Ein Mitarbeiter erlitt beim Abbau eines Schwerlastregals eine Querschnittslähmung und forderte Schmerzensgeld vom Arbeitgeber. Entscheidend für den Haftungsausschluss des Arbeitgebers nach Arbeitsunfall war nur die Frage des nachweisbaren Vorsatzes.
Übersicht
- Das Wichtigste in Kürze
- Sturz in ein neues Leben: Warum haftet der Arbeitgeber nicht für einen Arbeitsunfall mit Querschnittslähmung?
- Was genau war geschehen?
- Welche Gesetze spielten hier die entscheidende Rolle?
- Warum entschied das Gericht so – und nicht anders?
- Welche Lehren lassen sich aus diesem Urteil ziehen?
- Die Urteilslogik
- Benötigen Sie Hilfe?
- Experten Kommentar
- Häufig gestellte Fragen (FAQ)
- Warum muss der Arbeitgeber nach einem schweren Arbeitsunfall kein Schmerzensgeld zahlen?
- Wann genau gilt der doppelte Vorsatz des Arbeitgebers als bewiesen?
- Wie kann ich den doppelten Vorsatz des Arbeitgebers im Detail nachweisen?
- Führt die Beweisvereitelung durch den Arbeitgeber zur Umkehr der Beweislast?
- Gilt der Haftungsausschluss auch für materielle Schäden, die nicht von der Berufsgenossenschaft gedeckt werden?
- Glossar – Fachbegriffe kurz erklärt
- Das vorliegende Urteil
Zum vorliegenden Urteil Az.: 1 Sa 1/25 | Schlüsselerkenntnis | FAQ | Glossar | Kontakt
Das Wichtigste in Kürze
- Gericht: Thüringer Landesarbeitsgericht
- Datum: 24.06.2025
- Aktenzeichen: 1 Sa 1/25
- Verfahren: Berufung
- Rechtsbereiche: Arbeitsrecht, Sozialrecht, Schadensersatz
- Das Problem: Ein Mitarbeiter stürzte bei Abbau eines Regals aus großer Höhe und erlitt eine irreversible Querschnittslähmung. Er forderte von seinem Arbeitgeber Schmerzensgeld und Schadensersatz in Höhe von mindestens 250.000,00 €. Der Arbeitgeber berief sich auf den gesetzlichen Haftungsausschluss für Arbeitsunfälle.
- Die Rechtsfrage: Muss ein Arbeitgeber für die schweren Folgen eines Arbeitsunfalls persönlich haften, wenn der Arbeitnehmer behauptet, der Chef habe die Verletzung aufgrund grober Sicherheitsmängel bewusst in Kauf genommen?
- Die Antwort: Nein. Das Gericht wies die Klage ab. Ein Arbeitgeber haftet nur, wenn er die Verletzung des Mitarbeiters tatsächlich bewusst herbeiführen wollte oder den schweren Verletzungserfolg gebilligt hat. Das konnte der Kläger hier nicht beweisen.
- Die Bedeutung: Der gesetzliche Haftungsausschluss schützt Arbeitgeber auch bei schweren Sicherheitsverstößen. Nur wenn ein sogenannter Doppelter Vorsatz (Vorsatz bezüglich der Handlung und des Verletzungserfolgs) vorliegt, kann der Arbeitgeber zur Zahlung von Schmerzensgeld und Schadensersatz verpflichtet werden.
Sturz in ein neues Leben: Warum haftet der Arbeitgeber nicht für einen Arbeitsunfall mit Querschnittslähmung?
Ein Sturz aus drei bis vier Metern Höhe beendete das bisherige Leben eines langjährigen Mitarbeiters. Die Diagnose: eine vollständige und irreversible Querschnittslähmung. Der Unfall ereignete sich bei der Arbeit, im Betrieb seines Arbeitgebers, auf dessen Anweisung hin. Dennoch entschied das Thüringer Landesarbeitsgericht mit Urteil vom 24. Juni 2025 (Az.: 1 Sa 1/25), dass der Arbeitgeber weder Schmerzensgeld noch Schadensersatz zahlen muss.

Diese auf den ersten Blick schockierende Entscheidung offenbart die tiefgreifende Logik des deutschen Sozialversicherungsrechts und die extrem hohe Hürde, die ein Arbeitnehmer überwinden muss, um die persönliche Haftung seines Arbeitgebers zu begründen.
