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Kranken- und Pflegeversicherung – Erlass rückständiger Beiträge

SG Gießen – Az.: S 9 KR 156/15 – Urteil vom 26.10.2016

1. Der Bescheid vom 25.11.2013 und der Widerspruchsbescheid vom 25.02.2015 werden aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, die Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung nebst Säumniszuschlägen für den Zeitraum vom 02.09.2010 bis 31.08.2012 zu erlassen.

2. Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.

Tatbestand

Im Streit steht der Erlass von rückständigen Beiträgen zur Kranken- und Pflegeversicherung.

Die 1990 geborene Klägerin war bis 01.09.2010 aufgrund des Bezuges von Arbeitslosengeld bei der Beklagten pflichtversichert. Im Anschluss war die Klägerin nicht kranken- und pflegeversichert. In der Zeit vom 08.03.2011 bis 10.05.2012 wurden für die Klägerin diverse ambulante Behandlungen durch unterschiedliche Vertragsärzte bei der Beklagten abgerechnet.

Anfragen zu dem Versicherungsschutz beantwortete die Klägerin nicht und die Beklagte stellte mit Bescheid vom 27.09.2012 fest, dass die Versicherung der Klägerin ab 02.09.2010 bei der Beklagten fortgesetzt werde, da davon ausgegangen würde, dass keine anderweitige Absicherung im Krankheitsfall bestehe. Da die Klägerin keine Angaben gemacht hatte, setzte die Beklagte den Höchstbeitrag fest und berechnete die Beiträge seit September 2010 bis August 2012 in Höhe von 15.079,97 EUR nach. Nachdem die Klägerin Einkommensnachweise vorgelegt hatte, reduzierte die Beklagte die nachzuzahlenden Beiträge auf 8.493,43 EUR.

Mit Schreiben vom 02.10.2013 beantragte die Klägerin den Erlass der Beiträge aufgrund des Gesetzes zur Beseitigung sozialer Überforderung bei Beitragsschulden. Den Antrag der Klägerin lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 25.11.2013 ab. Ein Erlass der Beiträge sei nicht möglich, da die Klägerin im erstattungsfähigen Zeitraum Leistungen in Anspruch genommen habe. Die Beklagte reduzierte aber die Höhe der Säumniszuschläge, so dass ein Betrag von 7.354,66 EUR offen war.

Hiergegen erhob die Klägerin mit Schreiben vom 27.11.2013 Widerspruch und machte geltend, die Beiträge seien nach dem Gesetz zur Beseitigung sozialer Überforderung bei Beitragsschulden in der Krankenversicherung zu erlassen. Sie sei nachrangig in der Familienversicherung versichert gewesen. Den Widerspruch der Klägerin wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 25.02.2015 zurück. Zur Begründung führte die Beklagte u. a. aus, ab 02.10.2010 habe kein anderweitiger Anspruch auf Absicherung im Krankheitsfall bestanden, so dass die Pflichtversicherung nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V ab dem 02.09.2010 durchzuführen gewesen sei. Eine anderweitige Absicherung im Krankheitsfall sei erst ab dem 01.05.2013 nachgewiesen, so dass die Pflichtversicherung am 30.04.2013 ende. Ein Erlass der Beiträge scheide aus. Gemäß § 256a Abs. 4 SGB V habe der Spitzenverband Bund der Krankenkassen (GKV-Spitzenverband) das Nähere zur Ermäßigung und zum Erlass von Beiträgen und Säumniszuschlägen in den nach den Absätzen 1 bis 3 des § 256a SGB V zu regeln, insbesondere zu einem Verzicht auf Inanspruchnahme von Leistungen als Voraussetzung für die Ermäßigung oder den Erlass. Ein Beitragserlass sei nur möglich, wenn im Nacherhebungszeitraum keine Leistungen in Anspruch genommen wurden bzw. im Falle bereits in Anspruch genommener Leistungen auf eine Kostenübernahme oder Kostenerstattung verzichtet werde. Die Inanspruchnahme von Leistungen im Nacherhebungszeitraum durch das Mitglied schließe den Erlass vollständig aus, und zwar unabhängig davon, in welchem Zeitpunkt innerhalb des Nacherhebungszeitraums und in welchem Umfang Leistungen beansprucht worden seien. Die Klägerin habe im Nacherhebungszeitraum Leistungen in Form von ambulanter ärztlicher Behandlung bei unterschiedlichen Vertragsärzten in der Zeit vom 08.03.2011 bis 10.05.2012 in Anspruch genommen. Ein Beitragserlass scheide daher aus.

Mit der am 17.03.2015 beim Sozialgericht Gießen eingegangenen Klage begehrt die Klägerin den Erlass der Beiträge. Die Klägerin vertritt die Ansicht, die Beiträge seien zu erlassen, auch wenn Leistungen aus der Krankenversicherung in Anspruch genommen worden seien. Der § 256a Abs. 4 Satz 1 SGB V sei keine gesetzliche Ermächtigungsgrundlage für den Spitzenverband der Krankenkassen einen Erlass bei Inanspruchnahme von Leistungen auszuschließen.

Die Klägerin beantragt, den Bescheid vom 25.11.2013 und den Widerspruchsbescheid vom 25.02.2015 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung mit Säumniszuschlägen für die Zeit vom 02.09.2010 bis 31.08.2012 zu erlassen.

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Zur Begründung bezieht sich die Beklagte im Wesentlichen auf die Ausführungen im Widerspruchsbescheid.

Wegen der weiteren Einzelheiten, auch im Vorbringen der Parteien, wird auf die Gerichts- und die Beklagtenakte Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist auch begründet. Die Beklagte hat der Klägerin die Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung im Nacherhebungszeitraum vom 02.09.2010 bis 31.08.2012 zu erlassen.

