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Erwerbsminderungsrente wegen chronifizierter Depression – Verweisungstätigkeit

Landessozialgericht Thüringen – Az.: L 6 R 539/07 – Urteil vom 13.12.2011

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Gotha vom 1. Februar 2007 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Klägerin Anspruch auf eine Rente wegen Erwerbsminderung hat.

Die 1959 geborene Klägerin absolvierte von September 1976 bis Juli 1978 erfolgreich eine Ausbildung zum Wirtschaftskaufmann. Danach war sie bis Mai 1991 als Sachbearbeiterin, von Mai 1991 bis August 1992 als Schuhverkäuferin und bis Dezember 1995 erneut als Sachbearbeiterin tätig. Von April 1996 bis September 1996 arbeitete sie als Schuhverkäuferin, von November 1996 bis März 2003 als Verkäuferin und Kassiererin bei „extra die Verbrauchermärkte der r., -SB Warenhaus GmbH“. Zu ihren Aufgaben gehörten laut Arbeitgeberauskunft vom 19. Juni 2006 Kassierung, Beratung, Warenpflege, -annahme und -beschaffung aus dem Lager, Disposition, fachkundige Beratung der Kunden sowie alle anderen Tätigkeiten nach einer mindestens dreimonatigen Einarbeitung. Die Entlohnung erfolgte in der Vergütungsgruppe K 2 nach dem 8. Berufsjahr nach dem im Einzelhandel geltenden Tarifvertrag. Beendet wurde das Arbeitsverhältnis wegen erheblicher krankheitsbedingter Fehlzeiten. Von Juni bis September 2006 arbeitete sie als Telefonistin bei einer Versicherungsagentur und von Januar bis Juni 2008 als Kündigungsmanagerin bei einer Krankenkasse. Seit dem 26. Juni 2008 war sie arbeitsunfähig erkrankt.

Im Juni 2004 beantragte sie die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung. Die Beklagte zog u.a. den Rehabilitationsentlassungsbericht der W. Reha-Klinik vom 24. März 2003 bei (Diagnosen: exogen-allergische Alveolitis, Polyathralgien, leichte Hypercholesterinämie; Leistungsbild: Ausübung der Tätigkeit als Verkäuferin sechs Stunden und mehr, leichte Tätigkeiten im temperaturstabilen Milieu ohne inhalativ-irritative Noxen sechs Stunden und mehr) und holte ein internistisches Gutachten des Dr. F. vom 16. Juli 2004 (Diagnosen: arterielle Hypertonie, Hypocholesterinämie, Zustand nach allergischer Alveolitis, asymptomatische Harnwegsinfektion, degeneratives Wirbelsäulensyndrom; Leistungsbild: leichte bis mittelschwere Tätigkeiten vollschichtig unter Beachtung von Einschränkungen möglich) sowie ein orthopädisches Gutachten des Dr. Junker von 21. Juli 2004 (Diagnosen: polytope rezidivierende Arthritiden unklarer Genese, Sinusitis maxilaris beidseits, exogen allergische Alveolitis; Leistungsbild: Tätigkeit als Verkäuferin sechs Stunden und mehr, mittelschwere Arbeiten vollschichtig möglich) ein. Mit Bescheid vom 14. September 2004 lehnte sie eine Rentengewährung ab. Der Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 23. Februar 2005).

Auf die Klageerhebung hat das Sozialgericht (SG) u.a. diverse Befundberichte mit entsprechenden medizinischen Anlagen beigezogen sowie Dr. K. mit der Erstellung eines internistischen und Dr. Dr. B. mit der Erstellung eines orthopädischen Gutachtens beauftragt. Zusammenfassend führen die Sachverständigen unter dem 19. Oktober 2006 aus, unter Berücksichtigung der aktuellen gesundheitlichen Situation sei der Klägerin eine vollschichtige Einsetzbarkeit nur noch für körperlich leichte Tätigkeiten mit Einschränkungen möglich. Im Einzelnen hat Dr. K. einen Zustand nach toxisch/exogen-allergischer Alveolitis (zurzeit ohne Beeinträchtigungen) im November 2001, eine allergische Disposition, Migräne, Spannungskopfschmerz, ein chronisches Schmerzsyndrom mit chronischem Lumbalsyndrom sowie Arthralgien im Bereich beider Daumengrundgelenke, eine essenzielle arterielle Hypertonie, einer hypertensive Herzerkrankung mit konzentrischer linksventrikulärer Hypertrophie, einen Zustand nach Hysterektomie sowie Ovarektomie bei Uterus myomastus genannt, Dr. Dr. B. „Angabe von rezidivierenden Halswirbelsäulen- und Nackenbeschwerden ohne röntgenmorphologisches Korrelat, chronisch-rezidivierende Lendenwirbelsäulenbeschwerden bei Wirbelsäulenfehlstatik mit linkskonvexer Skoliose des thorako-lumbalen Übergangs, Funktionseinschränkungen des rechten Hüftgelenkes ohne entsprechendes röntgenmorphologisches Korrelat, rezidivierende Beschwerden im Sinne einer Epicondylitis humeri radialis beidseits, Zustand nach Ringbandspaltung beidseits bei chronischer Tendovaginitis im Bereich des Daumens beidseits, chronische Sinusitis maxillaris, Migräne und Spannungskopfschmerz, Zustand nach Alveolitis, anamnestisch Aortenklappenstenose, anamnestisch Mitralklappeninsuffizienz“.

Erwerbsminderungsrente wegen chronifizierter Depression - Verweisungstätigkeit
Symbolfoto: Von Sam Wordley /Shutterstock.com

Das SG hat den Beteiligten berufskundliche Gutachten der Sachverständigen J. vom 2. Juli 2003, 18. Juli und 15. Dezember 2004 aus anderen beim Thüringer Landessozialgericht anhängigen Verfahren (Az.: L 2 RJ 705/01, L 2 RA 616/02 und L 6 R 544/03) u.a. zur Tätigkeit einer Registratorin und Poststellenmitarbeiterin zur Kenntnisnahme übersandt. Mit Urteil vom 1. Februar 2007 hat es die Klage abgewiesen und zur Begründung u.a. ausgeführt, ein Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung bestehe nicht, weil die Klägerin nach den vorliegenden medizinischen Unterlagen leichte Tätigkeiten vollschichtig mit Einschränkungen mindestens sechs Stunden täglich ausüben könne. Ein Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit nach § 240 Abs. 2 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VI) scheide aus, weil die Klägerin zumutbar auf die Tätigkeit Registratorin oder Poststellenmitarbeiterin verwiesen werden könne.

