auswirkungen der Erkrankung oder Behinderung auf die Erwerbsfähigkeit
- den beruflichen Möglichkeiten des Antragstellers unter Berücksichtigung seiner gesundheitlichen Einschränkungen
Das Gutachten wird vom Rentenversicherungsträger oder vom Gericht geprüft und bewertet. Dabei wird insbesondere auf die Schlüssigkeit und Nachvollziehbarkeit der gutachterlichen Stellungnahme geachtet.
Ist das Gutachten nicht ausreichend aussagekräftig oder widersprüchlich, kann der Rentenversicherungsträger oder das Gericht ein weiteres Gutachten einholen.
Die Bewertung des Gutachtens durch das Gericht erfolgt unter Berücksichtigung aller vorliegenden Beweismittel. Dabei werden auch die Aussagen des Antragstellers und gegebenenfalls weiterer Zeugen herangezogen.
Das Gericht kann das Gutachten als Grundlage für seine Entscheidung heranziehen oder es als nicht überzeugend verwerfen. In diesem Fall kann das Gericht ein weiteres Gutachten einholen oder die Entscheidung auf der Grundlage der übrigen Beweismittel treffen.
Das vorliegende Urteil
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg – Az.: L 16 R 685/20 – Beschluss vom 19.08.2022
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Cottbus vom 16. Juli 2020 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I.
Streitig ist (noch) die Gewährung von Versichertenrente wegen voller Erwerbsminderung (EM) für die Zeit vom 1. Juni 2016 bis 30. November 2020.
Die 1964 geborene Klägerin war bis zum Eintritt dauernder krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit am 25. August 2015 in der Kfz-Meisterwerkstatt ihres Ehemannes versicherungspflichtig beschäftigt.
Den Rentenantrag vom Juni 2016 lehnte die Beklagte nach medizinischen Ermittlungen (Beiziehung des Entlassungsberichts der HU Klinik vom 17. Juni 2015, eines Gutachtens des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung Berlin-Brandenburg vom 12. Februar 2016 und von Berichten der behandelnden Ärzte, Einholung eines neurologisch-psychiatrischen Gutachtens des Facharztes S vom 7. Oktober 2016) mit Bescheid vom 31. Oktober 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. Oktober 2017 ab. Volle bzw teilweise EM lägen nicht vor.
Im Klageverfahren hat das Sozialgericht (SG) Cottbus nach Beiziehung von Berichten der behandelnden Ärzte die Fachärztin für Neurologie Dr. Ha als Sachverständige eingesetzt. Diese bescheinigte der Klägerin in ihrem Gutachten vom 14. November 2019 (Untersuchungstag 24. Oktober 2019) noch ein vollschichtiges Leistungsvermögen für körperlich leichte Arbeiten und geistige Arbeiten entsprechend ihrer Ausbildung mit qualitativen Einschränkungen bei erhaltener Wegefähigkeit; hierauf wird Bezug genommen. Das SG hat die auf Gewährung von EM-Rente für die Zeit ab 1. Juni 2016 gerichtete Klage mit Urteil vom 16. Juli 2020 abgewiesen. Zur Begründung ist ausgeführt: Die Klägerin habe keinen Anspruch auf die begehrte EM-Rente, weil diese nicht erwerbsgemindert sei, sondern nach dem Ergebnis der durchgeführten Beweiserhebung noch arbeitstäglich sechs Stunden und mehr körperlich leichte Arbeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes unter Beachtung qualitativer Leistungseinschränkungen verrichten könne.
Mit der Berufung verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Sie ist mit der Würdigung ihres Gesundheitszustandes durch das SG nicht einverstanden. Die chronische Schmerzerkrankung und die Fibromyalgie stünden einer regelmäßigen Erwerbstätigkeit entgegen.
Das Berufungsgericht hat Befundberichte des die Klägerin seit November 2020 behandelnden Anästhesiologen Dr. N, des psychologischen Psychotherapeuten W (Behandlung seit November 2020) und der Anästhesiologin Dr. L (Behandlung von April 2016 bis Juni 2020) sowie einen Entlassungsbericht der Klinik für Manuelle Medizin der S-Kliniken S (stationäre Behandlung der Klägerin vom 5. August bis 23. August 2019) beigezogen und auf Antrag der Klägerin nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) den Allgemeinmediziner Dr. H als Sachverständigen eingesetzt. Dieser hat der Klägerin (nur) noch ein Restleistungsvermögen von „zweimal einer Stunde pro Tag“ bescheinigt, wobei nach 45 Minuten eine Pause von etwa zwei Stunden einzuhalten sei (Gutachten vom 20. Februar 2022 nach Untersuchung am 17. Dezember 2021). Die Beklagte hat hierauf einen Anspruch der Klägerin auf Rente wegen voller EM für die Zeit ab 1. Dezember 2020 anerkannt.
