Ein Kläger forderte eine höhere Rente, weil die Unfallversicherung die funktionelle Gleichstellung nach Daumenverlust ignorierte und nur 15 Prozent MdE anerkannte. Obwohl anatomisch nur ein Teil fehlte, musste das Gericht klären, ob die massive Gebrauchsbeeinträchtigung den Anspruch auf 20 v. H. MdE begründet.
Übersicht
- Das Wichtigste in Kürze
- Der Fall vor Gericht
- Die Urteilslogik
- Benötigen Sie Hilfe?
- Experten Kommentar
- Häufig gestellte Fragen (FAQ)
- Wann gilt meine Teilamputation als Totalverlust, um die Mindestrente zu erhalten?
- Zählt die tatsächliche Funktionseinschränkung meiner Hand mehr als die Tabellenwerte der Versicherung?
- Wie weise ich die funktionelle Gleichstellung bei einem Teilverlust juristisch nach?
- Was tun, wenn die Berufsgenossenschaft meine MdE-Einstufung starr nach der Tabelle ablehnt?
- Erhöhen sich meine MdE-Prozente, wenn sich der Zustand meines Stumpfes verschlechtert?
- Glossar – Fachbegriffe kurz erklärt
- Das vorliegende Urteil
Zum vorliegenden Urteil Az.: L 5 U 36/16 | Schlüsselerkenntnis | FAQ | Glossar | Kontakt
Das Wichtigste in Kürze
- Gericht: Landessozialgericht Mecklenburg‑Vorpommern
- Datum: 29.11.2019
- Aktenzeichen: L 5 U 36/16
- Verfahren: Berufungsverfahren zur gesetzlichen Unfallversicherung
- Rechtsbereiche: Gesetzliche Unfallversicherung, Sozialrecht, Medizinische Begutachtung
- Das Problem: Ein Mann erlitt 1979 einen Arbeitsunfall, bei dem ihm ein Teil des rechten Daumens amputiert wurde. Er forderte ab 2009 eine Verletztenrente, weil sich die Funktion seiner Hand verschlechtert hatte. Die Unfallversicherung lehnte dies ab und argumentierte, dass nur der vollständige Daumenverlust eine Rente rechtfertige.
- Die Rechtsfrage: Hatte der Kläger durch die Teilamputation und die Folgeschäden eine so starke und funktionelle Einschränkung, dass er Anspruch auf die geforderte Unfallrente wegen einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 20 Prozent hatte?
- Die Antwort: Ja. Das Gericht sah die funktionellen Einschränkungen des kurzen Stumpfes, einschließlich Schmerzen und fehlender Greiffunktion, als gleichwertig mit einem vollständigen Daumenverlust an. Dem Kläger steht daher ab Dezember 2009 eine Verletztenrente von 20 Prozent zu.
- Die Bedeutung: Bei der Bemessung von Unfallrenten ist die tatsächliche funktionelle Beeinträchtigung der Hand im Erwerbsleben entscheidend. Die reine Stumpflänge ist nicht ausschlaggebend. Eine Teilamputation kann funktional einem vollständigen Verlust gleichgestellt werden, wenn wesentliche Greiffunktionen (wie Spitz- oder Schlüsselgriff) dadurch unmöglich werden.
Der Fall vor Gericht
Wann ist ein Teilverlust so viel wert wie ein Totalverlust?
Einige Millimeter machten den Unterschied. Für die gesetzliche Unfallversicherung war der Fall klar: Einem Mann, der bei einem Arbeitsunfall 1979 einen Teil seines Daumens verloren hatte, fehlte der entscheidende Rest, um eine Rente zu beanspruchen. Ihre Tabellen waren präzise. 20 Prozent Minderung der Erwerbsfähigkeit – die magische Grenze für eine Verletztenrente – gab es erst bei komplettem Verlust.

Doch der Mann erlebte eine andere Realität. Eine Realität aus Dauerschmerz, Kälteempfindlichkeit und einem Griff, der ins Leere ging. Sein Kampf vor Gericht wurde zu einer Grundsatzfrage: Zählt am Ende, was auf dem Lineal steht, oder was eine Hand im Arbeitsleben tatsächlich noch leisten kann?
Wie wird die MdE bei einer Daumen-Teilamputation berechnet?