Was genau war geschehen?
Am 3. November 2020 erhielt ein seit rund zehn Jahren im Betrieb beschäftigter Mitarbeiter den Auftrag, gemeinsam mit einem Kollegen ein massives Schwerlastregal in der Lagerhalle abzubauen. Das Regal war mindestens fünf Meter hoch, drei Meter breit und einen Meter tief. Während der Arbeiten befand sich der Mitarbeiter allein in der Halle; sein Kollege war abwesend. Plötzlich stürzte er aus beträchtlicher Höhe ab. Er erlitt verheerende Verletzungen, darunter eine Schädelfraktur, Rippenbrüche, Wirbelfrakturen und als schwerste Folge eine Querschnittslähmung.
Nach dem Unfall ließ der Arbeitgeber das Regal von dem anderen Kollegen vollständig demontieren. Als die Polizei am nächsten Tag den Unfallort untersuchte, existierte das Unglücksregal nicht mehr. Der Arbeitgeber demonstrierte den möglichen Hergang stattdessen an einem baugleichen Regal. Wegen Verstößen gegen Arbeitsschutzvorschriften wurde später ein Bußgeld in Höhe von 1.500 Euro gegen den Arbeitgeber verhängt. Ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren wegen fahrlässiger Körperverletzung stellte die Staatsanwaltschaft jedoch ein.
Der verletzte Arbeitnehmer forderte von seinem Arbeitgeber ein Schmerzensgeld von mindestens 250.000 Euro sowie Ersatz für materielle Schäden wie die Kosten für einen behindertengerechten Umbau von Bad und Pkw in Höhe von über 35.000 Euro. Der Arbeitgeber lehnte jegliche Zahlung ab und verwies auf den gesetzlichen Haftungsausschluss. Nachdem das Arbeitsgericht Erfurt die Klage abgewiesen hatte, landete der Fall in der Berufung vor dem Landesarbeitsgericht.
Welche Gesetze spielten hier die entscheidende Rolle?
Im Zentrum dieses Falles steht eine grundlegende Weichenstellung des deutschen Sozialrechts: der Haftungsausschluss des Arbeitgebers, geregelt in § 104 Abs. 1 des Siebten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VII). Dieses Prinzip ist eine Art gesellschaftlicher Vertrag. Im Gegenzug dafür, dass Arbeitnehmer bei Arbeitsunfällen Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung (Berufsgenossenschaft) erhalten – und zwar unabhängig von der Schuldfrage –, werden Arbeitgeber von der persönlichen zivilrechtlichen Haftung freigestellt. Sie müssen also in der Regel kein Schmerzensgeld oder Schadensersatz zahlen.
Diese Schutzmauer für den Arbeitgeber ist jedoch nicht unüberwindbar. Sie fällt, wenn der Arbeitgeber den Unfall vorsätzlich herbeigeführt hat. Die Rechtsprechung, insbesondere die des Bundesarbeitsgerichts (BAG), hat über Jahrzehnte präzisiert, was das bedeutet. Es reicht nicht aus, dass der Arbeitgeber „nur“ grob fahrlässig gehandelt oder Sicherheitsvorschriften missachtet hat. Erforderlich ist ein sogenannter doppelter Vorsatz. Das bedeutet: Der Arbeitgeber muss nicht nur die gefährliche Handlung (z.B. die Anweisung zu einer unsicheren Tätigkeit) gewollt haben, sondern auch den konkreten Verletzungserfolg (also die schwere Körperverletzung des Mitarbeiters). Er muss den Unfall und seine Folgen zumindest billigend in Kauf genommen haben.
Warum entschied das Gericht so – und nicht anders?
Das Landesarbeitsgericht bestätigte die Abweisung der Klage und folgte damit der Argumentation der ersten Instanz. Die Richter gelangten zu der Überzeugung, dass der Arbeitnehmer die extrem hohen Anforderungen an den Nachweis des doppelten Vorsatzes nicht erfüllen konnte. Die Analyse des Gerichts zerlegte die Argumente des Klägers Punkt für Punkt.
Fehlte der entscheidende Beweis für den „doppelten Vorsatz“?
