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Gesetzliche Unfallversicherung – Bewertung von Fingerverletzungen

SG Düsseldorf – Az.: S 6 U 390/15 – Urteil vom 04.09.2018

1. Die Beklagte wird unter Abänderung des Bescheides vom 19.02.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 06.08.2015 verurteilt, dem Kläger Rente auf unbestimmte Zeit nach einer MdE von 20 % auch über den 22.03.2014 hinaus zu zahlen.

2. Die Beklagte trägt die erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten des Klägers.

Tatbestand

Der am 00.00.1969 geborene Kläger begehrt von der Beklagten die weitere Zahlung der wegen der Folgen eines Arbeitsunfalls gewährten Verletztenrente nach § 56 Abs. 1 i. V. m. Abs. 3 SGB VII (Sozialgesetzbuch – Siebtes Buch – Gesetzliche Unfallversicherung).

Er verletzte sich am 05.04.2013 beim Zuschneiden von Feuerholz die rechte Hand an einer Tischkreissäge. Die Beklagte erkannte dieses Ereignis als Arbeitsunfall an und zahlte ihm wegen der Unfallfolgen „Verlust des rechten Zeigefingers im Grundgelenk, vorübergehende verminderte Kraftentfaltung der rechten Hand.“ bis 22.03.2014 eine Rente – als vorläufige Entschädigung – auf der Basis einer MdE (Minderung der Erwerbsfähigkeit) von 20 %, die Zahlung einer Rente darüber hinaus wurde allerdings abgelehnt. Grundlage hierfür war im Wesentlichen das Erste Rentengutachtens vom 22.05.2014, wobei die Gutachterin Frau T1 (Oberärztin im T2. J Krankenhaus T3 in der Abteilung für Hand- und Plastische Chirurgie) allerdings eine MdE von 20 % auch darüber hinaus vorgeschlagen hatte; dieser Bewertung konnte sich der Beratungsarzt U aber nicht anschließen. Insoweit wird wegen der näheren Einzelheiten Bezug genommen auf das Gutachten vom 22.05.2014 und die beratungsärztliche Stellungnahme vom 02.07.2014 sowie den Bescheid vom 19.02.2015.

Der auf Weiterzahlung gerichtete Widerspruch des Klägers (Schriftsätze vom 02.03. und 23.04.2015) blieb erfolglos. Diesbezüglich wird wegen der Einzelheiten vollinhaltlich auf den Widerspruchsbescheid vom 06.08.2015 verwiesen.

Hiergegen richtet sich die mit Schriftsatz vom 12.08.2015 erhobene und mit Schriftsatz vom 18.02.2016 begründete Klage. Der Kläger bezieht sich zur Begründung seines Begehrens auf den gutachterlichen Vorschlag der Frau T1 und hält die beratungsärztlichen Einwände für inhaltlich nicht nachvollziehbar. Wegen der Einzelheiten seines Vortrags wird auf den weiteren Inhalt der von ihm im Laufe des Verfahrens eingereichten Schriftsätze – insbesondere vom 18.02.2016 und 18.05. sowie 26.10.2017 und 30.04.2018 – ergänzend Bezug genommen.

Der Kläger beantragt, die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 19.02.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 06.08.2015 zu verurteilen, ihm wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 05.04.2013 über den 22.03.2014 hinaus eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit in einer Höhe von mindestens 20 von 100 der Vollrente zu gewähren.

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Die Beklagte bleibt bei ihrer ablehnenden Haltung. Sie hält die Einschätzung von Frau T1 nach wie vor nicht für überzeugend und sieht sich durch die gerichtlicherseits veranlassten Ermittlungen bestätigt (Schriftsätze vom 26.08.2015 und 18.03. sowie 28.11.2016 und 15.05.2018).

Das Gericht hat zunächst die Verwaltungsakten beigezogen und sodann Befundberichte der behandelnden Ärzte eingeholt, es hat sodann ein sozialmedizinisches Sachverständigen-gutachten bei dem Arzt für Chirurgie / Unfall- und Handchirurgie T4 in Auftrag gegeben (Beweisanordnung vom 16.01./02.02.2017). Dieser Gutachter hält eine MdE von 10 % für angemessen. Auf sein Gutachtens vom 20.03.2017 wird Bezug genommen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird im Übrigen auf den rest-lichen Inhalt der Streit- und Verwaltungsakten verwiesen. Auch dieser ist Gegenstand der mündlichen Verhandlung sowie der anschließenden Beratung der Kammer gewesen.