Der Anspruch auf eine Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung hängt an einer einzigen Kennzahl: der Minderung der Erwerbsfähigkeit, kurz MdE. Das Siebte Buch Sozialgesetzbuch legt fest, dass ein Versicherter erst dann eine Rente erhält, wenn seine Erwerbsfähigkeit infolge des Arbeitsunfalls um mindestens 20 Prozent gemindert ist (§ 56 Abs. 1 SGB VII). Diese MdE beschreibt, wie stark die körperlichen und geistigen Fähigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt eingeschränkt sind. Es geht nicht um einen konkreten Beruf, sondern um die Abstrakte Leistungsfähigkeit.
Zur Bemessung der Minderung der Erwerbsfähigkeit nutzen Ärzte und Versicherungen spezielle Erfahrungswerte und Tabellen. Für den Verlust des Daumens sind die Werte klar gestaffelt. Ein Verlust auf Höhe des Endgelenks wird mit 10 Prozent MdE bewertet. Der vollständige Verlust auf Höhe des Grundgelenks schlägt mit 20 Prozent zu Buche. Die Unfallversicherung argumentierte streng nach diesen Werten. Der Daumen des Mannes war nicht am Grundgelenk amputiert. Ein kurzer Stumpf war verblieben. Die Versicherung setzte die MdE daher auf 15 Prozent fest – und lehnte die Rente ab. Ein jahrelanger Rechtsstreit begann.
Zählt die funktionelle Beeinträchtigung bei der MdE-Bemessung mehr als die Stumpflänge?
Das Landessozialgericht Mecklenburg-Vorpommern stellte eine andere Frage in den Mittelpunkt. Es ging den Richtern nicht allein um die Millimeter des verbliebenen Knochens. Sie wollten wissen, was der Mann mit seiner Hand noch anfangen konnte. Der Kern der richterlichen Überlegung war die sogenannte Funktionelle Betrachtung. Diese verlangt, die tatsächlichen Auswirkungen einer Verletzung auf die Gebrauchsfähigkeit zu bewerten. Eine Tabelle ist ein Hilfsmittel, kein unumstößliches Gesetz.
Ein vom Gericht bestellter unabhängiger Gutachter, ein Chefarzt für Handchirurgie, lieferte die entscheidenden Erkenntnisse. Er analysierte nicht nur die Länge des Stumpfes, sondern das Gesamtbild. Der Daumenstumpf war extrem kurz. Das verbliebene Grundgelenk litt unter einer fortgeschrittenen, schmerzhaften Arthrose. Der Gelenkspalt war fast verschwunden. Berührungen am Stumpf lösten elektrische Missempfindungen aus – ein klares Zeichen für Nervenschäden. Die wichtigsten Greifarten einer Hand waren unmöglich geworden. Der Faustgriff, der präzise Spitzgriff zwischen Daumen und Zeigefinger und der feste Schlüsselgriff – sie funktionierten nicht mehr sicher.
Die Schlussfolgerung des Gutachters war eindeutig. Obwohl ein kleiner Teil des Daumens noch vorhanden war, entsprach die funktionelle Situation einem vollständigen Verlust am Grundgelenk. Der Stumpf nahm am Greifvorgang nicht mehr teil. Die schmerzhafte Arthrose verhinderte eine kraftvolle Nutzung. Im Klartext: Der Restdaumen war nutzlos. Diese festgestellte „Funktionelle Gleichstellung nach Daumenverlust“ war der Schlüssel. Sie erlaubte dem Gericht, den Tabellenwert für eine vollständige Amputation anzuwenden.
Warum überzeugten die Argumente der Unfallversicherung das Gericht nicht?
Die Unfallversicherung hielt bis zuletzt an ihrer Position fest. Ihr beratender Arzt betonte immer wieder, nur der anatomisch vollständige Verlust rechtfertige 20 Prozent MdE. Schmerzen seien subjektiv und könnten eine höhere Einstufung nicht begründen. Die Richter sahen das anders. Sie warfen der Versicherung eine zu starre, fast mathematische Sichtweise vor, die den Sinn der MdE-Bemessung verfehle. Es gehe um die verminderten Arbeitsmöglichkeiten im gesamten Erwerbsleben.
Das Gericht pulverisierte das Argument, Schmerzen seien nicht objektivierbar. Im vorliegenden Fall waren die Schmerzen direkt an handfeste Befunde geknüpft – die nachgewiesene Arthrose und die messbaren Nervenschädigungen am Stumpf. Diese Befunde erklärten, warum der Mann den Daumenstumpf nicht belasten konnte und warum seine Greiffunktion derart eingeschränkt war. Die Schmerzen waren keine rein subjektive Klage. Sie waren die logische Folge der Unfallschäden.