Der Kernvorwurf des Arbeitnehmers lautete, sein Chef habe den Unfall zumindest mit bedingtem Vorsatz verursacht. Er habe gewusst, wie gefährlich der Abbau ohne Spezialfirma sei – der Arbeitnehmer will ihn sogar am Vortag darauf hingewiesen haben –, habe die Gefahr aber aus Kostengründen bewusst in Kauf genommen. Das Gericht sah hier jedoch keinen Vorsatz, sondern allenfalls den Vorwurf der Fahrlässigkeit.
Der entscheidende Unterschied liegt in der inneren Einstellung zur Tatfolge. Der bewusst fahrlässig Handelnde erkennt die Gefahr, vertraut aber pflichtwidrig darauf, dass schon nichts passieren wird. Der bedingt vorsätzlich Handelnde hingegen erkennt die Gefahr, findet sich aber mit dem Eintritt des schlimmen Erfolgs ab; es ist ihm gleichgültig.
Nach Ansicht des Gerichts sprach das Verhalten des Arbeitgebers gegen eine solche Gleichgültigkeit. Der Arbeitgeber hatte dargelegt, dass in der Halle diverse Hilfsmittel wie Leitern, Rollgerüste und sogar eine manövrierbare Teleskop-Hebebühne mit Korb zur Verfügung standen. Der Kläger, ein erfahrener Mitarbeiter, der schon früher Regale unfallfrei abgebaut hatte, hätte diese nutzen können und sollen. Das Gericht interpretierte das Verhalten des Arbeitgebers daher als Vertrauen darauf, dass der erfahrene Mitarbeiter die vorhandenen Mittel sicher einsetzen würde. Ein solches Vertrauen, auch wenn es sich als falsch herausstellte, schließt einen Vorsatz bezüglich der Verletzung aus.
Waren die vorhandenen Sicherungsmittel wirklich ungeeignet?
Der Arbeitnehmer hatte argumentiert, die vom Chef genannten Hilfsmittel seien unbrauchbar gewesen. Die Hebebühne sei nicht manövrierbar gewesen und habe keinen Korb gehabt. Das Gericht wies diesen Einwand zurück, weil er nicht ausreichend substantiiert war. Es wäre die Aufgabe des klagenden Arbeitnehmers gewesen, detailliert darzulegen und zu beweisen, warum genau die Hebebühne oder die Gerüste für diese spezielle Aufgabe ungeeignet waren. Ein pauschaler Einwand genügte den Richtern nicht.
Auch das Argument, es hätten Sicherheitsgurte gefehlt, verfing nicht. Das Gericht erklärte, dass solche Gurte typischerweise an Arbeitsgeräten wie einer Hebebühne befestigt werden, nicht am abzureißenden Regal selbst. Da der Arbeitnehmer aber nicht dargelegt hatte, wie ein Gurt bei seiner konkreten Vorgehensweise ohne Hebebühne hätte helfen können, lief dieser Vorwurf ins Leere. Allein die Tatsache, dass Sicherheitsvorschriften verletzt wurden – was das Bußgeld belegt –, begründet nach ständiger Rechtsprechung noch keinen Vorsatz für die Verletzung.
Führte der schnelle Abbau des Regals zu einer Beweisvereitelung?
Ein starkes Argument des Klägers war der Vorwurf der Beweisvereitelung. Hätte der Arbeitgeber das Regal stehen lassen, hätten Polizei und Gutachter den Unfallhergang exakt rekonstruieren können. Durch den Abbau habe er dies verhindert, was zu einer Umkehr der Beweislast führen müsse – nun müsse der Arbeitgeber beweisen, dass er nicht vorsätzlich gehandelt habe.
Das Gericht folgte dieser Logik nicht. Zwar sei es denkbar gewesen, die Ermittlungen abzuwarten. Es fehlte aber am notwendigen subjektiven Tatbestand der Beweisvereitelung. Der Arbeitgeber musste nicht nur das Beweismittel beseitigt, sondern dies auch in der Absicht getan haben, die Aufklärung zu verhindern. Diese Absicht sah das Gericht nicht als erwiesen an. Der Arbeitgeber konnte den Behörden ein baugleiches Regal zur Demonstration vorführen. Zudem konnte der Kläger selbst nicht konkret benennen, welche entscheidenden Erkenntnisse am Originalregal hätten gewonnen werden können, die nun verloren seien. Die bloße Möglichkeit anderer Feststellungen reichte dem Gericht nicht aus, um die strengen Regeln der Beweislast umzukehren.
Müsste der Haftungsausschluss nicht für ungedeckte materielle Schäden weichen?