Mit ihrer Berufung hat diese vorgetragen, es seien nicht alle vorliegenden Erkrankungen berücksichtigt worden. Die vom SG genannten Verweisungstätigkeiten existierten in dieser Form nicht mehr. Es werde nicht berücksichtigt, dass bei einer chronischen Sehnenscheidenentzündung (Tendovaginitis) im Stadium der Akuterkrankung keine Arbeitsleistung möglich sei. Zwischenzeitlich habe sich eine chronische Knochenhautentzündung (Epicondylitis humero radialis) entwickelt. Auch das diagnostizierte Weichteilrheuma führe wegen der regelmäßig gleichmäßigen Arbeitsbelastung zur Arbeitsunfähigkeit. Im Übrigen leide sie alle vier bis acht Wochen unter Drehschwindel, der beim morgendlichen Aufstehen eintrete und regelmäßig erst nach zwei bis drei Tagen abklinge, weiterhin mindestens im Abstand von ein bis zwei Monaten unter Migräneanfällen, die ebenfalls zur Arbeitsunfähigkeit zwischen vier Stunden und zwei bis drei Tagen führten. Aufgrund ihrer Bauchverwachsungen müsse sie sich regelmäßig bewegen; rein sitzende Tätigkeiten führten zu akuten Verstopfungen. Diese könne sie nicht durch regelmäßige sportliche Tätigkeiten ausgleichen, da sie infolge ihrer chronische Bronchitis schon bei geringfügigen körperlichen Anstrengungen unter Atemnot leide. Wenn sie Viren oder Bakterien ausgesetzt sei, erkranke sie an akuter Nasennebenhöhlenentzündung oder Bronchitis. Ihre Erkrankungen ergäben sich auch aus dem Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) – Dr. F. – vom 28. August 2009, dem Bericht des Dipl.-Med. P. vom 22. Oktober 2010, der gutachterlichen Stellungnahme der Gemeinschaftspraxis Erfurt Dr. R.-J., Dipl.-Med. J., Dipl.-Med. J. für die Deutsche Krankenversicherung AG vom 27. Oktober 2010 (Diagnosen: schwere depressive Episode oder psychotische Symptome, somatoforme Schmerzstörung, posttraumatische Belastungsstörung, arterielle Hypertonie).

Die Klägerin beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Gotha vom 1. Februar 2007 abzuändern und die Beklagte unter Abänderung des Bescheids vom 14. September 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides von 23. Februar 2005 zu verurteilen, ihr ab dem 1. Juli 2008 Rente wegen voller Erwerbsminderung, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit zu gewähren.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Zur Begründung verweist sie auf die Entscheidungsgründe des erstinstanzlichen Urteils.

Der Senat hat u.a. diverse Befundberichte mit Anlagen, eine ergänzende Stellungnahme des Dr. K. vom 29. Februar 2008 (aus den im Berufungsverfahren vorgelegten medizinischen Unterlagen ergibt sich keine Änderung des Restleistungsvermögens), ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten des Dr. O. vom 24. Januar 2007 aus einem anderen Verfahren der Klägerin (Az.: S 4 SB 2875/04) sowie den Rehabilitationsentlassungsbericht der Dr. L. Klinik GmbH vom 25. September 2008 (Diagnosen: psychosomatisches Syndrom bei depressiver Störung, Fibromyalgie, allergische Alveolitis von 2001, arterielle Hypertonie; Leistungsbild: leichte bis mittelschwere Arbeiten sechs Stunden und mehr möglich) und den Entlassungsbericht der Rheumaklinik B.W.vom 7. Juli 2009 (Diagnosen: Fibromyalgiesyndrom, Anpassungsstörung, längere depressive Reaktion, craniomandibuläre Dysfunktion mit Tendomyopathien des Schulter-Nackengürtels und Dysbalancen, arterieller Hypertonus <medikamentös eingestellt>; Tätigkeit als Wirtschaftskauffrau sechs Stunden und mehr, leichte bis mittelschwere Arbeiten sechs Stunden und mehr) beigezogen und mehrere Gutachten eingeholt. Nach dem neurologisch-psychiatrischen Gutachten des Dr. U. vom 8. Dezember 2009 sowie seinen ergänzenden Stellungnahmen vom 20. Mai 2010 und 11. April 2011 leidet die Klägerin unter einer multiplen Somatisierungsstörung, einem L4/5 Syndrom und Bluthochdruck; sie könne aber mindestens sechs Stunden täglich leichte kurzzeitig auch mittelschwere Tätigkeiten in wechselnder Körperhaltung, ohne Zwangshaltungen, ohne besondere nervliche Belastung und ohne Zeitdruck ausüben. Der Facharzt für Allgemeinmedizin, physikalische und rehabilitative Medizin Dr. Sch.hat in seinem Gutachten nach § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) vom 5. Oktober 2010 u.a. folgende Gesundheitsstörungen diagnostiziert: seelisches Leiden, umfangreiche Somatisierungsstörungen, Spannungskopfschmerz, Fibromyalgiesyndrom, chronisches Schmerzsyndrom im Stadium III nach Prof. Dr. G., echte Migräne, Bluthochdruck mit Herzschädigungsfolgen (hypertensive Herzkrankheit), Herzklappendefekt (mittelgradige Aortensklerose, Mitralinsuffizienz), wiederkehrende Stirn-/Nasennebenhöhlenentzündung, wiederkehrende Ellenbogengelenkentzündung (Tennis-Ellenbogen, Golf-Ellenbogen), operierte Veränderungen der Daumensehnen, wiederkehrende Bronchitis. Die Klägerin sei noch in der Lage, regelmäßig mindestens sechs Stunden täglich mit Einschränkungen erwerbstätig zu sein, auch als Industriekauffrau und Registratorin, wobei ihre eingeschränkte Umstellungs- und Anpassungsfähigkeit zu berücksichtigen sei. Das umfangreiche negative Leistungsbild sei wahrscheinlich erst ab Mitte /Ende 2009 anzunehmen. Unter dem 18. Januar 2011 hat der Sachverständige eine ergänzende Stellungnahme abgegeben. Dr. M.hat in seinem nervenärztlichen Gutachten vom 31. August 2011 nach § 109 SGG angegeben, bei der Klägerin bestünden migränoide Kopfschmerzen, chronifizierte Depressionen mit Schmerzfehlentwicklung und Somatisierungsstörung (überwiegend funktionell körperlicher Symptome) sowie eine statische und körperliche Funktionsstörung der gesamten Wirbelsäule, insbesondere der Hals- und Lendenwirbelsäule. Aus nervenärztlicher Sicht müssten die früher gestellten Diagnosen bestätigt werden. Die Klägerin könne nur noch leichte Arbeiten, zum Beispiel drei Stunden täglich, ausführen. Abschließend könne zusammenfassend eine einfache – unter Berücksichtigung der genannten Einschränkungen – Tätigkeit von drei bis maximal sechs Stunden täglich empfohlen werden.

Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichts- und beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Entscheidungsgründe

Die Berufung der Klägerin ist unbegründet; sie hat keinen Anspruch auf eine Rente wegen Erwerbsminderung.

Ein Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit nach den §§ 43, 240 SGB VI in der Fassung ab 1. Januar 2001 (n.F.) scheidet aus, denn die Leistungsfähigkeit der Klägerin ist nicht in dem für eine Rentengewährung erforderlichen Umfang herabgesunken. Nach § 43 Abs. 1 Satz 1 SGB VI n.F. haben Versicherte Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung, wenn sie teilweise erwerbsgemindert sind und die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen erfüllen. Teilweise erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein (Satz 2). Nach § 240 Abs. 1 SGB VI haben Versicherte Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres, wenn sie vor dem 2. Januar 1961 geboren und berufsunfähig sind und die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen (§ 241 SGB VI) erfüllen.

Die Klägerin ist nicht berufsunfähig i.S.v. § 240 SGB VI, weil ihre Leistungsfähigkeit nicht in erforderlichem Umfang herabgesunken ist. Nach § 240 Abs. 2 S. 1 SGB VI sind Versicherte berufsunfähig, deren Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder Behinderung im Vergleich zur Erwerbsfähigkeit von körperlich, geistig und seelisch gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten auf weniger als sechs Stunden gesunken ist. Nach Satz 2 umfasst der Kreis der Tätigkeiten, nach dem die Erwerbsfähigkeit von Versicherten zu beurteilen ist, alle Tätigkeiten, die ihren Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihnen unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs ihrer Ausbildung sowie ihres bisherigen Berufes unter den besonderen Anforderungen ihrer bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können. Berufsunfähig ist nach Satz 4 nicht, wer eine zumutbare Tätigkeit mindestens sechs Stunden täglich ausüben kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen. Berufsunfähigkeit liegt nicht schon dann vor, wenn der Versicherte „seinen Beruf“ nicht mehr ausüben kann, sondern erst dann, wenn eine Verweisung auf eine zumutbare andere Tätigkeit nicht mehr möglich ist.

Die Definition der Berufsunfähigkeit in § 240 Abs. 2 SGB VI entspricht der in § 43 Abs. 2 SGB VI in der Fassung vor dem 1. Januar 2001 mit dem Unterschied, dass nunmehr auf ein Herabsinken auf weniger als sechs Stunden abgestellt wird. Die bisherige Auslegung und Rechtsprechung zur Berufsunfähigkeit gilt bei der Neuregelung weiter (vgl. u.a. Senatsurteil vom 26. Juli 2004 – Az.: L 6 RJ 301/03).

Die Zumutbarkeit einer Verweisungstätigkeit wird grundsätzlich nach der Wertigkeit des bisherigen Berufes festgestellt, wozu die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) das so genannte Mehrstufenschema entwickelt hat. Die verschiedenen Stufen sind nach dem qualitativen Wert des bisherigen Berufes – dieser wird nach Dauer und Umfang der im Regelfall erforderlichen Ausbildung, nicht anhand von Prestige oder Entlohnung bestimmt – hierarchisch geordnet (vgl. Bundessozialgericht <BSG>, Urteil vom 14. Mai 1996 – Az.: 4 RA 60/94 in BSGE 78, 207, 218; BSG, Urteil vom 24. März 1998 – Az.: B 4 RA 44/96 R, nach juris). Bei den Angestelltenberufen erfolgt eine Untergliederung in sechs Berufsgruppen: Angestelltenberufe von hoher Qualität, die regelmäßig auf einem Hochschulstudium oder einer vergleichbaren Qualifikation beruht und in denen regelmäßig ein Arbeitsentgelt oberhalb, an oder in der Nähe unterhalb der Beitragmessungsgrenze erzielt wird (sechste Stufe); Angestelltenberufe, die zwar ein abgeschlossenes Studium an einer Fachhochschule oder wissenschaftlichen Hochschule voraussetzen, jedoch nur Kenntnisse und Fähigkeiten unterhalb der Führungsebene – d.h. unterhalb der obersten Stufe – erfordern (fünfte Stufe); Angestelltenberufe, die eine Meisterprüfung oder einen erfolgreichen Besuch einer Fachschule voraussetzen – im Kern mit der Berufstätigkeit der höchsten Stufe der Arbeiterberufe übereinstimmen – (vierte Stufe); der Angestelltenberufe mit einer längeren Ausbildung als zwei Jahre (dritte Stufe); der angelernten Angestellten mit einer Ausbildung bis zu zwei Jahren (zweite Stufe) und der unausgebildeten (ungelernten) Angestellten. Die Einordnung eines bestimmten Berufsschemas erfolgt nicht ausschließlich nach der Dauer der förmlichen Berufsausbildung, sondern auch nach der Qualität der verrichteten Arbeit, das heißt dem aus der Mehrzahl von Faktoren zu ermittelnden Wert der Arbeit für den Betrieb (vgl. BSG, Urteil vom 29. März 1994 – Az.: 13 RJ 35/93 in SozR 3-2200 § 1246 Nr. 45). Es kommt auf das Gesamtbild an, wie es durch die in § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI genannten Merkmale (Dauer und Umfang der Ausbildung sowie des bisherigen Berufes, besondere Anforderungen der bisherigen Berufstätigkeit) umschrieben wird. Auch wenn in einem Beruf der herkömmliche Ausbildungsweg nicht durchlaufen wurde, besteht ein entsprechender Berufsschutz, wenn er nicht nur vorübergehend vollwertig ausgeübt wurde, der Versicherte über die für die Wettbewerbsfähigkeit erforderlichen theoretischen Kenntnisse und praktischen Fertigkeiten verfügt und sich dies auch in einer entsprechenden Bezahlung bzw. tariflichen oder tarifvertraglichen Einstufung widerspiegelt (vgl. BSG, Urteil vom 20. Juli 2005 – B 13 RJ 29/04 R, nach juris).