Auch frühere Gutachten, die eine MdE von 10 oder 15 Prozent festgestellt hatten, konnten die Versicherung nicht retten. Das Gericht stellte klar, dass diese Bewertungen Jahre zurücklagen und für den aktuellen Gesundheitszustand des Mannes ab 2009 keine Rolle spielten. Die funktionelle Situation hatte sich verschlechtert. Der vom Gericht beauftragte Gutachter hatte den Zustand überzeugender und umfassender beschrieben als alle beratenden Ärzte der Versicherung zuvor. Seine funktionale Analyse zementierte die Entscheidung des Senats. Das Gericht verurteilte die Unfallversicherung, dem Mann ab Dezember 2009 eine Verletztenrente nach einer MdE von 20 Prozent zu gewähren.
Die Urteilslogik
Die Bemessung der Minderung der Erwerbsfähigkeit muss stets die funktionelle Realität des Verletzten über starre anatomische Tabellen stellen.
- Funktionale Gleichstellung vor Anatomie: Eine Teilamputation des Daumens gilt als vollständiger Verlust am Grundgelenk, sobald der verbliebene Stumpf funktionslos ist und keine wesentlichen Greifvorgänge mehr unterstützt.
- MdE-Tabellen sind Richtlinien: Ärzte und Gerichte wenden die Richtwerte der Unfallversicherung flexibel an und müssen sie zugunsten einer umfassenden Beurteilung der tatsächlichen Einschränkung korrigieren.
- Objektive Koppelung von Schmerz: Die Unfallversicherung darf chronische Schmerzen nicht als subjektiv ablehnen, wenn diese direkt auf nachweisbare körperliche Schäden, wie fortgeschrittene Arthrose oder Nervenirritationen, zurückzuführen sind.
Die rechtliche Bewertung der Arbeitsfähigkeit verlangt eine umfassende Betrachtung des Gesamtbildes, das körperliche Befunde und die erlebte Funktionsbeeinträchtigung untrennbar verbindet.
Benötigen Sie Hilfe?
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Experten Kommentar
Millimeter auf dem Röntgenbild oder die Realität in der Hand? Das ist die Gretchenfrage in vielen Verfahren zur Minderung der Erwerbsfähigkeit. Dieses Urteil zieht eine klare rote Linie: Starre Tabellenwerte und anatomische Restlängen haben keine Priorität, wenn die tatsächliche Funktion durch Schmerzen und Folgeschäden wie Arthrose komplett verloren geht. Wer nach dem Verlust eines Gliedmaßenteils sucht und von der Versicherung abgewiesen wurde, muss wissen, dass die „funktionelle Gleichstellung“ entscheidend ist – also ob der verbliebene Stumpf im allgemeinen Erwerbsleben überhaupt noch eingesetzt werden kann. Die Gerichte sehen die Gesamtsituation der Arbeitsfähigkeit, nicht nur das Lineal des Chirurgen.
Häufig gestellte Fragen (FAQ)
Wann gilt meine Teilamputation als Totalverlust, um die Mindestrente zu erhalten?
Ihre Teilamputation gilt als Totalverlust, wenn der verbliebene Stumpf aufgrund von Folgeschäden praktisch unbrauchbar ist. Diese juristische Einstufung nennen Fachleute funktionelle Gleichstellung. Sie ist entscheidend, um die Mindestanforderung von 20 Prozent Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) für eine Verletztenrente zu erreichen. Der Staat sichert Ihre Existenz ab dieser Schwelle.
Entscheidend ist nicht die verbliebene Stumpflänge in Millimetern, sondern die tatsächliche Gebrauchsfähigkeit Ihrer Hand. Versicherungen neigen dazu, starre Tabellenwerte für die MdE anzuwenden, doch Gerichte fordern die funktionelle Betrachtung. Diese betrachtet, ob der Reststumpf seine ursprüngliche Rolle, insbesondere bei Greifvorgängen, noch erfüllen kann. Hierfür benötigen Sie objektive, nachgewiesene Befunde, die über subjektive Schmerzempfindungen hinausgehen.
Die funktionelle Gleichstellung wird begründet, wenn Folgeschäden die Nutzbarkeit des Restglieds verhindern. Oft handelt es sich dabei um schmerzhafte Arthrose im Grundgelenk oder messbare elektrische Missempfindungen durch Nervenschäden. Können Sie die wichtigen Greifarten wie Spitzgriff, Schlüsselgriff oder Faustgriff nicht sicher ausführen, gilt der Stumpf als nutzlos. Ein Gericht stellte fest: Obwohl ein kleiner Teil des Daumens noch vorhanden war, entsprach die funktionelle Situation einem vollständigen Verlust am Grundgelenk.
