Landessozialgericht Berlin-Brandenburg – Az.: L 13 SB 242/14 – Urteil vom 10.05.2017
Auf die Berufung der Klägerin wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 28. August 2014 aufgehoben und der Beklagte unter Änderung seines Bescheides vom 24. August 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. Juni 2012 in der Gestalt des Ausführungsbescheides vom 9. September 2014 verpflichtet, bei der Klägerin mit Wirkung ab Februar 2011 einen Grad der Behinderung von 50 festzustellen.
Der Beklagte hat der Klägerin deren notwendige außergerichtliche Kosten für das Verfahren in beiden Instanzen zur Gänze zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die 1956 geborene Klägerin begehrt die Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von 50.
Im Februar 2011 beantragte die Klägerin beim Beklagten die Feststellung eines GdB. Nach Einholung eines Gutachtens des praktischen Arztes Dr. Y stellte der Beklagte mit Bescheid vom 24. August 2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. Juni 2012 bei der Klägerin einen GdB von 30 fest und legte dem folgende Funktionsbeeinträchtigungen zugrunde, wobei er verwaltungsintern den aus dem Klammerzusatz ersichtlichen jeweiligen Einzel-GdB annahm:
a) Chronische Bronchitis, Bronchialasthma, Allergien (20),
b) Funktionsbeeinträchtigungen der Wirbelsäule, degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, Nervenwurzelreizerscheinungen der Wirbelsäule, Wirbelsäulenverformung, Wachstumsstörung der Wirbelsäule (Morbus Scheuermann) (20),
c) Neurodermitis, Schuppenflechte, Pilzerkrankung der Nägel (20),
d) Refluxerkrankung der Speiseröhre, chronische Magenschleimhautentzündung, Verlust der Gallenblase, Fruktoseintoleranz (10),
e) Funktionsbehinderung der Schultergelenke beidseitig, Karpaltunnelsyndrom (Mittelnerven-Druckschädigung) beidseitig (10),
f) Funktionsbehinderung des Kniegelenks beidseitig, Knorpelschaden des Kniegelenks beidseitig, Funktionsstörung durch Fußfehlform beidseitig (10).
Mit der am 26. Juni 2012 erhobenen Klage hat die Klägerin einen GdB von 50 begehrt. Das Sozialgericht hat Befundberichte der die Klägerin behandelnden Ärzte eingeholt und ein Gutachten des praktischen Arztes M vom 12. August 2013 nebst ergänzenden Stellungnahmen vom 2. Dezember 2013 und 23. Juni 2014 eingeholt. Am 11. Oktober 2013 hat der Beklagte ein Teilanerkenntnis dahingehend abgegeben, dass er bei der Klägerin einen GdB von 40 ab Februar 2011 feststellen werde. Hierbei ist er davon ausgegangen, dass die Funktionsbehinderung chronische Bronchitis, Bronchialasthma, Lungenfunktionsstörung, Allergien mit einem Einzel-GdB von 30 zu bewerten sei statt der vormaligen Bewertung mit einem Einzel-GdB von 20. Ferner ist er im Vergleich zur Feststellung aus dem Verwaltungsverfahren von einer zusätzlichen seelischen Störung ausgegangen, die er intern mit einem Einzel-GdB von 10 bewertet hat. Die Klägerin hat das Teilanerkenntnis angenommen, im Übrigen aber ihr Klagebegehren weiter verfolgt. Mit Gerichtsbescheid vom 28. August 2014 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen, soweit sie nicht durch angenommenes Anerkenntnis erledigt ist, und eine Kostenerstattung ausgeschlossen.
Mit der am 2. Oktober 2014 eingelegten Berufung hat die Klägerin ihr Begehren weiter verfolgt und zur Begründung ausgeführt, das Sozialgericht habe bei der Klägerin das Ausmaß der Einschränkung der Atemwegsorgane, der Reflux-Krankheit sowie des psychischen Leidens verkannt. Darüber hinaus leide sie auch an den Folgen eines Schlaganfalles und unter Bluthochdruck, was insoweit in die Bewertung bislang nicht eingeflossen sei.
Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens des Facharztes für Neurologie, Psychiatrie und Sportmedizin Prof. Dr. G und diesen ferner beauftragt, ein Zusatzgutachten des Facharztes für Lungen- und Bronchialheilkunde Dr. Sch einzuholen.