Die Klägerin ist allenfalls als Angelernte mit einer Ausbildung bis zu zwei Jahren einzustufen. Sie hat zuletzt auf Dauer eine Tätigkeit als Verkäuferin ausgeübt und wurde entsprechend der Lohngruppe K 2 entlohnt. Eine Ausbildung zur Verkäuferin hat sie nicht absolviert. Es kann dahinstehen, ob sie sämtliche theoretischen und praktischen Kenntnisse einer Verkäuferin erworben hat, weil es sich dabei nur um eine zweijährige Ausbildung nach dem Berufsausbildungsgesetz handelt. Ein höherer Berufsschutz als Angestellte mit einer Ausbildung über zwei Jahre wird auch bei einer abgeschlossenen Ausbildung zur Verkäuferin nicht erreicht. Die bis Mai 1991 ausgeübte Tätigkeit als Wirtschaftskauffrau kann nicht als bisheriger Beruf berücksichtigt werden, weil nicht ersichtlich ist, dass sie aus gesundheitlichen Gründen aufgegeben wurde.

Der Senat lässt offen, ob die Klägerin ihren bisherigen Beruf als Verkäuferin noch im Umfang von mindestens sechs Stunden täglich auszuüben vermag; er verweist sie auf die sozial zumutbare Tätigkeit einer Registratorin, die auch einer Angestellten mit einer Ausbildung von mehr als zwei Jahren zumutbar wäre und die Tätigkeit einer Poststellenmitarbeiterin.

Nach dem Gutachten der berufskundlichen Sachverständigen J. vom 15. Dezember 2004 in einem früheren Verfahren des Senats (Az.: L 6 RJ 544/03), das den Beteiligten zur Kenntnisnahme übersandt worden ist, kann die Tätigkeit einer Registratorin nach einer Anlernzeit von weniger als drei Monaten ausgeübt werden (vgl. Senatsurteil vom 5. September 2001 – Az.: L 6 RA 294/97 in: Breithaupt 2002, S. 18 ff.). Es handelt es sich um eine kaufmännisch-verwaltende Tätigkeit auf der Ebene der Angestellten mit einer Ausbildung von bis zu zwei Jahren. Der Zugang ist geregelt; bevorzugt wird das Einarbeiten/Anlernen von Bewerbern aus kaufmännischen und verwaltenden Berufen. Die Klägerin besitzt als gelernte Wirtschaftskauffrau einschlägige Vorkenntnisse bzw. Vorerfahrungen. Registratorinnen führen eine vielfach gegliederte Registratur; sie sind verantwortlich für das Registrieren und Archivieren von Akten und anfallendem Schriftverkehr, Vergeben von Aktenzeichen nach den geltenden Aktenplänen und von fortlaufenden Aktennummern sowie das Anlegen von Neuakten und Aussondern von Altakten unter Beachtung von Aufbewahrungsfristen. Die Tätigkeit umfasst folgende Aufgaben und Anforderungen: Kenntnis der Unternehmens- und Betriebsstruktur und Kenntnis der Betriebsabläufe, Erkennen der verschiedenen Sachverhalte und Kenntnis der verschiedenen Belege für die richtige Zuordnung, Einsortieren bzw. Entnahme von Schriftstücken zur Weiterbearbeitung, Kontrolle der Entnahme von Schriftstücken zum Schutz vor Verlusten, Aussortieren nicht mehr benötigter Schriftstücke, Beherrschen der Ordnungssysteme (alphabetisch, numerisch, chronologisch), Beherrschen der Ablagesysteme (Ordner, Stehsammler, vertikale Hängeregistratur etc.), Arbeiten mit alternativen Registraturformen (z.B. Mikroverfilmung), Arbeit mit Karteien (z.B. Karteikarten), zum Teil Arbeit mit Dateien (Disketten, CD-Rom), Arbeit mit weiterer Bürotechnik (z.B. Schreibmaschine). Die Tätigkeit stellt keine Anforderungen an das körperliche Leistungsvermögen, denen die Klägerin nicht gewachsen wäre. Es handelt sich um eine körperlich leichte Tätigkeit, die überwiegend im Sitzen, gelegentlich im Stehen und Gehen ausgeübt wird.

Die Tätigkeit des Poststellenmitarbeiters gehört zur Berufsgruppe der Bürohilfskräfte, für die im Allgemeinen keine Berufsausbildung erforderlich ist und bei der fehlende Kenntnisse durch Einarbeitung beziehungsweise Anlernen in weniger als drei Monaten erworben werden können. Es sind einfache wiederkehrende kaufmännisch verwaltende körperlich leichte Arbeiten in geschlossenen Räumen (z.B. Öffnen und Auszeichnen sowie Verteilen von Post, Kuvertieren und F. ieren der ausgehenden Post usw.), die überwiegend im Sitzen mit der Möglichkeit zum zeitweisen Gehen und Stehen ausgeführt werden; zum Teil erfordern sie Umgang mit Kommunikationsmitteln. Entlohnt wird die Tätigkeit in der Vergütungsgruppe IX BAT-Bund/Länder (so die Sachverständige J., nach der Neuregelung des Tarifrechts zum 1. November 2006: Entgeltgruppe 2), teilweise in der Vergütungsgruppe X Nr. 1 BAT-Ost (vgl. Senatsurteil vom 29. November 2000 – Az.: L 6 RJ 238/97). Stellen für Bürohilfskräfte sind in ausreichender Menge auf dem Arbeitsmarkt der gesamten Bundesrepublik vorhanden. Anknüpfungspunkte dafür, dass die Klägerin über die hier erforderlichen einfachen Kenntnisse im kaufmännisch-verwaltenden Bereich verfügt, ergeben sich aus ihrem beruflichen Werdegang. So hat sie erfolgreich eine Ausbildung zum Wirtschaftskaufmann abgeschlossen und war in diesem Beruf bis Mai 1991 tätig. Insoweit erfordern die als Poststellenmitarbeiterin zu erfüllenden Aufgaben für die Klägerin auch lediglich geistig einfache Arbeiten, die sie noch bewältigen kann.