Zuletzt brachte der Kläger einen grundsätzlichen Einwand vor: Der Haftungsausschluss sei verfassungs- oder menschenrechtswidrig, weil die gesetzliche Unfallversicherung nicht alle seine materiellen Schäden abdecke, etwa die vollen Kosten für den Umbau seines Autos. Er argumentierte, dass hier eine unzumutbare Lücke im Rechtsschutz entstehe.
Auch hier erteilte das Gericht eine klare Absage. Es verwies auf die gefestigte Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts und des Bundesverfassungsgerichts. Demnach erfasst der Haftungsausschluss aus § 104 Abs. 1 SGB VII pauschal alle Personenschäden. Dazu gehören neben Schmerzensgeld auch sämtliche Vermögensschäden, die aus der Körperverletzung resultieren. Es kommt nicht darauf an, ob die Sozialversicherungsträger im Einzelfall jede einzelne Kostenposition erstatten. Die grundsätzliche Verfassungsmäßigkeit dieses Systems sei geklärt und nicht infrage zu stellen.
Welche Lehren lassen sich aus diesem Urteil ziehen?
Dieses Urteil illustriert schmerzhaft die Konsequenzen des sozialrechtlichen Systems bei Arbeitsunfällen. Es macht deutlich, dass die persönliche Haftung des Arbeitgebers eine absolute Ausnahme darstellt, die an extrem hohe Hürden geknüpft ist.
Die erste und wichtigste Erkenntnis ist die immense Bedeutung des „doppelten Vorsatzes“. Einem Arbeitgeber muss nachgewiesen werden, dass er den schweren Körperschaden seines Mitarbeiters nicht nur für möglich hielt, sondern sich damit innerlich abgefunden hat. Selbst gravierende Verstöße gegen den Arbeitsschutz, die auf grober Fahrlässigkeit beruhen, reichen dafür in aller Regel nicht aus. Die Gerichte gehen davon aus, dass auch ein leichtsinniger Chef in der Regel darauf hofft, dass alles gut geht. Dieser Hoffnungsschimmer unterscheidet die Fahrlässigkeit vom Vorsatz und schützt den Arbeitgeber vor der persönlichen Haftung.
Die zweite Lehre betrifft die Darlegungs- und Beweislast im Zivilprozess. Der Fall zeigt, dass pauschale Behauptungen nicht ausreichen, um vor Gericht zu bestehen. Der Arbeitnehmer hätte detailliert vortragen und beweisen müssen, warum die angeblich vorhandenen Sicherheitsvorkehrungen im konkreten Fall nutzlos waren. Wer vor Gericht einen Anspruch geltend macht, muss die dafür sprechenden Tatsachen so konkret wie möglich darlegen. Die bloße Behauptung, etwas sei „ungeeignet“ gewesen, reicht nicht aus, um den fundierten Vortrag der Gegenseite zu entkräften.
Zuletzt verdeutlicht die Entscheidung den fundamentalen Tausch, der dem System der gesetzlichen Unfallversicherung zugrunde liegt: Sicherheit gegen Haftung. Arbeitnehmer erhalten relativ unbürokratisch und ohne Schuldprüfung Leistungen, die ihre Existenz sichern sollen. Im Gegenzug wird der „Betriebsfrieden“ gewahrt, indem Arbeitgeber und auch Kollegen vor zivilrechtlichen Klagen geschützt werden, die oft langwierig, teuer und im Ausgang ungewiss wären. Dieses Urteil zeigt, dass der Preis für diese Sicherheit ein weitreichender Verzicht auf individuelle Ansprüche wie Schmerzensgeld ist – eine Konsequenz, die für die Betroffenen tragisch, aber vom Gesetzgeber so gewollt ist.
Die Urteilslogik
Der gesetzliche Haftungsausschluss schützt Arbeitgeber umfassend vor Schadensersatzforderungen, selbst wenn gravierende Sicherheitsmängel zum Unfall führen.
- Der doppelte Vorsatz entscheidet über die Haftung: Der Arbeitgeber haftet persönlich nur, wenn er den konkreten Verletzungserfolg seines Mitarbeiters nicht nur für möglich hält, sondern diesen bewusst und billigend in Kauf nimmt.
- Bewusste Fahrlässigkeit schließt Vorsatz aus: Wer Sicherheitsrisiken eingeht, aber pflichtwidrig darauf vertraut, dass der Schaden nicht eintreten wird, handelt nicht vorsätzlich, sondern nur grob fahrlässig.