Gemäß § 256a SGB V soll die Krankenkasse bei Versicherten, die das Vorliegen der Voraussetzung der Versicherungspflicht nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 erst nach einem der in § 186 Abs. 11 Satz 1 und 2 genannten Zeitpunkte bis zum 31.12.2013 anzeigen, den für die Zeit nach Eintritt der Versicherungspflicht nachzuzahlenden Beitrag und die darauf entfallenden Säumniszuschläge nach § 24 des Vierten Buches erlassen. Der Spitzenverband Bund der Krankenkassen regelt das Nähere zur Ermäßigung und zum Erlass von Beiträgen und Säumniszuschlägen, insbesondere zu einem Verzicht auf die Inanspruchnahme von Leistungen als Voraussetzung für die Ermäßigung oder den Erlass (§ 256a Abs. 4 Satz 1 SGB V). Die Klägerin war vom 02.09.2010 bis 31.08.2012 bei der Beklagten gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V kraft Gesetzes pflichtversichert, da sie über keinen anderweitigen Krankenversicherungsschutz verfügte. Die Beklagte hat die Klägerin im August 2012 wegen der Versicherungspflicht angeschrieben, da zu diesem Zeitpunkt festgestellt wurde, dass die Klägerin Leistungen in Anspruch genommen hatte. Der Nacherhebungszeitraum endet deshalb zu diesem Zeitpunkt.

Die Klägerin hat zwar die Voraussetzungen der Versicherungspflicht nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 nicht angezeigt. Eine tatsächlich erfolgte Inanspruchnahme von Leistungen steht aber einer Meldung als Versicherter zumindest nahe. Die Beklagte hat auch dann Prüfungen zum Versicherungsverhältnis eingeleitet aber erst im Juli 2012 und nicht bereits zum Zeitpunkt der erstmaligen Inanspruchnahme von Leistungen. § 256a SGB V ist erst am 01.08.2013 in Kraft getreten. Die Vorschrift gilt jedoch auch für bis zum 31.07.2013 erfolgte Anzeigen der Versicherungspflicht nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 für noch ausstehende Beiträge und Säumniszuschläge entsprechend (§ 256a Abs. 2 Satz 2 SGB V).

In § 256a Abs. 4 Satz 1 SGB V hat der Gesetzgeber den Spitzenverband Bund der Krankenkassen ermächtigt, Näheres zum Erlass von Beiträgen und Säumniszuschlägen zu regeln, insbesondere einen Verzicht auf die Inanspruchnahme von Leistungen als Voraussetzung für den Erlass.

Entsprechend der gesetzlichen Vorgaben hat der GKV-Spitzenverband in den einheitlichen Grundsätzen zur Beseitigung finanzieller Überforderung bei Beitragsschulden vom 04.09.2013 die Voraussetzungen für den Erlass von Beiträgen und Säumniszuschlägen geregelt. Gemäß § 2 Einheitliche Grundsätze zur Beseitigung finanzieller Überforderung bei Beitragsschulden setzt der Erlass der Beiträge voraus, dass das Mitglied schriftlich erklärt, während des Nacherhebungszeitraums Leistungen für sich nicht in Anspruch genommen zu haben oder im Falle in Anspruch genommener Leistungen auf eine Kostenübernahme oder Kostenerstattung zu verzichten. § 2 Einheitliche Grundsätze zur Beseitigung finanzieller Überforderung bei Beitragsschulden regelt aber gerade nicht den Erlass bei tatsächlicher Inanspruchnahme von Leistungen, die bei der Kasse bereits abgerechnet worden sind. Eine Kostenübernahme oder Kostenerstattung, auf die der Versicherte verzichten kann, setzt voraus, dass der Versicherte entweder Rechnungen bezahlt hat, die er jetzt erstattet haben möchte oder noch offene Behandlungsrechnungen bezahlt werden sollen. Ein Verzicht setzt voraus, dass noch Forderungen offen sind und Ansprüche bestehen (vgl. Felix in: juris PK – SGB V, 2. Auflage 2012, Rn. 23 zu § 256a SGB V). Unter Kostenerstattung ist zu verstehen, dass der Versicherte die von ihm bezahlte Rechnung bei der Kasse einreicht, um den Betrag von der Krankenkasse zu erhalten. Bei einer Kostenübernahme ist die Rechnung noch offen oder es steht eine Behandlung unmittelbar bevor, für die die Beklagte die Kosten übernehmen soll. Dies ist bei der bereits erfolgten Inanspruchnahme und Abrechnung der Leistung der Krankenkasse nicht möglich.

In den Einheitlichen Grundsätzen findet sich keine Regelung für den Fall, dass Sachleistungen in der Vergangenheit in Anspruch genommen worden sind. Im Übrigen ist auch bereits zweifelhaft, ob der Spitzenverband Bund der Krankenkasse gemäß § 256a Abs. 4 SGB V zu einer entsprechenden Regelung überhaupt ermächtigt ist. Die Vorschrift enthält keine Ermächtigung bezüglich des Ausschlusses eines Erlasses, wenn Versicherte Leistungen bereits in Anspruch genommen haben, die abgerechnet worden sind.

Die Voraussetzungen für den Erlass der Beiträge liegen vor. Die Beklagte hat kein Ermessen bezüglich des Erlasses der Beiträge, denn nach § 2 Einheitliche Grundsätze sind die Beiträge zu erlassen.

Aus den vorgenannten Gründen war die Klage erfolgreich.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 SGG, die Zulässigkeit der Berufung aus § 143 SGG.

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