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Fristlose Kündigung Versorgungsvertrag mit Pflegeeinrichtung

SG Bremen – Az.: S 25 P 68/16 ER – Beschluss vom 30.11.2016

Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage unter dem Aktenzeichen S 25 P 57/16 wird mit der Maßgabe abgelehnt, dass die Befugnis zur Erbringung von Leistungen gemäß des Versorgungsvertrages bis zum 15.01.2017 weiterbesteht.

Die Antragstellerin trägt die Kosten des Rechtsstreits, mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen. Dem Beigeladenen sind außergerichtliche Kosten nicht zu erstatten.

Der Streitwert wird auf 879.100,38 € festgesetzt.

Gründe

I.

Die Antragstellerin wendet sich im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes gegen eine fristlose Kündigung des Versorgungsvertrags.

Die Antragstellerin betreibt unter der Firma XY einen Pflegedienst, der Leistungen der Tagespflege erbringt. Sie ist als GmbH & Co.KG in Form einer Einheitsgesellschaft organisiert. Dabei ist die Antragstellerin selbst Gesellschafterin ihrer eigenen Komplementär- GmbH. Komplementärin ist vorliegend die XY Verwaltungs GmbH, deren alleiniger Gesellschafter die Antragstellerin ist (Bl. 280 Gerichtsakte). Einzige natürliche Person in dieser Konstruktion ist die Kommanditistin der Antragstellerin, deren frühere Geschäftsführerin, Frau J SN. Zur Geschäftsführung und Vertretung der Antragstellerin ist ausweislich § 5 des Gesellschaftsvertrags vom 26.08.2010 (Bl. 451 ff. Gerichtsakte) die Komplementärin berechtigt und verpflichtet.

Mit Gesellschafterbeschlüssen vom 01.07.2016 und vom 02.09.2016 wurden Herr AKX. K und Frau J SN mit sofortiger Wirkung aus der Geschäftsführung der XY Verwaltungs GmbH abberufen. Neuer, zunächst alleiniger Geschäftsführer wurde ab diesem Tag Herr KK. BBT., welcher zuvor Unternehmenssprecher der Antragstellerin war. Mit Beschluss vom 27.09.2016 wurde Frau L zur weiteren Geschäftsführerin bestellt.

Für die von der Antragstellerin unter der Firma XY (IK 510 338 405) betriebene Tagespflegeeinrichtung bestand mit den Antragsgegnerinnen im Einvernehmen mit dem Beigeladenen seit dem 01.01.2013 ein Versorgungsvertrag nach § 72 Sozialgesetzbuch Elftes Buch (SGB XI) zur Erbringung von Leistungen der Tagespflege. Die Einrichtung verfügt über 20 Plätze und betreut 31 Versicherte. Es werden 22 Mitarbeiter beschäftigt. Der Jahresumsatz wird für das Jahr 2015 mit 292.033,46 Euro angegeben.

Die Antragsgegnerinnen erstatteten durch ihre Prüfgruppe gemäß § 197a Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) mit Schreiben vom 25.11.2013 Anzeige bei der Staatsanwaltschaft Bremen wegen Verdachts auf Abrechnungsbetrug. Ein zentraler Vorwurf erstreckte sich auf den Verdacht, dass Leistungen der Tagespflege gemäß § 41 Sozialgesetzbuch Elftes Buch (SGB XI) zwar abgerechnet, aber nicht erbracht worden seien.

Im Rahmen des Ermittlungsverfahrens erfolgte eine Durchsuchung sämtlicher Geschäfts- und Wohnräume von Frau SN, in deren Rahmen umfangreiche Dokumente und Unterlagen, insbesondere Pflegeakten der Versicherten und Tourenpläne, sichergestellt wurden.

Zudem erfolgten Vernehmungen von Leistungsbeziehern nach dem SGB XI, die von der Antragstellerin versorgt worden waren, von Pflegepersonen und Mitarbeitern der Antragstellerin.