- Der Haftungsausschluss erfasst alle Vermögensschäden: Arbeitnehmer verlieren durch das Sozialversicherungssystem den Anspruch auf Ersatz sämtlicher materieller und immaterieller Schäden, die unmittelbar aus der Körperverletzung entstehen, unabhängig von der Deckungslücke durch die Berufsgenossenschaft.
- Die Beweislast verlangt Substanz: Wer im Prozess die Ungeeignetheit vorhandener Sicherheitsmittel oder die Absicht einer Beweisvereitelung behauptet, muss diese Tatsachen detailliert und schlüssig darlegen, da pauschale Einwände nicht genügen, um die strikten Beweisregeln zu umkehren.
Das Sozialversicherungsrecht etabliert eine scharfe Grenze, die Betriebsfrieden garantiert, im Einzelfall jedoch weitreichende individuelle Ansprüche opfert.
Benötigen Sie Hilfe?
Stehen Sie nach einem schweren Arbeitsunfall vor Fragen zur Haftung des Arbeitgebers? Kontaktieren Sie uns für eine erste rechtliche Einschätzung Ihrer Situation.
Experten Kommentar
Ein Sturz aus fünf Metern Höhe mit Querschnittslähmung – für viele klingt es selbstverständlich, dass der Arbeitgeber hier persönlich haften muss. Dieses Urteil demonstriert knallhart die strategische Logik des Sozialversicherungsrechts: Der Haftungsausschluss ist fast ein unüberwindbarer Schutzschild. Wer nach einem Arbeitsunfall Schmerzensgeld vom Chef will, muss beweisen, dass dieser den schweren Körperschaden billigend in Kauf nahm, nicht nur die Sicherheitsvorschriften ignorierte. Dieser „doppelte Vorsatz“ ist die rote Linie, die in der Praxis kaum je überschritten wird, da Gerichte auch bei grober Fahrlässigkeit noch auf einen Rest an Vertrauen des Arbeitgebers in einen glimpflichen Ausgang schließen.
Häufig gestellte Fragen (FAQ)
Warum muss der Arbeitgeber nach einem schweren Arbeitsunfall kein Schmerzensgeld zahlen?
Der gesetzliche Haftungsausschluss des Arbeitgebers, festgelegt in § 104 Abs. 1 des Siebten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VII), verhindert zivilrechtliche Ansprüche auf Schmerzensgeld. Dieses Prinzip bildet den Kern des deutschen Sozialversicherungsrechts. Es handelt sich um einen gesellschaftlichen Tausch: Die Arbeitnehmer erhalten schnelle und schuldunabhängige Leistungen der Berufsgenossenschaft.
Durch diesen Mechanismus wird der sogenannte Betriebsfrieden gewahrt. Das System soll verhindern, dass nach jedem schweren Arbeitsunfall langwierige und teure Zivilprozesse zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer geführt werden. Die Regelung stellt sicher, dass verletzte Arbeitnehmer sofort medizinische Versorgung und finanzielle Unterstützung durch die gesetzliche Unfallversicherung erhalten. Die Berufsgenossenschaft trägt die Last, unabhängig davon, ob der Arbeitgeber Fahrlässigkeit beging oder nicht.
Im Gegenzug für die gesicherte Unterstützung verzichtet der Arbeitnehmer auf individuelle zivilrechtliche Ansprüche gegen den Chef, insbesondere auf Schmerzensgeld und Schadensersatz für Personenschäden. Die Haftungsschutzmauer fällt erst, wenn dem Arbeitgeber ein sogenannter doppelter Vorsatz nachgewiesen wird. Es reicht nicht aus, wenn der Arbeitgeber Arbeitsschutzvorschriften grob missachtet hat, da dies lediglich Fahrlässigkeit belegt.
Fordern Sie sofort die detaillierte Leistungsübersicht Ihrer Berufsgenossenschaft an, um genau zu prüfen, welche materiellen Schäden bereits abgedeckt sind.
Wann genau gilt der doppelte Vorsatz des Arbeitgebers als bewiesen?
Die Beweisanforderung für den doppelten Vorsatz ist extrem hoch und schwer zu erfüllen. Er gilt nur dann als bewiesen, wenn dem Arbeitgeber nachgewiesen wird, dass er den konkreten, schweren Verletzungserfolg nicht nur für möglich hielt, sondern diesen innerlich gebilligt hat. Entscheidend ist die feine juristische Unterscheidung zwischen grober Fahrlässigkeit und dem bedingten Vorsatz.