Entscheidungsgründe

gesetzliche Unfallversicherung - Bewertung von Fingerverletzungen
(Symbolfoto: Von Mladen Zivkovic/Shutterstock.com)

Die Klage ist zulässig und auch begründet. Die Entscheidung der Beklagten ist nicht recht-mäßig; sie belastet den Kläger zu Unrecht und ist daher abzuändern. Der Kläger hat nicht nur Anspruch auf eine Rente als vorläufige Entschädigung für einen begrenzten Zeitraum, sondern es steht ihm diese Rente nach einer MdE von 20 % auch auf unbestimmte Zeit zu.

Die MdE richtet sich gemäß § 56 Abs. 2 Satz 1 SGB VII nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden vermin-derten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens. Die Bemessung des Grades der MdE ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, der sich das Gericht vorbehaltlos anschließt, eine Tatsachenfeststellung, die das Tatsachengericht unter Berücksichtigung der gesamtem Umstände des Einzelfalls gemäß § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG (Sozialgerichtsgesetz) nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung trifft (siehe BSG vom 20.01.2016 – B 2 U 11/15 R – juris Rn. 15 m.w.N.). Dies gilt für die Feststellung der Beeinträchtigung des Leistungsvermögens des Versicherten ebenso wie für die auf der Grundlage medizinischer und sonstiger Erfahrungs-sätze über die Auswirkungen bestimmter körperlicher oder seelischer Beeinträchtigungen zu treffende Feststellung der ihm verbliebenen Erwerbsmöglichkeiten.

Ärztliche Meinungsäußerungen darüber, inwieweit Beeinträchtigungen sich auf die Erwerbs-fähigkeit auswirken, sind eine wichtige und vielfach unentbehrliche Grundlage für die richter-liche Schätzung der MdE, vor allem soweit sie sich darauf beziehen, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Verletzten gerade durch Folgen eines Arbeits-unfalls beeinträchtigt sind. Daneben sind auch die von der Rechtsprechung sowie dem ver-sicherungsrechtlichen und versicherungsmedizinischen Schrifttum herausgearbeiteten Er-fahrungssätze bei der Beurteilung der MdE zu beachten. Diese sind zwar nicht für die Entscheidung im Einzelfall bindend, bilden aber die Grundlage für eine gleiche, gerechte Bewertung der MdE in zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis (siehe dazu BSG vom 18.01.2011 – B 2 U 5/10 R- juris Rn. 16 m.w.N.).

Ausgehend von diesen höchstrichterlich durchweg anerkannten Grundsätzen ist die hier zur Entscheidung berufene Kammer nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme davon überzeugt, dass die Folgen des Arbeitsunfalls mit einer MdE von 20 % zu bewerten ist und dem Kläger daher eine Rente auf unbestimmte Zeit in entsprechender Höhe zusteht.

Dabei stützt sich das Gericht insbesondere auf die Ausführungen des gerichtlichen Sachver-ständigen T4 in dessen Gutachten. Danach liegt als Unfallfolge neben dem vollständigen Verlust des rechten Zeigefingers im Grundgelenk auch weiterhin – und nicht nur vorübergehend – eine Kraftminderung der rechten Hand vor, außerdem eine Gefühlsstörung im Bereich des Amputationsstumpfes sowie Phantomschmerzen und – wenn auch geringe – Bewegungseinschränkungen der Finger 3 – 5 sowie schließlich eine Einschränkung des Feingriffes der rechten Hand. Die Auswirkungen dieser Unfallfolgen auf das Erwerbsleben sind mit einer MdE von 10 % – wie von T4 vorgeschlagen – nicht angemessen eingeschätzt. Die Kammer folgt daher dem gutachterlichen Vorschlag insoweit nicht. Nach Auffassung des Gerichts ist hier eine MdE von 20 % auszugehen, um den Einschränkungen der Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens gerecht zu werden. Insoweit ist die Kammer davon überzeugt, dass der Vorschlag von Frau T1, den sie in der vom Kläger nachgereichten Stellungnahme vom 30.01.2018 noch einmal bekräftigt, nachvollziehbar begründet ist.