Der Sachverständige Prof. Dr. G ist in seinem Gutachten vom 29. Februar 2016 nach ambulanten Untersuchungen der Klägerin am 16. und 25. Februar 2016 zu der Einschätzung gelangt, die Klägerin leide unter rezidivierenden depressiven Episoden mit sich somatoform auswirkenden weiteren körperlichen Erkrankungen in Gestalt einer stärker behindernden Störung, wofür ein Einzel-GdB von 20 angemessen sei. Darüber hinaus leide sie an einem Zustand nach so genannter TIA, Restless-Leggs-Syndrom und Polyneuropathie mit einem Einzel-GdB von 10 sowie einer Alkoholkrankheit im gegenwärtigen Zustand der Abstinenz, für die ein GdB nicht zu vergeben sei. Insoweit ergebe sich unter Einbeziehung der in erster Instanz durch den Sachverständigen Müller festgestellten Funktionsbeeinträchtigungen ein Gesamt-GdB von 40. Der Sachverständige Dr. Sch hat die Klägerin am 17. Juni 2016 untersucht und ist in seinem Gutachten vom 6. Juli 2016 zu der Einschätzung gelangt, die Klägerin leide auf seinem Fachgebiet unter einer Mischform von Asthma bronchiale und chronisch-obstruktiver Atemwegserkrankung mit leichtem Lungenemphysem. Eine derartige Funktionsbeeinträchtigung sei nach den versorgungsmedizinischen Grundsätzen mit einem GdB zwischen 20 und 40 zu bewerten, im Rahmen der Einordnung in diese Spanne sei zu berücksichtigen, dass es bei der Klägerin nicht mehr zu schweren Asthma-Attacken komme. Das Ausmaß der Atemwegsobstruktion sei wechselnd, wobei festzustellen sei, dass die Klägerin bei den zurückliegenden Untersuchungen nicht durchgängig eine ausreichende Kooperation an den Tag gelegt habe. Erkennbar sei indes, dass die Atemwegsobstruktion ständig vorhanden sei und aktuell als mäßig-gradig bezeichnet werden müsse. Hierfür sei ein mittlerer Wert der Spanne von 30 anzusetzen. Eine höhergradige Bewertung komme nicht in Betracht, da das Belastungsverhalten als normal anzusehen sei. Eine wesentliche Änderung sei seit Februar 2011 von pneumologischer Seite nicht eingetreten. Mit abschließender gutachterlicher Stellungnahme vom 16. August 2016 hat der Sachverständige Prof. Dr. G unter Bewertung des pneumologischen Gutachtens die Auffassung vertreten, der Gesamt-GdB sei mit 40 zutreffend bemessen.
Die Klägerin ist dem Ergebnis der Begutachtung insoweit entgegen getreten. Im Übrigen meint sie, es hätte auch ein orthopädisches Gutachten veranlasst werden müssen. Hierzu hat sie ein orthopädisches Attest vom 12. Januar 2017 vorgelegt. Mit den Einwänden der Klägerin konfrontiert, hat der Sachverständige Dr. Sch in seiner Stellungnahme vom 25. November 2016 ergänzend ausgeführt, die nunmehr vorgelegten zahlreichen Messergebnisse belegten, dass bei der Klägerin eine starke Schwankung der Messergebnisse zu verzeichnen gewesen sei. Maßgebliche Ursache hierfür sei mit erheblicher Wahrscheinlichkeit eine unterschiedliche Kooperationsbereitschaft der Klägerin gewesen, wobei insbesondere aufgrund der bestehenden Lungenfunktionsprüfung vom 17. März 2016 das Vorliegen einer schweren, irreversiblen Lungenüberblähung nahezu ausgeschlossen werden könne.
Die Klägerin beantragt, den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 28. August 2014 aufzuheben und den Beklagten unter Änderung seines Bescheides vom 24. August 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. Juni 2012 in der Gestalt des Ausführungsbescheides vom 9. September 2014 zu verpflichten, bei ihr ab Februar 2011 einen Grad der Behinderung von 50 festzustellen.
Der Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den gesamten Inhalt der Streitakte sowie des beigezogenen Verwaltungsvorganges des Beklagten Bezug genommen. Er ist Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung der Klägerin ist begründet.