Mit ihrem Leistungsvermögen ist die Klägerin in der Lage, diese Tätigkeiten mindestens sechs Stunden täglich auszuführen. Der Senat stützt sich insoweit insbesondere auf die Gutachten des Dr. K. vom 19. Oktober 2006 und seine ergänzende Stellungnahme vom 29. Februar 2008, des Dr. Dr. B. vom 19. Oktober 2006, den Rehabilitationsentlassungsbericht der Dr. L. Klinik GmbH vom 25. September 2008, den Entlassungsbericht der Rheumaklinik der DRV O.-B. vom 7. Juli 2009 sowie das neurologisch-psychiatrische Gutachten des Dr. U. vom 8. Dezember 2009 und seine Stellungnahmen vom 20. Mai 2010 und 11. April 2011. Die im Verwaltungsverfahren beigezogenen Unterlagen und die auf Antrag der Klägerin eingeholten Gutachten des Dr. Sch. vom 8. Oktober 2010 und des Dr. M. vom 31. August 2011 haben diese Einschätzungen hinsichtlich ihres Restleistungsvermögens nicht erschüttert. Die von den o.g. Sachverständigen insgesamt benannten Einschränkungen werden bei der Tätigkeit als Poststellenmitarbeiterin oder Registratorin berücksichtigt: die Tätigkeiten erlauben eine wechselnde Körperhaltung, sie beinhalten keine längere Zwangshaltungen, Überkopfarbeiten, keine Arbeiten in gehäuft gebückter Haltung, keine verstärkte Hebe- und Bückbelastungen, mit dauerndem Heben von Lasten über 5 Kilogramm oder kurzzeitigem Heben von Lasten über 15 kg, keine Arbeiten auf Leitern und Gerüsten, keine Schichtarbeit, keine Tätigkeit mit verstärkt erforderlicher Konzentration oder häufig wechselnden Arbeitszeiten sowie in Nachtschichten und in Akkordarbeit, keine Einwirkung von Zugluft, Kälte oder Hitze oder Einwirkungen von Hautreizstoffen. Es handelt sich nicht um Tätigkeiten an schwergängigen Bedienungseinrichtungen. Die Möglichkeit der Ausübung einer Tätigkeit als Registratorin haben Dr. U. und letztendlich auch Dr. Sch. in ihren Gutachten ausdrücklich bejaht.

Nach dem Gutachten des Dr. K. besteht bei der Klägerin ein Zustand nach toxisch/exogen-allergischer Alveolitis im November 2001 (zurzeit ohne Beeinträchtigungen), eine allergische Disposition, Migräne, Spannungskopfschmerz, ein chronisches Schmerzsyndrom mit chronischem Lumbalsyndrom sowie Arthralgien im Bereich beider Daumengrundgelenke, eine essenzielle arterielle Hypertonie, eine hypertensive Herzerkrankung mit konzentrischer linksventrikulärer Hypertrophie, ein Zustand nach Hysterektomie sowie Ovarektomie bei Uterus myomastus. Trotzdem kann sie noch leichte körperliche Arbeiten sechs bis acht Stunden arbeitstäglich verrichten. Die Beeinträchtigungen resultieren insbesondere aus der chronifizierten Schmerzsymptomatik im Bereich verschiedener Abschnitte des Bewegungsapparates. Insofern kann sie nur Tätigkeiten ohne Nachtschicht, Überstunden, gleichförmige Arbeitshaltungen, längere Zwangshaltungen, Überkopfarbeiten, statische Belastungen oberhalb fünf Kilogramm, starke TemperaturSch.kungen, starke Sonneneinstrahlungen und ohne Verrichtungen an Hitzearbeitsplätzen ausüben. Einschränkungen bezüglich der Wegefähigkeit bestehen nicht, betriebsunübliche Pausen sind nicht erforderlich. Dr. Dr. B. hat unter dem 19. Oktober 2006 folgende Diagnosen genannt: rezidivierende Halswirbelsäulen- und Nackenbeschwerden ohne röntgenmorphologisches Korrelat, chronisch-rezidivierende Lendenwirbelsäulenbeschwerden bei Wirbelsäulenfehlstatik mit linkskonvexer Skoliose des thorako-lumbalen Übergangs, Funktionseinschränkungen des rechten Hüftgelenkes ohne entsprechendes röntgenmorphologisches Korrelat, rezidivierende Beschwerden im Sinne einer Epicondylitis humeri radialis beidseits, Zustand nach Ringbandspaltung beidseits bei chronischer Tendovaginitis im Bereich des Daumens beidseits, chronische Sinusitis maxillaris, Migräne und Spannungskopfschmerz, Zustand nach Alveolitis, anamnestisch Aortenklappenstenose, anamnestisch Mitralklappeninsuffizienz. Die Leistungsfähigkeit der Klägerin im Erwerbsleben im Sinne eines leistungsmindernden Dauereinflusses ist vor allem durch die Wirbelsäulenfehlstatik eingeschränkt. Es besteht eine eingeschränkte Belastbarkeit für körperlich mittelschwere und schwere Arbeiten. Sie kann leichte und zeitweise mittelschwere Arbeiten ohne Zwangshaltungen, wie Arbeiten in nach vorn übergebeugter Körperhaltung und Überkopfarbeiten, ohne Arbeiten, die die grobe Kraft beider Hände erfordern, ohne Gefährdung durch Reizstoffe wie Staub, Rauch, Gas oder Dampf verrichten. Zusammenfassend haben die Sachverständigen ausgeführt, unter Berücksichtigung der aktuellen gesundheitlichen Situation ist ein vollschichtiger Einsatz nur noch für körperlich leichte Tätigkeiten möglich.