Die Klägerin, die dieses Teilanerkenntnis angenommen hat, beantragt im Übrigen, das Urteil des Sozialgerichts Cottbus vom 16. Juli 2020 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 31. Oktober 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. Oktober 2017 zu verurteilen, ihr Rente wegen voller Erwerbsminderung auch für die Zeit vom 1. Juni 2016 bis 30. November 2020 zu gewähren.
Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Sie sieht keine Grundlage für die Annahme eines früheren Eintritts von EM.
Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf deren vorbereitende Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen. Die Gerichtsakte (2 Bände) und die Verwaltungsakte der Beklagten haben vorgelegen und sind Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen.
II.
Der Senat hat gemäß § 153 Absatz 4 Satz 1 SGG die zulässige Berufung der Klägerin im noch anhängigen Umfang durch Beschluss zurückweisen können, weil er dieses Rechtsmittel einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich gehalten hat. Die Beteiligten sind hierzu gehört worden (vgl. § 153 Abs. 4 Satz 2 SGG). Soweit die Klägerin das Teilanerkenntnis der Beklagten angenommen hat, ist das Verfahren in der Hauptsache erledigt (§ 101 Abs. 2 SGG) und das angefochtene SG-Urteil gegenstandslos.
Die Klägerin hat für den noch streitgegenständlichen Zeitraum vom 1. Juni 2016 bis 30. November 2020 keinen Anspruch auf Rente wegen voller EM gemäß § 43 Abs. 2 Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Rentenversicherung – (SGB VI). Dabei kann offen bleiben, ob die erforderlichen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen (Erfüllung der allgemeinen Wartezeit gemäß den §§ 50 Abs. 1, 51 Abs. 1 SGB VI; Vorhandensein von drei Jahren mit Pflichtbeiträgen für eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit in den letzten fünf Jahren vor vermeintlichem Eintritt der EM gemäß § 43 Abs. 2 Satz 1 Nrn. 2 und 3, Absatz 1 Satz 1 Nrn. 2 und 3 SGB VI) für die Zeit ab 1. Juni 2016 (Antragsmonat; vgl § 99 SGB VI) erfüllt sind. Denn die weiteren – medizinischen – Voraussetzungen für eine Rente wegen voller EM (vgl § 43 Abs. 2 Satz 2, Abs. 1 Satz 2 SGB VI) liegen bei der Klägerin nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens zur vollen Überzeugung des Senats im gesamten noch streitgegenständlichen Zeitraum vom 1. Juni 2016 bis zum 30. November 2020 nicht vor. Insgesamt geht der Senat nach Würdigung des Ergebnisses der Beweisaufnahme davon aus, dass ein früherer Eintritt eines quantitativ eingeschränkten Leistungsvermögens vor der Untersuchung durch Dr. H nicht nachgewiesen ist.
Voll erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein (vgl § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI). Nach § 43 Abs. 3 SGB VI ist nicht erwerbsgemindert, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen. Nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens vermochte der Senat nicht mit der erforderlichen zweifelsfreien Gewissheit festzustellen, ob bereits in dem vorliegend noch streitigen Zeitraum vom 1. Juni 2016 bis 30. November 2020 Tatsachen vorlagen, aus denen sich eine volle bzw teilweise EM der Klägerin ergeben hätte.