Das Gericht hat bereits auf die abstrakte Berechnung hingewiesen, ebenso darauf, dass die Kriterien der Versorgungsmedizin-Verordnung hier keine Anwendung finden. Maßgebend sind allein die in der Literatur veröffentlichten Erfahrungswerte. Diese unterliegen allerdings einen ständigen Wandel (siehe BSG vom 18.01.2011 – B 2 U 5/10 R- juris Rn. 16 m.w.N.). Insoweit ist festzustellen, dass die von T4 herangezogenen Werte nicht mehr dem aktuellen Stand entsprechen. So wird zwar noch in der 13. Auflage aus dem Jahr 2012 der „Unfallbegutachtung“  von Mehrhoff/Ekkernkamp/Wich für den Verlust des Mittelfingers eine MdE von 10 % vorgeschlagen (Seite 182) und auch Schönberger/Mehrtens/Valentin sehen in dem Standardwerk „Arbeitsunfall und Berufskrankheit“  in der 9. Auflage aus dem Jahre 2017 – nach Ablauf von 6 Monaten – nur noch eine MdE von 10 % vor (Seite 605). Ludolph nimmt aber in der 13. Auflage des Werkes „Der Unfallmann“  aus dem Jahre 2013 bereits eine MdE von 15 % an (Seite 215) und schlägt inzwischen schon eine MdE von 20 % vor (siehe Ludolph/Schürmann, MedSach 2016, 60-71 (Seite 65)).

Das Gericht folgt der „Neubewertung der MdE bei unfallchirugisch-orthopädischen Arbeits-unfall- und BK-Folgen in der gesetzlichen Unfallversicherung“  (so der Titels des Aufsatzes von Ludolph und Schürmann a.a.O.). Diese Neubewertung der MdE hinsichtlich der Folgen von Fingerverletzungen berücksichtigt die Anforderungen des gewandelten Arbeitsmarktes. Händische Arbeiten wie schweres Heben und Tragen, Schaufeln, Bohren sowie Montieren etc. Sind im Wesentlichen durch den Einsatz von Maschinen abgelöst worden, lediglich in einigen Bereichen – etwa im Handwerk und Haushaltsbereich – sind Greif-, Halte- und Druckbewegungen noch verbreitet und üblich. Nahezu flächendeckend ist heute allerdings das Bedienen von Tastaturen – insbesondere von Buchstaben- und Zahlenfeldern sowie sonstiger (Druck-)Tasten – durch Berühren mit den Fingern Teil der jeweiligen Arbeitstätig-keit (Ludolph/Schürmann a.a.O.). Finger(teil)verluste haben daher inzwischen weit größere Einschränkungen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zur Folge. Dem Umfang der dadurch verschlossenen Arbeitsmöglichkeiten ist hier entsprechend Rechnung zu tragen.

Darüber hinaus sind in dem konkreten hier zu entscheidenden Einzelfall auch noch weitere Beeinträchtigungen zu berücksichtigen, die ebenfalls Einschränkungen im Erwerbsleben zur Folge habe. Wie oben bereits ausgeführt liegt neben dem vollständigen Verlust des rechten Zeigefingers im Grundgelenk auch eine Kraftminderung der rechten Hand vor, daneben sind die Gefühlsstörung im Bereich des Amputationsstumpfes sowie die Phantomschmerzen und die Bewegungseinschränkungen der Finger 3 – 5 sowie schließlich die Einschränkung des Feingriffes der rechten Hand zu berücksichtigen. Eine Erhöhung der MdE von 20 % auf 30 % kommt insoweit nach Auffassung der Kammer allerdings nicht in Betracht, eine MdE von 30 % ist hierfür noch nicht gerechtfertigt, da insbesondere der Daumen zusammen mit den übrigen noch vorhandenen Fingern die wesentlichen Greif- und Haltefunktionen sicherstellen kann und daher der Umfang der dadurch verschlossenen Arbeitsmöglichkeiten nicht derart gravierend zunimmt, dass dies etwa dem Verlust des Daumens und des Zeigefingers gleich gestellt werden kann, für den in der Fachliteratur eine MdE von 30 % angenommen wird (vgl. Mehrhoff/Ekkernkamp/Wich a.a.O. (Seite 183); Schönberger/Mehrtens/Valentin a.a.O. (Seite 606)).

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 183, 193 SGG (Sozialgerichtsgesetz).

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