Viele Betroffene gehen fälschlicherweise davon aus, dass die grobe Missachtung von Sicherheitsvorschriften automatisch Vorsatz bedeutet. Das Gesetz zieht hier eine scharfe Trennlinie. Ein bewusst fahrlässiger Chef erkennt die Gefahr zwar, vertraut aber pflichtwidrig darauf, dass schon nichts Schlimmes passieren wird. Der Vorsatz liegt hingegen nur vor, wenn die verantwortliche Person den Eintritt der schweren Folge als unvermeidbar hinnimmt und sich mit dem Schaden gleichgültig abfindet.
Nach der ständigen Rechtsprechung verhindert bereits die Bereitstellung von Sicherheitsmitteln oft den Nachweis des Vorsatzes. Wenn der Arbeitgeber Leitern, Gerüste oder eine Hebebühne zur Verfügung stellte, geht das Gericht in der Regel davon aus, dass er auf die korrekte und sichere Nutzung durch den Mitarbeiter vertraute. Dieses Vertrauen, selbst wenn es sich als falsch herausstellte, schließt die innere Billigung des Unfalls aus. Um den bedingten Vorsatz zu beweisen, müssen Sie die Billigung des Schadenseintritts durch den Chef lückenlos belegen.
Erstellen Sie deshalb ein detailliertes, chronologisches Protokoll aller Kommunikationen vor dem Unfall, in dem Sie die spezifischen Risiken, die Sie Ihrem Arbeitgeber benannt haben, festhalten.
Wie kann ich den doppelten Vorsatz des Arbeitgebers im Detail nachweisen?
Die Beweisanforderung für den doppelten Vorsatz ist extrem hoch; Richter verlangen mehr als nur pauschale Behauptungen über schlechte Sicherheitsbedingungen. Sie müssen die juristische Darlegungslast präzise erfüllen und konkret belegen, dass Ihr Arbeitgeber den schweren Verletzungserfolg innerlich billigte. Der Schlüssel liegt in der detaillierten Widerlegung aller vom Arbeitgeber bereitgestellten Schutzmaßnahmen. Dieser Nachweis muss belegen, dass das Verhalten des Chefs über die grobe Fahrlässigkeit hinausging.
Gerichte prüfen genau, ob der Arbeitgeber auf die sichere Nutzung der vorhandenen Mittel vertraute oder die Verletzung billigend in Kauf nahm. Wenn der Arbeitgeber behauptet, eine Hebebühne oder Gerüste stünden bereit, müssen Sie detailliert beweisen, warum diese technisch unbrauchbar waren. Pauschale Einwände, das Mittel sei nur „ungeeignet“ gewesen, reichen den Richtern nicht aus. Sie müssen konkret darlegen, warum die Hebebühne aufgrund der räumlichen Gegebenheiten nicht manövrierbar war oder der Arbeitsbereich nicht erreichbar war.
Konzentrieren Sie sich auf Beweise für den inneren Willen des Arbeitgebers. Sammeln Sie Zeugenaussagen oder Dokumente, die belegen, dass der Chef die Gefahr bewusst aus Kostengründen in Kauf nahm und explizit die Umgehung von Sicherheitspflichten anwies. Falls Sicherheitsgurte fehlten, muss detailliert dargelegt werden, wie ein Gurt bei der konkreten ungesicherten Vorgehensweise das Unglück verhindert hätte. Bußgelder wegen Verletzung der Arbeitsschutzvorschriften belegen dabei lediglich Fahrlässigkeit, aber nicht automatisch die Billigung des schweren Verletzungserfolges.
Befragen Sie unmittelbar alle anwesenden Kollegen und lassen Sie sich schriftlich die spezifischen, technischen Mängel der vorhandenen Sicherheitsmittel bestätigen.
Führt die Beweisvereitelung durch den Arbeitgeber zur Umkehr der Beweislast?
Die bloße Beseitigung eines Beweismittels, wie der schnelle Abbau des Unfallregals, führt in der Praxis nicht automatisch zur Umkehr der Beweislast. Ein solcher Vorwurf stellt hohe Anforderungen an den Kläger. Entscheidend ist der Nachweis der Absicht des Arbeitgebers, die Aufklärung aktiv zu verhindern. Der schnelle Abbau alleine, beispielsweise um den Geschäftsbetrieb wiederaufzunehmen, reicht für diesen schweren Vorwurf nicht aus.
