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Genehmigungsfiktion bei vorläufiger Leistungsablehnung allein zur Fristwahrung

Bayerisches Landessozialgericht – Az.: L 5 KR 642/19 – Beschluss vom 13.05.2020

I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 25.09.2019 wird zurückgewiesen.

II. Die Beklagte erstattet der Klägerin ihre außergerichtlichen Kosten auch im Berufungsverfahren.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

I.

Streitig ist die Kostenübernahme für ein Lymphapress 12-Kammer-Kompressionsgerät in Höhe von 2.641,81 € aufgrund Genehmigungsfiktion.

Die 1958 geborene Klägerin ist gesetzlich krankenversichertes Mitglied der Beklagten. Die Beklagte ist eine regional aufgestellte Betriebskrankenkasse mit ca. … Versicherten.

1. Die Klägerin leidet an einem Lipödem Stadium II und beantragte am 12.07.2018 befundgestützt und unter Vorlage eines Kostenvoranschlages des Leistungserbringers V. KG die Kostenübernahme für ein Heimgerät zur Kompressionstherapie. Mit Schreiben vom 13.07.2018 teilte die Beklagte der Klägerin mit, dass zur Klärung des Leistungsanspruchs eine sozialmedizinische Stellungnahme erforderlich sei. Über den Antrag habe die Beklagte bis zum 16.08.219 zu entscheiden. Sollte eine Entscheidung bis zu diesem Datum nicht möglich sein, werde die Klägerin unter Angabe der Gründe rechtzeitig informiert.

Mit Bescheid vom 09.08.2018 teilte die Beklagte der Klägerin mit, dass die in dem Schreiben vom 13.07.2018 mitgeteilte Entscheidungsfrist nicht eingehalten werden könne. Da ihr bis zum Ablauf dieser Frist noch nicht alle entscheidungsrelevanten Unterlagen vorliegen würden, müsse der Leistungsantrag abgelehnt werden. Nach Eingang der gutachterlichen Stellungnahme des MDK werde der Antrag auf Kostenübernahme erneut beurteilt und die Entscheidung werde der Klägerin ohne weitere Aufforderung unverzüglich mitgeteilt. Dem Schreiben war eine Rechtsbehelfsbelehrung beigefügt. Die Klägerin erhob keinen Widerspruch.

Der MDK kam im Gutachten vom 29.08.2018 kam zu dem Ergebnis, die Kostenübernahme für das beantragte Hilfsmittel könne nicht befürwortet werden. Die Durchführung einer regelmäßigen, therapiepausenfreien sowie manuellen Lymphdrainage und Kombination mit Lymphbestrumpfung sei nicht belegt. Daher werde zunächst diese Heilmittel-Behandlung evtl. durch Langfristgenehmigung und lymphologische Mitbetreuung empfohlen. Mit Bescheid vom 04.09.2018 lehnte die Beklagte die Kostenübernahme ab, da diese vom MDK nicht befürwortet werde. Dagegen erhob die Klägerin Widerspruch. Die Beklagte veranlasste im Rahmen des Widerspruchsverfahrens die erneute Begutachtung durch den MDK. Dieser verblieb bei seiner Erstauffassung. Mit Widerspruchsbescheid vom 12.03.2019 wies die Beklagte den Widerspruch aus medizinischen Gründen als unbegründet zurück.

2. Dagegen hat die Klägerin Klage zum Sozialgericht München erhoben und zur Begründung auf die medizinische Notwendigkeit des Hilfsmittels verwiesen.