Unter dem Az. 710 Js …/13 wurde Ende 2015 gegen Frau SN Anklage wegen gewerbsmäßigen schweren Betruges durch Abrechnung nicht erbrachter Leistungen in 241 Fällen im Bereich der Verhinderungspflege zu dem Landgericht Bremen erhoben. Die Staatsanwaltschaft Bremen erhob später eine weitere Anklage zum Landgericht Bremen (710 Js …/14), in der sie 631 Fälle von Abrechnungen nicht erbrachter Leistungen im Bereich der Tagespflege angeklagte. Nach einer weiteren Hausdurchsuchung wurden in einer dritten Anklageschrift mehr als 100 weitere Fälle des Betruges im Bereich der Verhinderungs- und der Tagespflege angeklagt. Im Hinblick auf die neuerlichen Vorwürfe wurde Frau SN am 02.09.2016 wegen Wiederholungsgefahr in Untersuchungshaft genommen. Das Landgericht Bremen hat sie mit Urteil vom 18.11.2016 wegen schweren gewerbsmäßigen Betruges in 918 Fällen zu einer Haftstrafe von fünf Jahren verurteilt, nachdem sie die Vorwürfe zum großen Teil eingeräumt hatte. Zudem verhängte das Landgericht Bremen eine Geldstrafe in Höhe von insgesamt 300 Tagessätzen zu je 1000 €.

Mit Schreiben vom 27.11.2015 hörten die Antragsgegnerinnen die Antragstellerin zur beabsichtigten fristlosen Kündigung des Versorgungsvertrags an.

Mit Bescheid vom 09.09.2016 kündigten die Antragsgegnerinnen den Versorgungsvertrag ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist, jedoch mit einer Auslauffrist bis zum 30.09.2016 und hilfsweise fristgerecht zum 12.09.2016. Die Zustimmung des Beigeladenen war zuvor eingeholt worden. Zur Begründung verwiesen die Antragsgegnerinnen darauf, dass gröbliche Pflichtverletzungen seitens der Antragstellerin vorlegen. Vorliegend sei eines der in § 74 Abs. 2 S. 2 SGB XI genannten Regelbeispiele verwirklicht, nämlich die Abrechnung nicht erbrachter Leistungen gegenüber den Kostenträgern. Die Gröblichkeit ergebe sich daraus, dass es sich nicht um einmalige Verstöße, sondern um eine systematische, zweckgerichtete Vorgehensweise über viele Jahre gehandelt habe, die zu einem erheblichen Schaden der Pflegekassen geführt habe. Diese Pflichtverletzungen seien der Antragstellerin zurechenbar. Das Festhalten am Versorgungsvertrag sei unzumutbar. Die Prognose falle ich hier im Hinblick auf die fortwährende Praxis und des erheblichen Schadens negativ aus. Ein anderes, gleich wirksames, milderes Mittel sei nicht ersichtlich; insbesondere sei eine fristgemäße Kündigung nicht zumutbar. Auch das Grundrecht der Berufsausübung gemäß Art. 12 GG der Antragstellerin und ihrer Mitarbeiter führe vorliegend zu keinem anderen Ergebnis. Zudem könnten auch Pflichtverletzungen als gröblich zu bewerten sein, selbst wenn eine strafrechtliche Sanktion bisher nicht erfolgt sei. Es liege kein Ausnahmefall vor, der dazu führe, dass entgegen der gesetzgeberischen Regelfolge von einer fristlosen Kündigung im Wege der Ermessensausübung abzusehen sei.

Die Antragstellerin hat am 13.09.2016 Klage vor dem Sozialgericht Stade erhoben. Mit Beschluss vom 27.09.2016 hat das Sozialgericht Stade den Rechtsstreit an das Sozialgericht Bremen (Az.: S 25 P 57/16) verwiesen. Über die Klage wurde bisher nicht entschieden.

Fristlose Kündigung Versorgungsvertrag mit Pflegeeinrichtung
(Symbolfoto: Lighthunter/Shutterstock.com)

Am 19.09.2016 hat die Antragstellerin vor dem Sozialgericht Stade um einstweiligen Rechtsschutz ersucht. Mit Beschluss vom 19.09.2016 hat das Sozialgericht Stade sich für örtlich unzuständig erklärt und das Verfahren an das Sozialgericht Bremen verwiesen. Mit Beschluss vom 27.09.016 hat das Sozialgericht Bremen eine Zwischenregelung dahingehend getroffen, dass bis zum Erlass eines abschließenden Beschlusses, längstens bis zum 31.10.2016, die aufschiebende Wirkung der Klage angeordnet wird.

Einen unter Widerrufsvorbehalt geschlossenen Vergleich widerriefen die Antragsgegnerinnen mit Schriftsatz vom 15.11.2016.