Zwar hat der für die Begutachtung von Schmerzerkrankungen fachkompetente Sachverständige Dr. H in seinem ausführlichen, die vorliegende Schmerzerkrankung umfassend analysierenden und plausibel herleitenden Gutachten vom 20. Februar 2022 überzeugend dargelegt, dass die von ihm am 17. Dezember 2021 festgestellten Gesundheitsstörungen letztlich ein aufgehobenes Leistungsvermögen der Klägerin zur Folge haben. Er hat sich bei der Schilderung der Krankheitsentwicklung auf eine eingehende Anamnese und kritische Würdigung der medizinischen Unterlagen und Vorgutachten gestützt und nachvollziehbar dargelegt, dass die Schmerzerkrankung sich erstmals 2013 manifestiert habe. Nicht schlüssig und aufgrund fehlender Anknüpfungstatsachen auch nicht überzeugend ist indes seine Einschätzung, dass die von ihm im Dezember 2021 gesehene Ausprägung der Beschwerden („volle Ausbildung“, vgl Antwort zu Beweisfrage Nr 7) bereits seit dem Jahr 2015 vorliege. Eine nachvollziehbare Begründung hierfür lässt sich dem Gutachten nicht entnehmen, zumal Dr. H selbst ausführt, dass die psychischen Auffälligkeiten bei seiner Untersuchung „jetzt allerdings in stärkerer Ausprägung…gefunden wurden“ (S 48 oben des Gutachtens). Auch eine neuropathische Schmerzkomponente sieht Dr. H erst ab Juli 2020 als gesichert an (S 49 des Gutachtens). Zudem beschreibt er, dass die neurochirurgisch-orthopädischen Leiden „weiter“ fortgeschritten sind, dh dass er auch hier eine tendenzielle Verschlechterung des Gesundheitszustandes im Verlauf sieht. Letztlich steht auch die eigene – und überzeugende – Einschätzung von Dr. H, dass sich aus dem primären Schmerzbild in Verbindung mit den gleichzeitig bestehenden starken langjährigen Stressbelastungen ein multilokuläres Schmerzmischbild vom sekundären Fibromyalgietyp mit „nachfolgenden“ schweren psychovegetativen Störungen ausgebildet habe und Schmerzreizempfindlichkeit und Schmerzwahrnehmung sich „inzwischen“ krankhaft gesteigert hätten, was zur Entwicklung einer stressbedingten Hyperalgesie geführt habe, seiner eigenen Annahme entgegen, dieser Gesundheitszustand bestehe in dieser Form bereits seit dem „Jahr 2015“, ohne dass hierfür im Übrigen ein konkreter tatsächlicher Ansatzpunkt benannt wurde oder ansonsten ersichtlich wäre. Auch hieraus erhellt, dass nicht von einem gleichbleibenden Gesundheitszustand seit 2015 bzw seit Rentenantragstellung ausgegangen werden kann. Der – zutreffende – Hinweis von Dr. H darauf, dass bei der Klägerin die Diagnose einer Fibromyalgie bereits seit 2014 und die einer Schmerzerkrankung bereits seit 2009 gestellt wurden und werden, ersetzt nicht die präzise Feststellung hieraus sich ergebender konkreter Leistungseinschränkungen aufgrund im Einzelnen erhobener körperlicher und psychischer Befunde. Eine sichere Beurteilung des Restleistungsvermögens bedarf zweifelsfreier ärztlicher Feststellungen, die dem Gericht, das regelmäßig nicht über die entsprechende Sachkunde verfügt, eine sichere Überzeugungsbildung ermöglichen.
Für eine Verschlechterung der Leiden im Verlauf und deren erstmals infolge der Begutachtung bei Dr. H zweifelsfrei festzustellende leistungslimitierende Auswirkungen (im Sinne des Vorliegens von voller EM) im zu fordernden Vollbeweis spricht zudem, dass im Vorgutachten der Sachverständigen Dr. Ha, die ebenfalls über einschlägige Expertise in der Schmerzbegutachtung verfügt, diese noch im Oktober 2019 der Klägerin ein vollschichtiges Leistungsvermögen bescheinigt hatte. Auch in Ansehung der fachlichen Kritik von Dr. H an dem Gutachten von Dr. Ha kann indes nicht unberücksichtigt bleiben, dass der von Dr. Ha erhobene psychopathologische Befund, die anlässlich der seinerzeitigen Begutachtung von der Klägerin geschilderten Beschwerden und auch der von Dr. Ha – zwar in gedrängter Kürze, aber durchaus umfassend – geschilderte Tagesablauf nicht ansatzweise ein (schon damals) derart ausgeprägtes Schmerzerleben der Klägerin nahelegen, wie dies bei Dr. H dann der Fall war. Auch aus