Das Sozialgericht hat auf den Eintritt der Genehmigungsfiktion hingewiesen. Die Beklagte hat erwidert, sie sei der Intention des Gesetzgebers, eine zügige Entscheidung über den Antrag der Klägerin herbeizuführen, vorbildlich nachgekommen. Die Zeit für die Erstellung des Gutachtens sei in der Entscheidungsfrist enthalten und verlängere die Entscheidungsfrist der Krankenkasse nicht. Die Beklagte habe mit Bescheid vom 09.08.2018 rechtzeitig, innerhalb der wegen Einschaltung des MDK geltenden Fünfwochenfrist, über den Antrag der Klägerin entschieden. Die in § 13 Abs. 3 a SGB V geregelten Fristen stellen Höchstfristen dar, die sehr kurz bemessen seien, sodass die Gefahr einer vorschnellen Leistungsablehnung und eine Verlagerung in das Widerspruchsverfahren zu befürchten sei. Die gesetzliche Vorschrift stelle keinerlei Anforderungen an den Inhalt der Begründung des Bescheides vom 09.08.2018 dar. Dies sei auch vom Bundessozialgericht bestätigte Rechtsprechung.

Mit Urteil vom 25.09.2019 hat das Sozialgericht der Klage stattgegeben und die Beklagte zur Versorgung mit dem beantragten Hilfsmittel verurteilt. Die Genehmigungsfiktion des § 13 Abs. 3a SGB V sei eingetreten. Die 5-Wochen-Frist sei am 16.08.2018 abgelaufen, die Beklagte habe erst am 04.09.2018 entschieden. Das Schreiben vom 09.08.2018 stelle keinen Verwaltungsakt dar, da es keine endgültige Regelung treffen wollte, zudem nicht hinreichend bestimmt und im Übrigen wegen Verstoßes gegen § 13 Abs. 3a SGB V nichtig sei.

3. Dagegen hat die Beklagte Berufung eingelegt und diese damit begründet, dass der Bescheid vom 09.08.2018 eindeutig eine Ablehnung darstelle, verbunden mit der Ankündigung, von Amts wegen ein Verfahren nach § 44 SGB X durchzuführen. Aufgrund des Ergebnisses der Begutachtung habe sich der Bescheid vom 09.08.2018 als nicht rechtswidrig erwiesen, dies sei im Bescheid vom 04.09.2018 mitgeteilt worden.

Der Senat hat – nach Erteilung eines richterlichen Hinweises an die Beklagte – die Beteiligten mit Schreiben vom 20.04.2020 zu einer Entscheidung nach § 153 Abs. 4 SGG angehört. Die Beklagte hat der Klägerin mit Schreiben vom 21.04.2020 mitgeteilt, sie mit dem begehrten Hilfsmittel unter Vorbehalt des Obsiegens im Berufungsverfahren zu versorgen.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des Sozialgerichts München vom 25.09.2019 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

II.

Die statthafte und auch im Übrigen zulässige Berufung (§§ 143, 144, 151 SGG) ist nicht begründet.

Im Ergebnis zutreffend hat das Sozialgericht einen Anspruch auf Versorgung mit dem beantragten Hilfsmittel aufgrund des Eintritts der Genehmigungsfiktion bejaht.

1. Der Senat kann im Rahmen des vereinfachten Beschlussverfahrens nach § 153 Abs. 4 SGG entscheiden. Unter Ausübung richterlichen Ermessen hat der Senat die Erforderlichkeit einer mündlichen Verhandlung verneint, da der einfach gelagerte Sachverhalt erstinstanzlich abschließend aufgeklärt worden ist. Der Senat geht einstimmig von der Unbegründetheit der Berufung aus. Die Beteiligten sind gehört worden.

2. Gegenstand des Rechtsstreits ist im Wege der objektiven Klagehäufung die allgemeine Leistungsklage (§ 54 Abs. 5 SGG) auf Versorgung mit dem Lymphapress 12-Kammer-System (vgl. BSG, 11.07.2017 – Az.: B 1 KR 26/16 R, juris Rn. 8 mwN) sowie die isolierte Anfechtungsklage gegen die Ablehnungsentscheidung vom 04.09.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12.03.2019 (§ 54 Abs. 1 SGG, vgl. BSG, 11.07.2017 – Az.: B 1 KR 26/16 R, juris Rn. 10 mwN).

