SG Münster – Az.: S 24 R 214/21 – Urteil vom 25.05.2022
Die Beklagte wird unter Abänderung des Bescheides vom 04.05.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.03.2021 dazu verurteilt, dem Kläger eine Rente wegen voller Erwerbsminderung ausgehend von einem Leistungsfall am 17.06.2019 auf Dauer zu gewähren.
Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung, insbesondere um das Vorliegen der medizinischen Voraussetzungen eines Leistungsfalles der Erwerbsminderung.
Der am 00.00.0000 geborene Kläger beantragte bei der Beklagten am 17.06.2019 die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung und begründete diesen Antrag mit einer Polyneuropathie an den Händen und Füßen. Er halte sich für seit Mai 2017 erwerbsgemindert.
Die Beklagte nahm Ermittlungen hinsichtlich der medizinischen und versicherungsrechtlichen Voraussetzungen auf, holte Befundberichte ein, ließ den Kläger durch die Fachärztin für Neurologie Dr. I. nach Aktenlage begutachten, die ausführte, es bestehe auch ohne Hilfsmittel eine ausreichende Gehfähigkeit des Klägers, und lehnte mit Bescheid vom 04.05.2020 die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung ab. Der Kläger sei unter Beachtung der Einschränkungen, die sich aus seinen Krankheiten oder Behinderungen ergeben, in der Lage, noch mindestens sechs Stunden täglich unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes erwerbstätig zu sein.
Der Kläger erhob gegen den ablehnenden Bescheid der Beklagten Widerspruch. Er könne keine 500m ohne große Schmerzen bewältigen.
Die Beklagte legte die Widerspruchsbegründung ihrer Abteilung für Sozialmedizin vor, ließ den Kläger durch den Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. L. untersuchen und begutachten und wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 03.03.2021 als unbegründet zurück. Die Erwerbsfähigkeit des Klägers sei nicht auf ein rentenberechtigendes Niveau gesunken.
Hiergegen hat der Kläger Klage erhoben. Er wiederholt sein Vorbringen aus dem Verwaltungsverfahren.
Der Kläger beantragt, die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 04.05.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.03.2021 zu verurteilen, ihm eine Rente wegen Erwerbsminderung ausgehend von einem Leistungsfall am 17.06.2019 zu gewähren.
Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Die Beklagte hält ihre Verwaltungsentscheidung, insbesondere hinsichtlich der Beurteilung der Leistungsfähigkeit des Klägers, weiterhin für rechtmäßig.
Das Gericht hat die Verwaltungsakten der Beklagten beigezogen, Befundberichte eingeholt und den Kläger durch Facharzt für Neurologie Dr. M. und den Facharzt für Orthopädie Dr. C. untersuchen und begutachten lassen. Die Sachverständigen stellen ausweislich der Ausführungen in ihren Gutachten vom 30.10.2021 und vom 23.12.2021 die Diagnosen einer leichten Nervenfunktionsstörung vorwiegend der Beine nach viralem Infekt, eines Verschleißleidens der Wirbelsäule mit Bandscheibenschäden. Die Gutachter kommen zu dem Ergebnis, der Kläger könne noch körperlich leichte Tätigkeiten im täglichen Umfang von sechs Stunden und mehr ausüben. Es sei nicht mit betriebsunüblichen Pausen oder längeren Ausfallzeiten zu rechnen. Der Kläger könne aber nicht mehr vier Mal am Tag etwas mehr als 500m in jeweils etwas weniger von 20 Minuten zurücklegen. Weitere Gutachten seien nicht erforderlich.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des übrigen Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen, der zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht worden ist.
Entscheidungsgründe
Die im Wege der objektiven Klagehäufung nach § 54 Abs. 4 und § 56 Sozialgerichtsgesetz (SGG) erhobene, als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage gemäß § 54 Abs. 1 Satz 1 Var. 1, Abs. 5 SGG statthafte und auch im Übrigen zulässige Klage ist begründet.
Der Kläger ist durch den angefochtenen Bescheid vom 04.05.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.03.2021 beschwert, § 54 Abs. 1 Satz 2 SGG. Denn dieser ist rechtswidrig, § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG.