Die Antragstellerin meint, die fristlose Kündigung sei unzulässig. Zur Begründung führt sie aus, dass Frau SN nicht mehr Geschäftsführerin der Antragstellerin sei und auch aus der Pflegedienstleitung ausgeschieden sei. Dieser Umstand sei im Rahmen des Bescheides nicht gewürdigt worden. Daher sei eine Einflussnahme der Frau SN auf das operative Geschäft der Antragstellerin ausgeschlossen. Zudem begründe der bisherige Ermittlungsstand zum Tatvorwurf des Abrechnungsbetruges keine Verletzung der Vertragspflichten im Sinne des § 74 Abs. 2 SGB XI. Mangels feststehender Pflichtverletzungen sei keine fristlose Kündigung gerechtfertigt. Als mittleres Mittel komme gegenüber einer Kündigung auch in Betracht, geeignete Fort -und Weiterbildungsmaßnahmen anzuordnen oder die Pflege, Versorgung und Betreuung weiterer Pflegebedürftiger bis zur Beseitigung der Kündigungsgründe ganz oder teilweise vorläufig auszuschließen.

Mit Schriftsatz vom 03.11.2016 hat die Antragstellerin den Antrag gegenüber dem Landkreis I zurückgenommen. Die Kammer hat den Landkreis I mit Beschluss vom 15.11.2016 beigeladen.

Die Antragstellerin beantragt, die aufschiebende Wirkung der Klage S 25 P 57/16 anzuordnen.

Die Antragsgegnerinnen beantragen, den Antrag abzulehnen.

Sie sind der Auffassung, dass die Kündigung nicht zu beanstanden sei. Die Fortsetzung des Versorgungsvertrags bleibe den Antragsgegnerinnen weiterhin unzumutbar. Ausweislich einer Stellungnahme des Pressesprechers des Landgerichts Bremen nach der Urteilsverkündung soll Frau SN auch aus der Untersuchungshaft heraus weiterhin Einfluss auf das Unternehmen genommen haben. Eine grundlegende Umstrukturierung des Unternehmens sei nicht offen dargelegt worden, insbesondere seien die persönlichen und wirtschaftlichen Beziehungen von Frau SN und ihres Lebensgefährten zu der Antragstellerin nicht offengelegt worden. In A-Stadt und Umgebung seien ausreichend Pflegeplätze vorhanden, um die bei der Antragstellerin versorgten Versicherten weiterversorgen zu können.

Der Beigeladene stellt keinen Antrag.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtakten und den Verwaltungsvorgang des Beigeladenen verwiesen. Diese haben vorgelegen und waren Grundlage der Entscheidung.

II.

Der Antrag hat keinen Erfolg. Er ist zulässig, aber unbegründet.

Statthaft ist ein Antrag nach § 86b Abs.1 Nr.2 Sozialgerichtsgesetz (SGG), da die nach § 74 Sozialgesetzbuch Elftes Buch (SGB XI) ausgesprochene Kündigung des Versorgungsvertrags einen belastenden Verwaltungsakt darstellt gegen den in der Hauptsache eine Anfechtungsklage die statthafte Klageart ist (BSG, Urteil vom 12.06.2008, Az.: B 3 P 2/07 R).

Nach § 86 b Abs. 1 Nr. 2 SGG kann das Gericht auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage – wie vorliegend gemäß § 73 Abs. 2 Satz 2 2. Hs. SGB XI – keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung hat dann zu erfolgen, wenn der zugrundeliegende Verwaltungsakt offenbar rechtswidrig ist. Denn in diesen Fällen ist ein öffentliches Interesse an einer sofortigen Vollziehbarkeit generell nicht gegeben. Erweist sich der Verwaltungsakt jedoch nach der im einstweiligen Rechtsschutz gebotenen nur summarischen Prüfung als rechtmäßig, hat eine Anordnung der aufschiebenden Wirkung zu unterbleiben. Sind die Erfolgsaussichten der Rechtsverfolgung dagegen nicht hinreichend sicher abschätzbar, muss eine allgemeine Interessenabwägung erfolgen. Hierfür gilt, dass je größer die Erfolgsaussichten sind, umso geringere Anforderungen an das Aussetzungsinteresse zu stellen sind. Auszuschließen sind zudem schwere und unzumutbare Nachteile für den Betroffenen. Bei der Interessenabwägung ist auch das vom Gesetzgeber vorgesehene Regel-/Ausnahmeverhältnis für den Eintritt von aufschiebender Wirkung zu beachten (vgl. im Einzelnen: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Auflage 2008, § 86 b Rn. 12 ff. m. u. w. N.). Nach diesen Maßstäben ist die aufschiebende Wirkung der Klage unter dem Aktenzeichen S 25 P 57/16 nicht anzuordnen, weil keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit der fristlosen Kündigung des Versorgungsvertrags bestehen.