Suchen Sie unverzüglich einen Handchirurgen auf, der explizit die Funktionsfähigkeit testet und die objektiven Befunde für eine funktionelle Gleichstellung dokumentiert.
Zählt die tatsächliche Funktionseinschränkung meiner Hand mehr als die Tabellenwerte der Versicherung?
Ja, die tatsächliche funktionelle Beeinträchtigung zählt juristisch mehr als starre Tabellenwerte. Unfallversicherungen neigen dazu, die MdE (Minderung der Erwerbsfähigkeit) oft nur anhand der Stumpflänge festzusetzen. Gerichte betrachten diese Tabellen jedoch lediglich als Hilfsmittel. Entscheidend ist stets die funktionelle Betrachtung der Hand. Diese bewertet die tatsächlichen Auswirkungen der Verletzung auf die allgemeine Greif- und Haltefähigkeit im Arbeitsleben.
Die MdE muss die verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem allgemeinen Erwerbsmarkt abbilden, nicht nur die verbliebenen Millimeter. Die richterliche Überlegung stellt die abstrakte Leistungsfähigkeit in den Vordergrund. Eine Unfallversicherung begeht einen Fehler, wenn sie eine zu starre, fast mathematische Sichtweise anwendet. Liegt eine starke Einschränkung der Greif- und Haltefähigkeit vor, muss die festgesetzte MdE diesen Verlust realistisch abbilden, auch wenn die Anatomie noch einen Reststumpf zeigt.
Konkret: Ein Gericht kann die Tabellenwerte für eine höhere MdE anwenden, wenn Folgeschäden die Nutzbarkeit des Gliedmaßenteils zunichtemachen. Nehmen wir an, der verbliebene Stumpf leidet unter einer schmerzhaften Arthrose im Grundgelenk oder schweren Nervenschäden. Solche objektivierbaren Befunde verhindern, dass der Restdaumen am Greifvorgang teilnimmt. Diese festgestellte funktionelle Gleichstellung mit einem Totalverlust ist der Schlüssel, um eine faire Entschädigung zu erhalten.
Fordern Sie die medizinische Begründung der Berufsgenossenschaft an und prüfen Sie, ob diese Funktionalität oder nur die anatomische Länge berücksichtigt hat.
Wie weise ich die funktionelle Gleichstellung bei einem Teilverlust juristisch nach?
Der Nachweis der funktionellen Gleichstellung erfordert präzise, gerichtsfeste Beweise, die über einfache anatomische Messungen hinausgehen. Sie benötigen ein detailliertes Gutachten eines unabhängigen Handchirurgen. Dieses muss nicht nur die Anatomie, sondern explizit die Zerstörung der kritischen Greiffunktionen dokumentieren. Solche Funktionsausfälle untermauern Sie stets mit objektivierbaren Befunden, damit die juristische Argumentation erfolgreich ist.
Ihr Gutachten muss eine umfassende funktionelle Analyse der Hand vorlegen. Konkret muss der Gutachter analysieren, ob die wichtigsten Greifarten, wie der präzise Spitzgriff oder der feste Schlüsselgriff, sicher ausgeführt werden können. Die finale Schlussfolgerung des Experten sollte sein, dass die funktionelle Situation trotz des verbliebenen Reststumpfes einem vollständigen Verlust am Grundgelenk gleichgestellt ist. Dies ist der Fall, wenn der Stumpf nicht mehr nutzbar am Greifvorgang teilnimmt.
Entscheidend ist die Objektivierung der Schmerzen, da diese von der Versicherung oft als subjektiv abgetan werden. Verknüpfen Sie die Schmerzen immer mit handfesten Befunden. Konkret: Wenn Sie eine fortgeschrittene Arthrose im Grundgelenk oder messbare elektrische Missempfindungen (Nervenschäden) am Stumpf nachweisen, sind die Schmerzen die logische Folge der Unfallschäden. Der Gutachter muss die Kausalkette von Befund über Schmerz zur Nutzlosigkeit des Stumpfes darstellen.
Führen Sie parallel ein detailliertes Schmerztagebuch, um die Einschränkungen bei alltäglichen Tätigkeiten wie Schlüssel drehen oder Münzen greifen über mehrere Wochen festzuhalten.
Was tun, wenn die Berufsgenossenschaft meine MdE-Einstufung starr nach der Tabelle ablehnt?