Gerichte prüfen strikt den sogenannten subjektiven Tatbestand der Beweisvereitelung. Der Arbeitnehmer muss beweisen, dass der Arbeitgeber die Demontage des Regals mit dem klaren Ziel veranlasste, die polizeilichen oder richterlichen Ermittlungen zu behindern. Wenn kein solcher Vorsatz nachweisbar ist, bleibt die gesamte Darlegungslast beim verletzten Arbeitnehmer. Die Gerichte sehen die Beweisvereitelung nicht als einen Freifahrtschein, der die eigene Pflicht zur Beweisführung ersetzt.
Selbst wenn das Originalregal sofort entfernt wurde, schwächt das Vorhandensein von Ersatzbeweisen den Vereitelungsvorwurf stark ab. Konkret konnte der Arbeitgeber den Behörden ein baugleiches Regal zur Demonstration vorführen, was gegen eine gezielte Behinderungsabsicht sprach. Zudem muss der Kläger detailliert benennen, welche unwiederbringlich entscheidenden Erkenntnisse am Original-Regal zu gewinnen gewesen wären. Die bloße Möglichkeit anderer Feststellungen genügt dem Gericht nicht, um die strengen Regeln der Beweislast umzukehren.
Erstellen Sie umgehend eine detaillierte Skizze der ursprünglichen Unfallsituation und sichern Sie die Zeugenaussagen aller Personen, die das Originalregal vor dem Abbau gesehen haben.
Gilt der Haftungsausschluss auch für materielle Schäden, die nicht von der Berufsgenossenschaft gedeckt werden?
Ja, der gesetzliche Haftungsausschluss schützt den Arbeitgeber auch vor Ansprüchen auf Ersatz materieller Folgeschäden. Nach § 104 Abs. 1 SGB VII erfasst diese Freistellung pauschal alle Vermögensschäden, die direkt aus der schweren Körperverletzung resultieren. Die juristische Konsequenz ist, dass eventuelle Deckungslücken der gesetzlichen Unfallversicherung die grundsätzliche Freistellung des Arbeitgebers nicht aufheben.
Dieses Prinzip basiert auf der gefestigten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Die höchste deutsche Rechtsprechung hat die Verfassungsmäßigkeit des Sozialversicherungssystems mehrfach bestätigt. Der Gesetzgeber nimmt bewusst in Kauf, dass die gesetzliche Unfallversicherung (Berufsgenossenschaft) nicht jede einzelne Kostenposition im Einzelfall vollumfänglich abdeckt. Die Berufsgenossenschaft bleibt daher der alleinige Ansprechpartner für die Kostenregulierung, solange dem Arbeitgeber kein doppelter Vorsatz nachgewiesen werden kann.
Kosten für lebensnotwendige behindertengerechte Umbauten von Wohnung oder Fahrzeugen fallen typischerweise unter solche Vermögensschäden. Fehlt hier eine vollständige Deckung durch die BG, können Sie diese Differenz nicht direkt vom Arbeitgeber einfordern. Die Regelung dient der Wahrung des sogenannten Betriebsfriedens, indem sie langwierige und teure Zivilprozesse gegen den Arbeitgeber verhindert.
Kontaktieren Sie sofort einen auf Sozialrecht spezialisierten Anwalt, um die maximale Ausschöpfung aller möglichen Leistungen der Berufsgenossenschaft und weiterer Sozialträger sicherzustellen.
Hinweis: Bitte beachten Sie, dass die Beantwortung der FAQ Fragen keine individuelle Rechtsberatung darstellt und ersetzen kann. Alle Angaben im gesamten Artikel sind ohne Gewähr. Haben Sie einen ähnlichen Fall und konkrete Fragen oder Anliegen? Zögern Sie nicht, uns zu kontaktieren. Wir klären Ihre individuelle Situation und die aktuelle Rechtslage.
Glossar – Fachbegriffe kurz erklärt
Beweisvereitelung
Beweisvereitelung liegt vor, wenn eine Prozesspartei Beweismittel beseitigt oder unbrauchbar macht, um die Aufklärung eines Sachverhalts vor Gericht gezielt zu verhindern. Gerichte können in bestimmten Fällen eine Beweisvereitelung mit einer Umkehr der Beweislast sanktionieren, um zu verhindern, dass Parteien vorsätzlich die Wahrheitsfindung manipulieren.