dem Reha-Entlassungsbericht vom Juni 2015 lassen sich derart weitgehende Einschränkungen nicht entnehmen, hatte die H-U-Klinik seinerzeit doch noch ein mehr als sechsstündiges tägliches Leistungsvermögen der Klägerin beschrieben. Anlässlich der stationären Behandlung im August 2019 wurde die Klägerin mit einer „leichten Beschwerdelinderung“ entlassen. In der Gesamtschau ist damit von einem sich im Verlauf verschlechternden und schließlich chronifizierten Gesundheitszustand der Klägerin auszugehen (vgl in diesem Sinne auch der die Klägerin seit November 2020 behandelnde Schmerztherapeut Dr. N in seinem Bericht vom 10. März 2021), ohne dass mit Sicherheit festzustellen ist, ob (und ggf seit wann genau) bereits vor dem Untersuchungszeitpunkt bei Dr. H die von diesem schließlich gesehene ausgeprägte Schmerzerkrankung mit der daraus resultierenden quantitativen Leistungseinschränkung vorlag. Dies gilt für den noch streitgegenständlichen Zeitraum naturgemäß auch für die Beurteilung des Vorliegens einer schweren spezifischen Leistungsbehinderung bzw einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen, die eine Pflicht zur Benennung einer konkreten Verweisungstätigkeit zur Folge gehabt hätte (vgl. BSG, Urteil vom 18. Februar 1998 – B 5/4 RA 58/97 R – juris). Auch insoweit lassen sich keine entsprechenden Tatsachen mit der zu fordernden Gewissheit feststellen. Die Nichtfeststellbarkeit der anspruchsbegründenden Tatsachen geht nach Ausschöpfung der dem Gericht zur Verfügung stehenden Ermittlungsmöglichkeiten zu Lasten der Klägerin, die hieraus Rechte herleiten will.
Nach § 128 Abs. 1 SGG urteilt das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Die erforderliche Überzeugung liegt, da es eine absolute Gewissheit nur selten gibt, in der Regel dann vor, wenn eine Tatsache mit einem besonders hohen Grad an Wahrscheinlichkeit nachgewiesen ist, die an Gewissheit grenzt. Eine Tatsache ist danach bewiesen, wenn sie in so hohem Maße wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens nach allgemeiner Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen (vgl etwa BSGE 45, 1, 9; BSGE 7, 103, 106 sowie BSGE 19, 52, 53). Eine Beweisführungslast wie im Zivilprozess gibt es im sozialrechtlichen Verwaltungs- und Gerichtsverfahren auf Grund des Untersuchungsgrundsatzes zwar nicht. Allerdings gibt es nach den Grundsätzen der objektiven Beweislast die sogenannte materielle Feststellungslast, der zu Folge derjenige bzw diejenige die Folgen der Nichtfeststellbarkeit einer (anspruchsbegründenden) Tatsache trägt, der oder die aus dieser Tatsache ein Recht oder Vorteil herleiten will (vgl BSGE 6, 70, 72; BSGE 19, 52, 53). Dies ist in der Regel für die anspruchsbegründenden Tatbestandsmerkmale einer EM-Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit der bzw die Versicherte, hier also die Klägerin.
Die Wegefähigkeit der Klägerin war und ist schließlich auch nach der Einschätzung von Dr. H gegeben. Die Klägerin war und ist in der Lage, täglich viermal eine Fußstrecke von mehr als 500 Metern in mindestens 20 Minuten (für 500 Meter) zurückzulegen (vgl zum Ganzen: BSG, Urteil vom 21. März 2006 – B 5 RJ 51/04 R = SozR 4-2600 § 43 Nr. 8 mwN). Die Klägerin konnte und kann ferner auch öffentliche Verkehrsmittel zweimal täglich ohne Begleitperson nutzen.
Darauf, ob der Klägerin im Streitzeitraum einen ihrem verbliebenen Leistungsvermögen entsprechenden Arbeitsplatz auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tatsächlich erhalten konnte, kommt es nicht an. Denn die jeweilige Arbeitsmarktlage, die für leistungsgeminderte Arbeitnehmer – wie die Klägerin – kaum entsprechende Arbeitsplatzangebote zur Verfügung stellte, ist für die Feststellung von voller oder teilweiser EM – wie der Gesetzgeber ausdrücklich klargestellt hat – unerheblich (vgl § 43 Abs. 3 Halbs 2 SGB VI).
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.
Gründe für eine Zulassung der Revision gemäß § 160 Absatz 2 Nrn. 1 oder 2 SGG liegen nicht vor.