Die fristlose Kündigung des Versorgungsvertrags erweist sich nach dem derzeitigen Sach- und Streitstand als wirksam.

Gemäß § 74 Abs. 2 S. 1 SGB XI kann der Versorgungsvertrag von den Landesverbänden der Pflegekassen auch ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn die Einrichtung ihre gesetzlichen oder vertraglichen Verpflichtungen gegenüber den Pflegebedürftigen oder deren Kostenträgern derart gröblich verletzt, dass ein Festhalten an dem Vertrag nicht zumutbar ist. Das gilt insbesondere dann, wenn Pflegebedürftige infolge der Pflichtverletzung zu Schaden kommen oder die Einrichtung nicht erbrachte Leistungen gegenüber den Kostenträgern abrechnet (§ 74 Abs. 2 S. 2 SGB XI). § 74 Abs. 1 S. 2 SGB XI, der die Herstellung des Einvernehmens mit dem zuständigen Träger der Sozialhilfe verlangt, gilt im Rahmen der fristlosen Kündigung nach § 74 Abs. 2 Satz 4 SGB XI entsprechend.

Die Kündigung ist zunächst formell rechtmäßig erfolgt. Vor der Kündigung ist die Antragstellerin ordnungsgemäß angehört worden. Das Einvernehmen mit dem Beigeladenen wurde hergestellt (Bl. 205 Verwaltungsvorgang des Beigeladenen). Die Kündigung genügt auch der Schriftform, § 74 Abs.3 Satz 1 SGB XI.

Auch die materiell-rechtlichen Anforderungen des § 74 Abs.2 Satz 1 und 2 SGB XI sind erfüllt. Es liegt eine derart gröbliche Verletzung vertraglicher Pflichten gegenüber Kostenträgern vor, dass ein Festhalten an dem Versorgungsvertrag nicht zumutbar ist. Kündigungsgrund ist die als Regelbeispiel für eine gröbliche Pflichtverletzung in § 74 Abs. 2 S. 2 SGB XI genannte Abrechnung von nicht erbrachten Leistungen gegenüber den Kostenträgern. Das Vorliegen dieses Kündigungsgrundes ist mit hinreichender Sicherheit belegt.

Die gegen gesetzliche und vertragliche Regelungen verstoßende und damit fehlerhafte Abrechnung von Leistungen der Tagespflege steht inzwischen aufgrund des Geständnisses der Frau SN und des sich darauf stützenden Urteils des Landgerichts Bremen fest. Die Feststellungen des strafgerichtlichen Verfahrens kann die Kammer im Rahmen dieses Verfahrens berücksichtigen (BSG, Beschluss vom 02.04.2014, Az.: B 6 KA 58/13 B mwN.).

Die kurz vor der Kündigung erfolgte Abberufung der Frau SN aus der Geschäftsführung der Antragstellerin räumt den Kündigungsgrund der Abrechnung nicht erbrachter Leistungen gegenüber den Kostenträgern nicht aus. Zwar macht die Antragstellerin zutreffend geltend, dass der sieben Tage vor der Kündigung erfolgte Wechsel in der Geschäftsführung in dem Bescheid nicht erwähnt und gewürdigt wurde. Dies lässt aber nicht die in der Vergangenheit liegenden und von Frau SN inzwischen eingestandenen Pflichtverstöße der Antragstellerin entfallen.