3. Die Klage ist erfolgreich, da die Genehmigungsfiktion eingetreten ist und die Ablehnungsentscheidungen aufzuheben waren.

a) Die Klägerin hat aufgrund einer fingierten Genehmigung ihres Antrags vom 12.07.2019 einen Naturalleistungsanspruch auf Versorgung mit dem Hilfsmittel. Rechtsgrundlage für den Anspruch ist § 13 Abs. 3a S. 6 SGB V.

aa) Die Klägerin ist als bei der Beklagten Versicherte leistungsberechtigt im Sinne des § 13 Abs. 3a SGB V (vgl. BSG, 08.03.2016, Az.: B 1 KR 25/15 R).

bb) Der Antrag der Klägerin vom 12.07.2018 ist fiktionsfähig. Es geht daraus hinreichend bestimmt hervor, welches Hilfsmittel die Klägerin begehrt. Der befundgestützte Antrag der Klägerin betrifft eine Leistung, die sie subjektiv für erforderlich halten durfte und die nicht offensichtlich außerhalb des Leistungskatalogs der GKV liegt. Das Kompressionsgerät unterfällt seiner Art nach dem Leistungskatalog der GKV und ist im Hilfsmittelverzeichnis gelistet. Die Klägerin hat es aufgrund ihres Krankheitsbildes sowie aufgrund der ärztlichen Befürwortung für geeignet und erforderlich halten dürfen. Der Gedanke an Rechtsmissbrauch liegt fern.

cc) Die Beklagte hat den Antrag der Klägerin nicht fristgerecht verbeschieden.

Die Fünf-Wochen-Frist nach § 13 Abs. 3a S. 1 und 2 SGB V ist bei aktenkundiger Antragstellung am 12.07.2018 am 16.08.2018 (§§ 26 SGB X iVm §§ 187 ff. BGB) abgelaufen. Damit ist die Genehmigungsfiktion am 17.08.2018 eingetreten.

Der Bescheid vom 09.08.2018 verhindert den Eintritt der Genehmigungsfiktion nicht. Das Schreiben vom 09.80.2018 stellt einen Verwaltungsakt nach § 31 SGB X dar, der mangels fristgerechter Einlegung eines Widerspruchs auch bestandskräftig geworden ist. Der Bescheid ist nicht iSd § 40 SGB X nichtig. Weder liegen absolute Nichtigkeitsgründe nach § 40 Abs. 2 SGB X, noch besteht ein offensichtlicher schwerwiegender Fehler nach § 40 Abs. 1 SGB X.

Der Bescheid ist jedoch materiell-rechtlich rechtswidrig. Die Beklagte hätte ihn daher im Rahmen ihres von Amts wegen durchgeführten Verfahrens nach § 44 Abs. 1 SGB X aufheben müssen. Der Bescheid vom 09.08.2018 ist nämlich unrichtig und führt dazu, dass der Klägerin eine Sozialleistung iSd. § 11 SGB I vorenthalten wird. Er ist daher trotz Bestandskraft ex tunc aufzuheben.

Die Beklagte hat vorgetragen, der Bescheid vom 04.09.2018 – d.h. das Ergebnis ihres von Amts wegen durchgeführten Überprüfungsverfahrens – basiere auf der Begutachtung durch den MDK. Daher habe er ein Anspruch aus § 33 SGB V nicht bestanden und der Antrag habe abgelehnt werden müssen. Offensichtlich nicht Gegenstand des Verfahrens von Amts wegen waren bei der Prüfung im Zugunstenverfahren sämtlicher Ansatzpunkte einer Rechtswidrigkeit des Bescheids vom 09.08.2018.