Wenn die Berufsgenossenschaft (BG) Ihre Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) stur nach Tabellen ablehnt, müssen Sie schnell handeln. Legen Sie fristgerecht Widerspruch ein. Werfen Sie der BG vor, eine zu starre, fast mathematische Sichtweise einzunehmen. Diese Vorgehensweise ignoriert den juristischen Grundsatz der funktionellen Betrachtung, der maßgeblich ist.
Ihre zentrale Argumentation im Widerspruch muss betonen, dass die MdE die verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt abbilden soll, nicht allein die anatomische Länge des Stumpfes. Widersprechen Sie energisch der These, Ihre Schmerzen seien rein subjektiv. Gerichte sehen Schmerzen als objektiven MdE-Faktor an, wenn sie direkt an handfeste Befunde wie eine fortgeschrittene Arthrose oder messbare Nervenschädigungen geknüpft sind. Dies sind die logischen Konsequenzen der Unfallschäden und dürfen nicht ignoriert werden.
Die BG verfehlt den Sinn der Bemessung, wenn sie nur nach der anatomischen Länge misst. Kündigen Sie die Einholung eines unabhängigen, funktionell orientierten Gutachtens an. Dieses Gutachten muss die Unmöglichkeit der Greiffunktion detailliert belegen. Wenn der Reststumpf aufgrund der Schmerzen und Schäden unbrauchbar ist, ist die funktionelle Gleichstellung mit dem Totalverlust (20 % MdE) begründet. Konzentrieren Sie Ihre Energie auf diese juristische Beweisführung, um die bürokratische Ablehnung zu pulverisieren.
Suchen Sie unverzüglich einen Fachanwalt für Sozialrecht auf, um den Widerspruch fundiert zu formulieren und die Planung für ein unabhängiges Gutachten einzuleiten.
Erhöhen sich meine MdE-Prozente, wenn sich der Zustand meines Stumpfes verschlechtert?
Ja, die MdE-Prozente können sich erhöhen, wenn sich Ihr funktioneller Zustand nachweislich verschlechtert. Eine einmal festgesetzte Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) ist keine statische Momentaufnahme; sie muss den tatsächlichen Grad der Beeinträchtigung abbilden. Wenn Folgeschäden wie fortschreitende Arthrose oder ständige Kälteempfindlichkeit die Nutzung des Stumpfes weiter einschränken, muss die MdE neu festgesetzt werden. Die Gerichte stellen klar, dass ältere Gutachten ihre Relevanz verlieren, sobald sich die funktionelle Situation des Betroffenen verschlechtert hat.
Der juristische Maßstab zur Neubewertung ist der aktuelle Gesundheitszustand. Die Unfallversicherung darf sich nicht auf frühere, niedrigere Bewertungen festlegen, wenn die körperlichen Einschränkungen zugenommen haben. Dies ist besonders relevant, wenn sich eine anfänglich geringe MdE (etwa 10 oder 15 Prozent) durch die Verschlimmerung nachträglich auf die kritische Schwelle von 20 Prozent erhöht. Die fortschreitenden Beschwerden müssen die Greif- und Haltefähigkeit in einem Maße reduzieren, dass der Reststumpf objektiv als nutzlos gilt.
Eine solche Verschlechterung kann zur funktionellen Gleichstellung mit einem Totalverlust führen. Nehmen wir den Fall eines Daumenstumpfes: Verursacht die zunehmende, schmerzhafte Arthrose, die durch aktuelle Röntgenbilder belegt ist, das vollständige Versagen des Spitzgriffs, muss der Grad der Schädigung neu bemessen werden. Entscheidend ist, dass Sie die Verschlechterung durch neue, überzeugende und umfassende Befunde dokumentieren.
Beantragen Sie bei Ihrer Berufsgenossenschaft formell die Neufeststellung der MdE wegen Verschlimmerung des Gesundheitszustandes und reichen Sie dabei alle aktuellen, detaillierten Befunde ein.
Hinweis: Bitte beachten Sie, dass die Beantwortung der FAQ Fragen keine individuelle Rechtsberatung darstellt und ersetzen kann. Alle Angaben im gesamten Artikel sind ohne Gewähr. Haben Sie einen ähnlichen Fall und konkrete Fragen oder Anliegen? Zögern Sie nicht, uns zu kontaktieren. Wir klären Ihre individuelle Situation und die aktuelle Rechtslage.