Hinsichtlich der bis zu diesem Zeitpunkt im Berufungsverfahren beigezogenen Befundberichte mit entsprechenden medizinischen Anlagen hat Dr. K. am 29. Februar 2008 mitgeteilt, sie führten nicht zu einer wesentlichen Änderung des Leistungsvermögens der Klägerin. Dies kann der Senat nachvollziehen. Die von Dr. Sch. im Befundbericht vom 2. Oktober 2007 mitgeteilten Diagnosen (Migräne, depressive Verstimmung, Verdacht auf Fibromyalgiesyndrom, Verdacht auf chronische Tendovaginitis beider Hände/Unterarme) hatte Dr. K. in seinem Gutachten bereits berücksichtigt. Die von Dr. R. im Befundbericht vom 23. November 2007 angegebene Verschlechterung im Jahr 2003 (akute Atemnot in Ruhe und bei Belastung bei allergischer Alveolitis, myofasziales Schmerzsyndrom und chronisch rezidivierende Gastritis) wird durch den Bericht der Z. B. B. GmbH, Abteilung für pneumologische Immunologie, Allergologie und Infektiologie, vom 21. Oktober 2005 über die prästationäre Untersuchung der Klägerin am 28. September 2005 nicht gestützt. Dort wird zusammenfassend ausgeführt, die bildgebende Diagnostik (Röntgenthorax und HR-Thorax-CT) biete zurzeit keinen Anhalt für eine Alveolitis oder andere pulmonale Infiltrationen; die Ergebnisse der Lungenfunktionsprüfung einschließlich Oxyergometrie zeigten ebenfalls Normwerte und keine funktionellen Einschränkungen. Unter Beobachtung der seit Oktober 2003 beendeten Kortikoidtherapie sei es zu keiner Krankheitsaktivität der exogen-allergischen Alveolitis gekommen; es besteht normale Leistungsfähigkeit. Nach den Berichten der H.krankenhaus GmbH vom 24. September 2001 und 24. Januar 2005 gestalteten sich die Operationen des rechten und linken Daumens bei Tendovaginitis und unmittelbarer poststationärer Verlauf komplikationslos, nach dem der H. Krankenhaus GmbH vom 7. Juni 2007 lässt sich die Insertionstendopathie im Bereich beider Ellenbogen (chronische Epicondylitis humero radialis) nachweisen. Es wird die Intensivierung der antiphlogistisch-analgetischen Therapie empfohlen und die Wichtigkeit einer gezielten physiotherapeutischen Behandlung betont; erst an letzter Stelle stehe eine Operation. Es handelt sich insofern um eine behandlungsbedürftige, nicht eine die Erwerbsfähigkeit dauerhaft beeinträchtigende Erkrankung.

Im Rehabilitationsentlassungsbericht der Dr. L. Klinik GmbH, Abteilung Orthopädie, vom 25. September 2008 werden als Diagnosen u.a. ein psychosomatisches Syndrom bei depressiver Störung (ICD: F 33.01) und eine Fibromyalgie (ICD: M 79.7) genannt und ausgeführt, dass aus orthopädischer Sicht der Klägerin leichte bis mittelschwere Tätigkeiten möglich sind, bei Verdacht auf Depression jedoch eine psychiatrische Beurteilung indiziert ist. In dem beigefügten Abschlussbericht äußert die Dipl.-Psych. Sch.angesichts der Schilderung der psychischen Probleme durch die Klägerin (Traurigkeit, Hoffnungslosigkeit, fehlende Genussfähigkeit, Gereiztheit, Antriebstörungen, Schlafstörungen, Grübeln) nur einen Verdacht auf eine psychische Erkrankung; die Fortführung einer psychotherapeutischen Behandlung am Heimatort wird befürwortet. Aufgrund einer Stellungnahme des behandelnden Dipl.-Med. P. vom 24. Februar 2003 (ambulante Möglichkeiten ausgeschöpft; Anpassungsstörung mit depressiver und somatischer Symptomatik) und der Empfehlung des Dr. F. vom MDK hat die Beklagte eine weitere stationäre Rehabilitationsmaßnahme in der Rheumaklinik B. W. vom 16. Juni bis 7. Juli 2009 bewilligt. Im Entlassungsbericht vom 7. Juli 2009 wird wiederum ausgeführt, dass die Klägerin eine Tätigkeit als Kauffrau sechs Stunden und mehr ausüben kann, ansonsten leichte bis mittelschwere Arbeiten unter Vermeidung von regelmäßigen Hebe- und Tragebelastungen, häufigen Zwangshaltungen, Überkopfarbeiten, Tätigkeiten an schwergängigen Bedienungseinrichtungen; Nässe-, Kälte- und Zugluftexpositionen, Expositionen atemwegsreizender Substanzen sowie Nachtarbeit und überdurchschnittliche Stressbelastung. Soweit hier ausgeführt wird, die Klägerin sei „aus psychotherapeutischer Sicht“ zurzeit noch nicht ausreichend belastbar, um sich den Anforderungen des Arbeitsmarktes zu stellen, handelt es sich um eine für die Erwerbsminderung unerhebliche Arbeitsunfähigkeit. Ausdrücklich wird angegeben, eine Arbeitsfähigkeit sei in vier bis sechs Monaten zu erwarten.