Das Sozialgericht hat die Klage mit der angefochtenen Entscheidung zu Unrecht abgewiesen. Denn die Klägerin hat Anspruch auf Feststellung eines Grad der Behinderung von 50 Februar 2011.
Nach den §§ 2 Abs. 1, 69 Abs. 1 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch (SGB IX) sind die Auswirkungen der länger als sechs Monate anhaltenden Funktionsstörungen nach Zehnergraden abgestuft entsprechend den Maßstäben des § 30 Bundesversorgungsgesetz zu bewerten. Heranzuziehen sind hierbei die in der Anlage zur Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) festgelegten „Versorgungsmedizinischen Grundsätze“.
Der Beklagte hat zuletzt mit Ausführungsbescheid vom 9. September 2014 einen GdB von 40 unter Zugrundelegung folgender Funktionsstörungen bei der Klägerin mit Wirkung ab Februar 2011 festgestellt:
a) Chronische Bronchitis, Bronchialasthma, Allergien,
b) Funktionsbeeinträchtigungen der Wirbelsäule, degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, Nervenwurzelreizerscheinungen der Wirbelsäule, Wirbelsäulenverformung, Wachstumsstörung der Wirbelsäule (Morbus Scheuermann),
c) Neurodermitis, Schuppenflechte, Pilzerkrankung der Nägel,
d) Refluxerkrankung der Speiseröhre, chronische Magenschleimhautentzündung, Verlust der Gallenblase, Fruktoseintoleranz,
e) Funktionsbehinderung der Schultergelenke beidseitig, Karpaltunnelsyndrom (Mittelnerven-Druckschädigung) beidseitig,
f) Funktionsbehinderung des Kniegelenks beidseitig, Knorpelschaden des Kniegelenks beidseitig, Funktionsstörung durch Fußfehlform beidseitig,
g) Seelische Störung.
Hierbei ist er davon ausgegangen, dass die seelische Störung mit einem Einzel-GdB von 10 zu bewerten sei und sich daher nicht erhöhend bei der Bildung des Gesamt-GdB auswirke.
Für den Senat überzeugend hat der Sachverständige Prof. Dr. G in seinem Gutachten vom 29. Februar 2016 dargelegt, dass die bei der Klägerin auch durch den Beklagten festgestellte seelische Störung, die er als rezidivierende depressive Episoden mit sich somatoform auswirkenden weiteren körperlichen Erkrankungen in Gestalt einer stärker behindernden Störung beschreibt, zutreffend nicht mit einem GdB von 10, sondern mit einem GdB von 20 zu bewerten sei. Zwar sind stärker behindernde Störungen nach Punkt B 3.7 der versorgungsmedizinischen Grundsätze mit einer GdB-Spanne von 30 bis 40 zu bewerten, doch überzeugt hier die Darstellung der Episodenhaftigkeit des vom Sachverständigen beschriebenen Schweregrades, die der Senat dahingehend versteht, dass bei akutem Vorliegen einer depressiven Episode die Schwelle zu einer stärker behindernden Störung überschritten wird, außerhalb solcher Episoden hingegen nicht, weshalb eine Bewertung mit dem Höchstwert für leichtere psychische Störungen (noch) angemessen sei, also einem GdB von 20.
Liegen – wie hier – mehrere Beeinträchtigungen am Leben in der Gesellschaft vor, ist der GdB gemäß § 69 Abs. 3 SGB IX nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festzustellen. Nach Teil A Nr. 3c der Anlage zur VersMedV ist bei der Beurteilung des Gesamt-GdB von der Funktionsstörung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt, und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird. Insoweit hat der Senat die Überzeugung gewonnen, dass die bei der Klägerin bereits festgestellten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem Gesamt-GdB von 40 durch die depressiven Episoden mit leichten kognitiven Störungen nochmals eine Verstärkung erfahren, die zu einer Anhebung des GdB um einen Grad von 10 auf 50 führen. Während der Phasen des Auftretens solcher Episoden, die die Schwelle zu einer stärker behindernden Störung überschreiten, liegt dies schon deshalb auf der Hand, weil dann eigentlich ein Einzel-GdB von 30 erreicht ist. Aber auch unterhalb dieses Schweregrades ist eine Überlagerung sämtlicher körperlicher Behinderungen durch die seelische Störung festzustellen und entsprechend zu bewerten.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Gründe für eine Zulassung der Revision gem. § 160 Abs. 2 SGG sind nicht gegeben.