Glossar – Fachbegriffe kurz erklärt
Abstrakte Leistungsfähigkeit
Die Abstrakte Leistungsfähigkeit beschreibt den juristischen Maßstab, welcher die körperlichen und geistigen Fähigkeiten eines Versicherten auf dem gesamten allgemeinen Arbeitsmarkt – unabhängig von seinem bisherigen Beruf – bewertet.
Juristen legen diesen objektiven Maßstab zugrunde, um die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) festzustellen und somit eine faire, allgemeingültige Bewertung des gesundheitlichen Schadens zu gewährleisten.
Beispiel: Obwohl der Kläger seinen früheren Beruf als Handwerker nicht mehr ausüben konnte, musste das Gericht prüfen, welche Abstrakte Leistungsfähigkeit er noch für leichte Montagetätigkeiten auf dem allgemeinen Erwerbsmarkt besaß.
Funktionelle Betrachtung
Die Funktionelle Betrachtung ist der juristische Grundsatz im Sozialrecht, der bei der Bemessung der MdE die tatsächliche Gebrauchsfähigkeit eines Körperteils stärker gewichtet als starre Tabellenwerte oder anatomische Messungen.
Gerichte verlangen diesen flexiblen Ansatz, um sicherzustellen, dass die festgesetzte MdE die realen Auswirkungen einer Verletzung auf die Greif- und Haltefähigkeit des Betroffenen realistisch abbildet.
Beispiel: Im vorliegenden Fall stellte die Funktionelle Betrachtung klar, dass die Unmöglichkeit des präzisen Spitzgriffs wichtiger war als der verbliebene kurze Stumpf des Daumens.
Funktionelle Gleichstellung
Die Funktionelle Gleichstellung ist die richterliche Feststellung, dass ein nur teilamputiertes Gliedmaß, wie der Daumenstumpf, aufgrund massiver Folgeschäden in seiner tatsächlichen Funktion einem Totalverlust gleichzusetzen ist.
Wenn objektive, nachgewiesene Befunde (wie fortgeschrittene Arthrose oder Nervenschäden) belegen, dass der Reststumpf nicht mehr am Greifvorgang teilnimmt, ermöglicht diese Gleichstellung das Erreichen der Mindest-MdE von 20 Prozent.
Beispiel: Trotz des kleinen verbliebenen Daumenteils erkannte das Gericht die Funktionelle Gleichstellung mit einem vollständigen Verlust am Grundgelenk an und begründete dies mit der schmerzhaften Arthrose.
Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE)
Die Minderung der Erwerbsfähigkeit, kurz MdE, ist eine Prozentzahl, welche festlegt, um wie viel die Leistungsfähigkeit eines Versicherten infolge eines Arbeitsunfalls auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt reduziert ist.
Nur wenn die MdE nach § 56 SGB VII mindestens 20 Prozent beträgt, entsteht ein Anspruch auf eine fortlaufende Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung.
Beispiel: Weil die MdE des Klägers von der Versicherung zunächst nur auf 15 Prozent festgesetzt wurde, lehnte diese die Verletztenrente ab, da die kritische Schwelle nicht erreicht war.
Verletztenrente
Juristen definieren eine Verletztenrente als die laufende Geldleistung der gesetzlichen Unfallversicherung, die einem Versicherten zusteht, wenn seine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) dauerhaft mindestens 20 Prozent erreicht.
Diese Rentenleistung dient dem Gesetzgeber als finanzieller Ausgleich, um den materiellen Schaden abzufedern, der dem Betroffenen durch die verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem allgemeinen Erwerbsmarkt entstanden ist.
Beispiel: Nachdem das Landessozialgericht die funktionelle Gleichstellung festgestellt hatte, verurteilte es die Unfallversicherung zur Zahlung der Verletztenrente, die ab Dezember 2009 fällig wurde.
Das vorliegende Urteil
Landessozialgericht Mecklenburg-Vorpommern – Az.: L 5 U 36/16 – Urteil vom 29.11.2019
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Ich bin Dr. Christian Gerd Kotz, Rechtsanwalt und Notar in Kreuztal. Als Fachanwalt für Verkehrs- und Versicherungsrecht vertrete ich Mandant*innen bundesweit. Besondere Leidenschaft gilt dem Sozialrecht: Dort analysiere ich aktuelle Urteile und erkläre praxisnah, wie Betroffene ihre Ansprüche durchsetzen können. Seit 2003 leite ich die Kanzlei Kotz und engagiere mich in mehreren Arbeitsgemeinschaften des Deutschen Anwaltvereins.