Die Beklagte hat zu Unrecht einen Anspruch des Klägers auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung nach den Bestimmungen des Sechsten Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) abgelehnt.
Versicherte haben bei Vorliegen der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen (§ 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und 3 bzw. § 43 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und 3 SGB VI) Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung, wenn sie teilweise erwerbsgemindert sind (§ 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI), bzw. auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie voll erwerbsgemindert sind (§ 43 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 SGB VI).
Teilweise erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI).
Voll erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI). Erwerbsgemindert ist hingegen nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (§ 43 Abs. 3 SGB VI).
Die dargestellten Voraussetzungen liegen vor. Der Kläger ist voll erwerbsgemindert im vorgenannten Sinne. Hierbei liegen auch die allgemeinen Anspruchsvoraussetzungen, insbesondere die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen vor. Etwas anderes ist nicht geltend gemacht worden und ist für die Kammer auch nicht ersichtlich.
Der Kläger ist voll erwerbsgemindert im Sinne des § 43 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1, Satz 2 SBG VI.
Bei dem Kläger bestehen nach dem Ergebnis der gerichtlichen Beweisaufnahme folgende Gesundheitsstörungen, die Auswirkungen auf deren Leistungsvermögen im Erwerbsleben haben.
Auf neurologisch-psychiatrischen Fachgebiet besteht eine leichte Nervenfunktionsstörung vorwiegend der Beine nach viralem Infekt.
Auf orthopädischem Fachgebiet besteht ein Verschleißleiden der Wirbelsäule mit Bandscheibenschäden
Diese Gesundheitsstörungen ergeben sich aus dem Gutachten der im gerichtlichen Verfahren von Amts wegen gehörten Sachverständigen Dr. M. und Dr. C.. Die Gutachten vom 30.10.2021 und vom 23.12.2021 sind in sich schlüssig und nachvollziehbar. Sie beruhen auf einer eingehenden persönlichen Untersuchung des Klägers und einer umfassenden Auswertungen der aktenkundigen Befunde. Es ist nicht ersichtlich, dass die genannten Sachverständigen Befunde unvollständig erhoben haben. Die Kammer hat keinen Anlass, den Diagnosen des Sachverständigen nicht zu folgen.
Aufgrund der festgestellten Gesundheitsstörungen ist das Leistungsvermögen des Klägers auf körperlich leichte Tätigkeiten limitiert, wobei Tätigkeiten in überwiegend wechselnder Körperhaltung verrichtet werden müssen. Die Körperhaltung sollte jederzeit frei wählbar sein. Arbeiten im Knien, Hocken oder Bücken sind ebenso wenig möglich wie Überkopf- und Überschulterarbeiten oder Arbeiten in Zwangshaltungen. Gerüst- und Lagerarbeiten sind nicht möglich, ebenso wenig wie Arbeiten mit Besteigen von Regalleitern. Es können geistig nur einfache Tätigkeiten ausgeübt werden mit geringen Anforderungen an Konzentration, Reaktion, Übersicht, Aufmerksamkeit, Zuverlässigkeit und geistige Beweglichkeit. Diesem individuellen Leistungsbild entsprechende Tätigkeiten sind dem Kläger in einem Umfang von täglich sechs Stunden und mehr möglich.
Mit diesen Feststellungen zum gesundheitlichen Leistungsvermögen des Klägers im Erwerbsleben folgt die Kammer ebenfalls den ausführlichen und schlüssig begründeten Darlegungen in den schriftlichen Gutachten der im gerichtlichen Verfahren gehörten Sachverständigen Dr. M. und Dr. C. Die Kammer ist der Überzeugung, dass die von den Sachverständigen vorgenommene Leistungsbeurteilung dem tatsächlichen Leistungsvermögen der Klägerin im Erwerbsleben entspricht. Die Kammer sieht keine Veranlassung, an der Kompetenz der Sachverständigen, den Gesundheitszustand des Klägers begutachten zu können, Zweifel zu hegen.