Bestätigt wird die Leistungsfähigkeit der Klägerin durch das neurologisch-psychiatrische Gutachten des Dr. U. vom 8. Dezember 2009. Er hat eine multiple Somatisierungsstörung, ein L4/5 Syndrom und Bluthochdruck diagnostiziert. Im Vordergrund der Symptomatik habe am Tag der Begutachtung bei der Klägerin ein allgemeines Schwächegefühl und deren kursorische Feststellung gestanden, „nicht mehr zu können“. Im organischen Bereich hat sich entgegen des Beschwerdevortrages kein die Erwerbsfähigkeit einschränkender pathologischer Befund ergeben. Hier zeigte sich peripherneurologisch im Bereich der rechten Wurzel L4/5 eine alte radikuläre Symptomatik, die von der Klägerin nicht direkt beklagt wurde. Nach den Ausführungen des Sachverständigen kann dies durchaus Schmerzen verursachen, zu Lähmungen oder Einschränkungen der Beweglichkeit oder Parästhesien ist es jedoch nicht gekommen. Schwere körperliche Tätigkeiten sollen bei radikulärer Symptomatik nicht mehr ausgeübt werden. Ansonsten hat er keinen pathologischen Befund festgestellt. Im Bereich der oberen Extremitäten hat er ein Engpasssyndrom mittels NLG-Untersuchung ausgeschlossen. Im psychischen Bereich berichtet er über eine Monotonie des Beschwerdevortrages und innere Distanz zu den teilweise gravierend berichteten multiplen Symptomen. Er hat sowohl bei der körperlichen Untersuchung als auch bei der testpsychologischen Untersuchung Hinweise auf Aggravation bzw. auf negative Antwortverzerrung gefunden. Auch angesichts der Schilderungen der Klägerin zu ihrem Tagesablauf ohne wesentliche Einschränkung der sozialen Kompetenz hat der Sachverständige nachvollziehbar eine die Erwerbsfähigkeit einschränkende psychische Störung verneint und angegeben, sie besitze zahlreiche gesunde Persönlichkeitsanteile, um krankhafte zu überwinden, und könne mindestens sechs Stunden täglich leichte kurzzeitig mittelschwere Tätigkeiten ausüben auch als Registratorin. Es muss sich um Arbeiten in wechselnder Körperhaltung ohne Zwangshaltungen, ohne besondere nervliche Belastung und ohne Zeitdruck handeln. Eine Einschränkung der Wegefähigkeit besteht nicht; betriebsunübliche Pausen sind nicht erforderlich.

Der Hinweis der Klägerin auf die entgegenstehende Einschätzung des Dr. F. in seinem MDK-Gutachten des MDK vom 28. August 2009 verfängt nicht. Anlass für seine Begutachtung war nur die Frage der weiteren Arbeitsunfähigkeit der Klägerin (wohl) für die Tätigkeit als Kündigungsmanagerin einer Krankenkasse. Die von ihm angenommene erhebliche Gefährdung der Erwerbsfähigkeit ist angesichts des Gutachtens des Dr. U. nicht nachvollziehbar, worauf dieser in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 20. Mai 2010 zu Recht hinweist.

In seinem Gutachten vom 5. Oktober 2010 berichtet Dr. Sch. über folgende Gesundheitsstörungen: seelisches Leiden, umfangreiche Somatisierungsstörungen, Spannungskopfschmerz, Fibromyalgiesyndrom, chronisches Schmerzsyndrom im Stadium III nach Prof. Dr. G., echte Migräne, Verschleißleiden der Hals- und Lendenwirbelsäule mit Wirbelsäulenverbiegung, fehlendes räumliche Sehvermögen bei Sehschwäche links, Verwachsungsbeschwerden, operativ behandelter Darmverschluss, wiederkehrende Zwölffingerdarmentzündung, Zwerchfellbruch, Gallensteinleiden, Bluthochdruck mit Herzschädigungsfolgen (hypertensive Herzkrankheit), Herzklappendefekt (mittelgradige Aortensklerose, Mitralinsuffizienz), wiederkehrende Stirn-/Nasennebenhöhlenentzündung, Fettstoffwechselstörung, wiederkehrende Ellenbogengelenkentzündung (Tennis-Ellenbogen, Golf-Ellenbogen), operierte Veränderungen der Daumensehnen, wiederkehrende Bronchitis, Verlust der Gebärmutter, Schwindel, Verdacht auf Morbus Meniere, allergische Hautreaktionen. Trotzdem schätzt er die Restleistungsfähigkeit der Klägerin im Wesentlichen in Übereinstimmung mit den zuvor beauftragten Sachverständigen dahingehend ein, dass sie noch in der Lage ist, regelmäßig mindestens sechs Stunden täglich leichte bis gelegentlich mittelschwere Tätigkeiten zu verrichten. Die Körperhaltung könne ständig sitzend, überwiegend gehend oder auch gelegentlich stehend sein; andererseits muss ihr die Möglichkeit gegeben werden, wechselnde Körperhaltungen nach eigenem Ermessen einzunehmen. Eine Begründung hierfür findet sich im Gutachten allerdings nicht. Weitere Einschränkungen sind danach: keine Arbeiten mit Tragen und Heben von Lasten über fünf bis maximal 15 Kilogramm (gelegentlich), Arbeiten in gebeugter Haltung oder mit regelmäßigen Bücken, Arbeiten mit Zwangshaltungen, Arbeiten mit Besteigen von Leitern und Gerüsten, Arbeiten mit Absturzgefahr, Arbeiten in hockender Stellung und im Knien, Arbeiten im Freien mit Einwirkungen von Nässe und Kälte, Arbeiten unter Zugluft und Temperaturwechsel, Arbeiten unter Einwirkungen von Hitze, Arbeiten mit Einwirkungen von Staub, Gas, Rauch und Dampf, Arbeiten mit Einwirkungen von Hautreizstoffen, Arbeiten mit besonderen Anforderungen an die Sehfähigkeit, insbesondere des räumlichen Sehens, Arbeiten an laufenden Maschinen oder EDV-Anlagen, Arbeiten unter Zeitdruck und sonstigem Stress, Arbeiten in Wechsel- und Nachtschicht sowie Arbeiten mit Fahr- und Steuertätigkeiten. Tätigkeiten als Registratorin hat er „theoretisch“ bejaht. Soweit er „in Übereinstimmung“ mit dem psychiatrischen Vorgutachten eine Einschränkung auf geistig einfachere Arbeiten angibt und behauptet, die Umstellungs- und Anpassungsfähigkeit an aktuelle oder neue berufliche Felder fehle derzeit, finden sich im Gutachten des Dr. U. vom 8. Dezember 2009 keine entsprechende Einschätzung; der fachfremden Einschätzung kann damit nicht gefolgt werden. Der Sachverständige hat auf seinem Fachgebiet tatsächlich nur eine Einschränkung hinsichtlich besonderer Anforderungen an die Umstellungs- und Anpassungsfähigkeit bejaht. Auch aus dem beigezogenen neurologisch-psychiatrischen Gutachten des Dr. O. vom 24. Januar 2007 können keine derartigen Einschränkungen hergeleitet werden, denn er hat eine Beeinträchtigung der Merkfähigkeit und Konzentration, eine Reizbarkeit oder Erregbarkeit, eine vorzeitige Ermüdbarkeit oder eine Einbuße an Überschau- und Umstellungsvermögen verneint.