Die Beklagte hat bei Erlass des Bescheids vom 09.08.2018 ihre Pflichten zur Amtsermittlung im Verwaltungsverfahren (§ 20 SGB X) verletzt. Zur Prüfung des Anspruchs der Klägerin auf die beantragte Leistung hat die Beklagte zutreffend eine medizinische Stellungnahme für erforderlich gehalten (Mitteilung vom 13.07.2020). In rechtswidriger Weise hat die Beklagte jedoch im nächsten Schritt die beantragte Leistung abgelehnt, ohne das – auch aus ihrer Sicht entscheidungsrelevante – Ergebnis der Begutachtung abzuwarten. Dies ist keine zulässige Vorgehensweise zur Vermeidung des Eintritts der Genehmigungsfiktion. Der Bescheid vom 09.08.2018 stellt für den Versicherten gerade keine zügige Entscheidung dar, sondern ist eine klare Umgehung des Fristenregimes des § 13 Abs. 3a SGB V. Der Versicherten wurde mitgeteilt, dass ihr Antrag mangels „nur“ ausreichender Unterlagen abgelehnt werde, aber weiterermittelt werde. Die Klägerin konnte dies nicht als Ablehnung ihres Antrags im rechtlichen Sinne verstehen und hat dementsprechend auch keinen Widerspruch erhoben.

Es kommt nicht selten vor, dass eine Krankenkasse, die mangels Einhaltung der 3-Wochen-Frist durch den MDK (§ 13 Abs. 3a S. 3 SGB V) – welcher dieser zuzurechnen ist – nicht zu einer fristgerechten Entscheidung kommen kann. In diesen Fällen sieht das Gesetz die Möglichkeit der Verlängerung der Frist vor (§ 13 Abs. 3a S. 5 SGB V). Ein hinreichender Grund für die Nichteinhaltung der Frist kann insbesondere die im Rahmen der Amtsermittlung (§ 20 SGB X) gebotene Einholung von weiteren Informationen beim Antragsteller oder Dritten sein, um abschließend über den Antrag entscheiden zu können (BSG Urt. v. 07.11.2017 – B 1 KR 2/17 R). Die Fristverlängerung erfordert jedoch zum einen eine begründete schriftliche Mitteilung an die Versicherte, zum anderen die Mitteilung eines taggenauen Entscheidungsdatums (BSG, 11.09.2018 – B 1 KR 1/18 R). Diesen Pflichten hat sich die Beklagte durch den Erlass eines Ablehnungsbescheids entzogen und damit die Beschleunigungsfunktion des § 13 Abs. 3a SGB V unrechtmäßig umgangen.

dd) Die Klägerin hat damit nach § 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V einen Anspruch auf die begehrte Leistung, so dass ihre Leistungsklage Erfolg hat. Soweit § 13 Abs. 3a Satz 9 SGB V (in der vorliegend maßgeblichen Fassung gültig vom 01.01.2018 -10.05.2019) bestimmt, dass für Leistungen zur medizinischen Rehabilitation die §§ 14 – 24 SGB IX zur Zuständigkeitsklärung und Erstattung selbst beschaffter Leistungen Anwendung finden, steht dies im vorliegenden Fall dem klägerischen Leistungsbegehren aus § 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V nicht entgegen. Hilfsmittel nach § 33 SGB V werden jedenfalls dann nicht von S. 9 erfasst und fallen folglich in den Anwendungsbereich von Abs. 3a, wenn sie wie vorliegend der Akutbehandlung eines Lympholipödems und nicht der Rehabilitation dienen (BSG, 11.05.2017 – B 3 KR 30/15 R, juris Rn. 36 f.).

b) Ausgehend davon steht fest, dass die angefochtenen Ablehnungsentscheidungen (Bescheid vom 04.09.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12.03.2019) rechtswidrig sind, weil der Bescheid vom 09.08.2018 zu Unrecht nicht von Amtswegen aufgehoben wurde und die Klägerin in ihrem sich aus der fiktiven Genehmigung ihres Leistungsantrags ergebenden Leistungsanspruch und damit in ihren subjektiven Rechten ersichtlich verletzten.

Die Berufung war damit vollumfänglich zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung basiert auf §§ 183, 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 SGG) liegen nicht vor.

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