Beispiel: Der schnelle Abbau des Schwerlastregals durch den Arbeitgeber führte laut Gericht nicht zur Umkehr der Beweislast, da die erforderliche Absicht zur Verhinderung der Aufklärung nicht nachgewiesen werden konnte.
Darlegungslast
Die Darlegungslast beschreibt die prozessuale Pflicht einer Partei, alle Tatsachen, die ihren Anspruch begründen, detailliert und konkret vor Gericht vorzutragen. Wer von einem anderen etwas fordert, muss die tatsächlichen Grundlagen dafür liefern; das Gesetz stellt so sicher, dass Gerichte Entscheidungen nicht auf bloße Vermutungen, sondern auf nachprüfbare Fakten stützen.
Beispiel: Der Kläger erfüllte seine Darlegungslast nicht, als er pauschal behauptete, die vom Arbeitgeber bereitgestellten Sicherheitsmittel seien ungeeignet gewesen, anstatt die technischen Mängel genau zu beschreiben.
Doppelter Vorsatz
Juristen nennen den doppelten Vorsatz die extrem hohe Anforderung, nach der ein Arbeitgeber nicht nur die gefährliche Handlung, sondern auch den konkreten, schweren Verletzungserfolg des Mitarbeiters gewollt oder zumindest billigend in Kauf genommen haben muss. Diese außergewöhnlich hohe Beweishürde dient dazu, den Arbeitgeber vor persönlicher Haftung zu schützen und damit das gesamte System der gesetzlichen Unfallversicherung aufrechtzuerhalten.
Beispiel: Das Landesarbeitsgericht lehnte die Forderung des verletzten Mitarbeiters ab, weil er keinen doppelten Vorsatz des Chefs beweisen konnte, der das Unglück und die daraus resultierende Querschnittslähmung innerlich gebilligt hätte.
Haftungsausschluss
Der gesetzliche Haftungsausschluss regelt in § 104 SGB VII, dass Arbeitgeber bei einem Arbeitsunfall in der Regel von der persönlichen zivilrechtlichen Verantwortung für Personen- und Vermögensschäden freigestellt sind. Dieses Prinzip des Sozialversicherungsrechts ist der zentrale Tausch: Arbeitnehmer erhalten schnelle und schuldunabhängige Hilfe durch die Berufsgenossenschaft, im Gegenzug verzichten sie auf die Geltendmachung von Schmerzensgeld gegen den Arbeitgeber.
Beispiel: Aufgrund des gesetzlichen Haftungsausschlusses konnte der Arbeitgeber nicht für die Kosten des behindertengerechten Umbaus haftbar gemacht werden, da die Unfallversicherung für diese Schäden zuständig ist.
SGB VII (Siebtes Buch Sozialgesetzbuch)
Das SGB VII bildet die rechtliche Grundlage für die gesetzliche Unfallversicherung, die alle Arbeitnehmer bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten absichert. Dieses Sozialgesetzbuch implementiert den umfassenden Schutz des Arbeitnehmers und regelt die Leistungen der Berufsgenossenschaften sowie den grundlegenden Haftungsausschluss des Arbeitgebers in § 104.
Beispiel: Die im SGB VII verankerte Systematik sorgte dafür, dass der verletzte Mitarbeiter seine existenzsichernden Leistungen von der Berufsgenossenschaft erhielt, unabhängig davon, ob dem Arbeitgeber Fahrlässigkeit vorgeworfen werden konnte.
Das vorliegende Urteil
Thüringer Landesarbeitsgericht – Az.: 1 Sa 1/25 – Urteil vom 24.06.2025
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Ich bin Dr. Christian Gerd Kotz, Rechtsanwalt und Notar in Kreuztal. Als Fachanwalt für Verkehrs- und Versicherungsrecht vertrete ich Mandant*innen bundesweit. Besondere Leidenschaft gilt dem Sozialrecht: Dort analysiere ich aktuelle Urteile und erkläre praxisnah, wie Betroffene ihre Ansprüche durchsetzen können. Seit 2003 leite ich die Kanzlei Kotz und engagiere mich in mehreren Arbeitsgemeinschaften des Deutschen Anwaltvereins.