Die Fortsetzung des Vertragsverhältnisses ist den Antragsgegnerinnen auch unzumutbar. Insofern haben die Antragsgegnerinnen das Übermaßverbot zu beachten. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts hat bei der Anwendung des unbestimmten Rechtsbegriffs der Unzumutbarkeit der Vertragsfortsetzung auch im Falle der Verwirklichung eines der in § 74 Abs. 2 Satz 2 SGB XI genannten Regelbeispiele eine Verhältnismäßigkeitsprüfung zu erfolgen, welche die Interessen der Versichertengemeinschaft und der Pflegeeinrichtung an der Fortsetzung bzw. Beendigung des Vertragsverhältnisses angesichts einer gröblichen Pflichtverletzung zu bewerten hat (BSG, Urteil vom 12.06.2008, Az.: B 3 P 2/07 R). Nach dem Verständnis der Kammer soll durch diese Verhältnismäßigkeitsprüfung jedoch nur verhindert werden, dass auch Bagatellfälle der Abrechnung nicht erbrachter Leistungen eine fristlose Kündigung rechtfertigen; was bei einer rein wortgetreuen Anwendung des § 74 Abs.2 Satz 1 und Satz 2 SGB XI der Fall wäre. So weist das BSG in der genannten Entscheidung darauf hin, dass eine zusätzliche Prüfung der „Gröblichkeit“ und eine Verhältnismäßigkeitsabwägung auch in Fällen (…) der Falschabrechnung (etwa bei schlichten Eingabefehlern) erforderlich bleibe. Erkennbar sei jedoch, dass der Pflegeeinrichtung zurechenbare vorsätzliche Straftaten (Körperverletzung und Abrechnungsbetrug) grundsätzlich die fristlose Kündigung auslösen.

Unter Zugrundelegung dieses Maßstabs stehen die Gröblichkeit der Pflichtverletzung und die Verhältnismäßigkeit der fristlosen Kündigung bei einem vorsätzlichen Abrechnungsbetrug in 918 Fällen und eines geschätzten Schadens von mindestens 600.000 Euro außer Frage. Die Pflegekassen haben erhebliche Zahlungen an die Antragstellerin geleistet, ohne dass die Voraussetzungen hierfür erfüllt waren. Das von der Antragstellerin praktizierte

Abrechnungsverhalten hat das Vertrauensverhältnis erheblich erschüttert. Das Vertrauen auf die Richtigkeit der Angaben eines Leistungserbringers ist ein wesentliches Fundament des Abrechnungssystems für die Pflegeleistungen. Unkorrekte Abrechnungen über einen längeren Zeitraum erschüttern dieses Vertrauen grundlegend und rechtfertigen schon deshalb die Kündigung des Versorgungsvertrags.

Die fristlose Kündigung ist auch geeignet, die fortgesetzten Pflichtverletzungen der Antragstellerin zu beenden und vom Gesetz selbst auch als Reaktion auf derart gröbliche Vertragsverletzungen vorgesehen. Es ist auch kein anderes, milderes Mittel vorhanden, auf diese Art von Vertragsverletzungen zu reagieren. Einer Pflegeeinrichtung zurechenbare vorsätzliche Straftaten sollen grundsätzlich die fristlose Kündigung auslösen (BSG aaO). Angesichts der Vielzahl von Fällen und der systematischen Vorgehensweise der Antragstellerin bestand auch kein Anlass von einer fristlosen Kündigung abzusehen. Andere mildere Mittel, die gleich geeignet sind, sind nicht ersichtlich. Soweit die Antragstellerin die in § 74 Abs. 1 Satz 3 SGB XI genannten Maßnahmen (Weiter- und Fortbildungsmaßnahmen, vorläufiger Ausschluss der Versorgung weiterer Versicherter) für mildere Mittel zur fristlosen Kündigung erachtet, sind diese erkennbar darauf gerichtet, den Kündigungsgrund auszuräumen, der auf der Verletzung von Verpflichtungen gegenüber den Pflegebedürftigen beruht, etwa wenn Pflegebedürftigen aufgrund einer mangelnden Pflegequalität ein Schaden droht. Die vorliegende Kündigung stützt sich jedoch nicht auf Mängel der Pflegequalität, so dass diese Maßnahmen nicht geeignet sind, den Kündigungsgrund des Abrechnungsbetrugs auszuräumen.