Über die (gesetzliche) Definition des Versicherungsfalles der vollen Erwerbsminderung hinaus sind auch die Versicherten voll erwerbsgemindert, die noch einer Erwerbstätigkeit von mindestens sechs Stunden nachgehen können, für die der Arbeitsmarkt aber aufgrund einer aufgehobenen Wegefähigkeit verschlossen ist.
Der Arbeitsmarkt gilt als verschlossen, wenn der Versicherte den Weg zur Arbeitsstelle nicht zurücklegen kann (Ulrich Freudenberg in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VI, 2. Aufl. 2013, § 43 SGB VI, Rn. 209). Denn auch in diesem Fall ist er – trotz möglicherweise sechsstündigen oder gar vollschichtigen Leistungsvermögens – nicht in der Lage, mit seinem Restleistungsvermögen Erwerbseinkommen zu erzielen (Ulrich Freudenberg in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VI, 2. Aufl. 2013, § 43 SGB VI, Rn. 209). Maßgebend ist nicht der konkrete Weg von der Wohnung des Versicherten zu einer Arbeitsstelle, sondern ein generalisierender Maßstab, der zugleich den Bedürfnissen einer Massenverwaltung Rechnung trägt (Ulrich Freudenberg in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VI, 2. Aufl. 2013, § 43 SGB VI, Rn. 210). Danach muss der Versicherte noch in der Lage sein, entweder täglich viermal eine Wegstrecke von etwas mehr als 500 m innerhalb von 20 Minuten zu Fuß zurückzulegen und öffentliche Verkehrsmittel während der Hauptverkehrszeit zu benutzen (Ulrich Freudenberg in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VI, 2. Aufl. 2013, § 43 SGB VI, Rn. 210). Bei der Beurteilung der Mobilität des Versicherten sind alle ihm tatsächlich zur Verfügung stehenden Hilfsmittel (z.B. Gehstützen) und Beförderungsmöglichkeiten zu berücksichtigen. Das schließt vor allem die Möglichkeit der Benutzung eines (in der Regel eigenen) Kfz oder Fahrrads oder das Innehaben eines in zumutbarer Entfernung liegenden Arbeitsplatzes bzw. das Angebot eines solchen ein (Ulrich Freudenberg in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VI, 2. Aufl. 2013, § 43 SGB VI, Rn. 210).
Nach den Ausführungen der Sachverständigen kann der Kläger die notwendige Strecke nicht mehr in der notwendigen Zeit bewältigen (vgl. nur Gutachten des Dr. M., Seite 18). Auch dies deckt sich vollständig mit dem Eindruck, den die Kammer während der mündlichen Verhandlung vom Kläger gewinnen konnte. Die Bewegungen waren schlurfend und langsam.
Kann ein Versicherter die genannten Wege nicht mehr zurücklegen oder öffentliche Verkehrsmittel nicht benutzen, reicht es alternativ, wenn ihm ein Kfz werktäglich zur Verfügung steht (Ulrich Freudenberg in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VI, 2. Aufl. 2013, § 43 SGB VI, Rn. 213). Das wird in der Regel der Fall sein, wenn es ihm selbst gehört. Es genügt aber, wenn er jederzeit Zugriff auf das einem Dritten gehörende Kfz haben kann, ohne den Ausschluss von seiner Benutzung fürchten zu müssen (Ulrich Freudenberg in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VI, 2. Aufl. 2013, § 43 SGB VI, Rn. 213). Auch die Fähigkeit, ein Kfz zu benutzen, kann aber krankheitsbedingt eingeschränkt sein (Ulrich Freudenberg in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VI, 2. Aufl. 2013, § 43 SGB VI, Rn. 213).
Nach den glaubhaften Ausführungen des glaubwürdigen Klägers hat dieser kein Fahrzeug zur Verfügung. Das Fahrzeug, das in seinem Eigentum steht, ist beschädigt und nicht mehr fahrtauglich. Es sei ihm auch nicht möglich, es zu reparieren.
Die hieraus folgende Rente wegen voller Erwerbsminderung war gemäß § 102 Abs. 2 Satz 5 SGB VI nicht zu befristen, weil unwahrscheinlich ist, dass die Minderung der Erwerbsfähigkeit behoben werden kann.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG und trägt dem Ausgang des Verfahrens Rechnung.