Einschränkungen bezüglich der Wegefähigkeit oder die Einhaltung zusätzlicher betriebsunüblicher Pausen sind nicht ersichtlich.

In seiner ergänzenden Stellungnahme vom 18. Januar 2011 hat Dr. Sch. ausdrücklich darauf hingewiesen, dass kein Nachweis für eine rheumatische Erkrankung vorliegt; der einzige positive Labortest aus dem Jahr 2005 der ANA beweist sie nicht. Die behauptete Schwerhörigkeit hat der Sachverständige – insoweit nachvollziehbar – als offensichtlich nicht klinisch relevant bezeichnet, weil die Klägerin die normale Umgangssprache, auch das Richtungshören während der Begutachtung problemlos verstand. Soweit sie das Fehlen akuter Schmerzen mit der Einnahme des Medikament Celebrex begründet, begründet dies keine andere Einschätzung sondern belegt, dass ihre Leistungsfähigkeit durch die Einnahme des Medikaments gut zu beeinflussen ist und eine weitergehende Einschränkung des Leistungsvermögens nicht begründen kann.

Die gutachterliche Stellungnahme vom 27. Oktober 2010 der Nervenärztlichen Gemeinschaftspraxis Erfurt Dr. R.-J., Dipl.-Med. J., Dipl.-Med. J. für die Deutsche Krankenversicherung AG steht der Einschätzung ebenfalls nicht entgegen. Sie beinhaltet erhebliche methodische Mängel. Eine Leistungseinschätzung allein aufgrund von Selbstangaben eines Probanden – wie hier geschehen – ist nicht verwertbar. Fragebögen können nur die Grundlage für die Beurteilung des Grades und des Ausmaßes der Symptomatik und deren konkrete Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben sein (vgl. BSG, Beschluss vom 9. April 2003 – Az.: B 5 RJ 80/02 B, nach juris), ersetzen aber nicht die eigenständige Leistungsbeurteilung durch einen mit der Problematik der Schmerzbegutachtung erfahrenen Sachverständigen. Bei der Konsistenzprüfung sind Indizienlisten, Prüfkriterien, Einstufungsregister bzw. der jeweils aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisstand (Fachbücher, Standardwerke, Leitlinien) zu berücksichtigen und ggf. kritisch zu würdigen (vgl. BSG, Urteil vom 9. Mai 2006 – Az.: B 2 U 1/05 R, nach juris), was hier nicht geschehen ist. Zur Vollständigkeit ist anzumerken, dass das Ergebnis der Stellungnahme (die Klägerin ist „auf nichtabsehbare Zeit zu mehr als 50 % erwerbsunfähig“) für die Rentenversicherung unverwertbar ist.

Entgegen ihrer Ansicht stützt das Gutachten des Dr. M. vom 31. August 2011 das Leistungsbegehren der Klägerin nicht. Bei einem Restleistungsvermögen von drei bis maximal sechs Stunden für leichte Tätigkeiten liegt keine teilweise Erwerbsminderung vor, weil sie erst bei einer Minderung der Erwerbsfähigkeit auf unter sechs Stunden täglich besteht. Die von ihm genannten Einschränkungen des Leistungsvermögens – Tätigkeiten möglichst in wechselnder Körperhaltung, ohne Zwangshaltungen, ohne Hebe- und Beugearbeiten, ohne Absturzgefahr, ohne Schichtarbeit, ohne besondere Leistungsanforderungen. Arbeiten in geschlossenen und warmen Räumen ohne Reizstoffe, einfache Tätigkeiten, ohne Zeitdruck – gehen nicht über die bereits von den vorherigen Sachverständigen benannten Einschränkungen hinaus bzw. entbehren – hinsichtlich der Umstellungs- und Anpassungsfähigkeit – einer nachvollziehbaren Begründung. Allerdings weist dieses Gutachten ebenfalls erhebliche methodische Mängel auf: Es ist nicht Aufgabe des Sachverständigen, Empfehlungen an das Gericht auszusprechen. Die Relevanz der auf Blatt 9 aufgeführten „Beispiel-Diagnosen“ und „Hauptstichwörter“ ist für die Entscheidung unerheblich; möglicherweise sollte damit der aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisstand geschildert werden. Ohne ersichtlichen Bezug zu den gestellten Fragen und die konkrete Beurteilung der Klägerin sind allgemeine Ausführungen aber nicht verwertbar. Der Sachverständige hat im Übrigen einen verwendeten Fragebogen zum Ausschluss depressiver Störungen namentlich aufgeführt (Hamilton Depressions Rating-Skala). Angesichts der begrenzten Reliabilität dieser Skalen in der Begutachtungssituation (vgl. Widder, Schmerzsyndrome in Widder/Gaidzig, Begutachtung in der Neurologie, 2. Auflage 2011, S. 386) genügt dies nicht zur Feststellung der von ihm angenommenen chronifizierten Depression. Unverwertbar ist die Auswertung eines weiteren namentlich nicht bezeichneten Fragebogens.

Ob der Klägerin mit ihrem Leistungsvermögen eine entsprechende Tätigkeit als Poststellenmitarbeiterin oder Registratorin vermittelt werden kann, ist unwesentlich. Für vollschichtig einsatzfähige Versicherte besteht im Allgemeinen ein offener Arbeitsmarkt (vgl. BSG in SozR 2200 § 1246 Nr. 90). Ein Versicherter muss sich nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts grundsätzlich auf dem Arbeitsmarkt im gesamten Gebiet der Bundesrepublik Deutschland verweisen lassen. Dort gibt es noch eine hinreichende Anzahl zumutbarer Arbeitsplätze, unabhängig davon, ob diese offen oder besetzt sind. Das Risiko, einen entsprechenden Arbeitsplatz zu finden, trägt nicht die Beklagte, sondern die Arbeitslosenversicherung.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.

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