Eine Zumutbarkeit der Fortsetzung des Vertragsverhältnisses folgt auch nicht aus der Berufung eines bzw. inzwischen zwei neuer Geschäftsführer. Denn vorliegend ist zu beachten, dass die Antragstellerin weiterhin das Unternehmen ausschließlich der Frau SN ist. Durch die AYC. der Rechtsform der Einheitsgesellschaft ist sie als einzige natürliche Person an den Gesellschaften beteiligt und damit Alleinkommanditistin. Bei der EinheitsGmbH & Co vollzieht sich deshalb die Willensbildung praktisch durch die Kommanditisten (vgl. Roth in: Baumbach/Hopt, HGB, § 177a Rn. 8, 32). Bei dieser gesellschaftsrechtlichen Gestaltung ist es im Grunde unerheblich, wer als Geschäftsführer eingesetzt wird, da die Kommanditisten die beherrschende Stellung in der Gesellschaft innehaben. Aus dieser gesellschaftsrechtlichen Position heraus folgt zudem, dass der neue Geschäftsführer der Komplementär-GmbH sozialversicherungsrechtlich als abhängig Beschäftigter einzustufen ist, d.h. den Weisungen der Gesellschafter – und damit von Frau SN – uneingeschränkt unterliegt. Vieles spricht dafür dass diese Weisungsabhängigkeit auch in arbeitsrechtlicher Hinsicht gilt. Da sein Arbeitsalltag im Zuge der Bestellung zum Geschäftsführer zunächst nicht geändert wurde, könnten die vom Bundesarbeitsgericht im Beschluss vom 6.10.2012, Az.: 10 AZB 55/12 genannten Voraussetzungen dafür erfüllt sein, dass der Geschäftsführer auch arbeitsrechtlich als weisungsabhängiger Arbeitnehmer anzusehen ist. Zwar ist ein Geschäftsführer nicht verpflichtet, eine Weisung anzunehmen, die gegen das Steuer- oder Sozialversicherungsrecht bzw. sonstige Vorschriften des öffentlichen Rechts verstößt (Fleck, ZGR 1990, 31, 42). Diese Weigerungsmöglichkeit könnte aber angesichts der Schwere und Systematik der hier gegebenen Verstöße nicht ausreichend sein, um in der Abwägung die Zumutbarkeit des Festhaltens am Versorgungsvertrag zu begründen (so bereits: SG Stade, Beschluss vom 21.11.2016, Az.: S 12 P 6/16 ER). Zumal für den Fall der Weigerung die Abberufung des Geschäftsführers durch die Gesellschafter, also durch Frau SN, erfolgen könnte, § 46 Nr.5 GmbHG.

Unberücksichtigt bleiben kann auch nicht, dass nach den Feststellungen der Strafkammer von Frau SN auch noch aus der Untersuchungshaft heraus, also zu einem Zeitpunkt als sie selbst nicht mehr Geschäftsführerin war, versucht wurde, Einfluss auf das Unternehmen zu nehmen. Es ist nicht zu beanstanden, dass die Antragsgegnerinnern vor diesem Hintergrund ihr Vertrauen in die Antragstellerin weiterhin als erschüttert ansehen.

Lediglich ergänzend war auszusprechen dass eine Leistungserbringung gemäß des Versorgungsvertrags noch bis zum 15. Januar 2017 erfolgen kann. Diese Auslauffrist ist dem rein praktischen Bedürfnis geschuldet, dass die von der Antragstellerin betreuten Versicherten sich gegebenenfalls mit Unterstützung der Pflegekassen bzw. der Antragsgegnerin um neue Pflegeeinrichtungen bemühen müssen. Die Länge der Frist ist im Wesentlichen an der Frist orientiert, die von den Antragsgegnerinnen selbst im Rahmen der fristlosen Kündigung aus organisatorischen Gründen festgesetzt worden ist und berücksichtigt zusätzlich die im Dezember anstehenden Feiertage.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG iVm. § 154 Abs.1, 162 Abs.3 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) in entsprechender Anwendung. Die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen sind nicht zu erstatten, da er keinen Antrag gestellt und das Verfahren auch nicht wesentlich gefördert hat.

Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 197a Abs.1 S. 1 1 Halbsatz SGG i.V.m. § 63 Abs. 2 S. 1, § 52 Abs. 1 Gerichtskostengesetz (GKG). Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (Urteil vom 12.06.2008, Az.: B 3 P 2/07 R) ist hierbei auf den dreifachen Jahresumsatz abzustellen. Eine Reduzierung auf die Hälfte des Streitwerts ist nach der Rechtsprechung des Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen (Beschluss vom 12.8.2011, Az.: L 15 P 2/11 B ER) in einem Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ausgeschlossen.

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