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Krankengeld – lückenlose Feststellung der Arbeitsunfähigkeit

Bayerisches Landessozialgericht – Az.: L 4 KR 14/20 – Urteil vom 25.11.2020

I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 6. Dezember 2019 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Klägerin in der Zeit vom 18.06.2018 bis 03.03.2019 ein Anspruch auf Krankengeld zusteht.

Die Klägerin und Berufungsklägerin war über ein Beschäftigungsverhältnis vom 15.02.2018 bis 08.06.2018 bei der Beklagten und Berufungsbeklagten pflichtversichert. Die weitere Mitgliedschaft wurde vom 09.06.2018 bis 17.06.2018 durch den Bezug von Krankengeld aufrechterhalten. Vom 18.06.2018 bis 31.08.2018 war die Klägerin über die Krankenversicherung der Rentner (KVdR) und vom 01.09.2018 bis 03.03.2019 über den Bezug von Arbeitslosengeld II bei der Beklagten versichert.

Am 11.05.2018 erlitt die Klägerin im Rahmen eines Arbeitsunfalls gemäß den Feststellungen des Durchgangsarztes eine Distorsion der linken Schulter. Sie war seit 14.05.2018 arbeitsunfähig erkrankt. Im Rahmen einer MRT-Untersuchung vom 15.05.2018 wurden eine Teilruptur der Supraspinatussehne sowie Verkalkungen und Arthrose im linken Schultergelenk diagnostiziert. Der Unfallversicherungsträger, die Berufsgenossenschaft (BG) Handel und Warenlogistik, stellte mit Bescheid vom 04.07.2018 fest, dass der Arbeitsunfall vom 11.05.2018 nur zu einer Distorsion der linken Schulter geführt hat. Ein Anspruch auf unfallbedingte Heilbehandlung wurde demgemäß bis 15.05.2018 anerkannt, ein Anspruch auf Verletztengeld und Verletztenrente abgelehnt.

Die Klägerin erhielt bis zum 08.06.2018 Entgeltfortzahlung, ab 09.06.2018 bezog sie Krankengeld. Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen lagen lückenlos bis 17.06.2018 vor. Der behandelnde Arzt Dr. A. S. stellte zuletzt eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung für die Zeit vom 05.06.2018 bis 17.06.2018 (Sonntag) aus. Die nächste Feststellung der Arbeitsunfähigkeit erfolgte durch den Chirurgen Sch. erst am Freitag, den 22.06.2018, bis 11.07.2018.

Mit Bescheid vom 16.07.2018 teilte die Beklagte der Klägerin mit, dass für die Arbeits-unfähigkeit ab 14.05.2018 der Anspruch auf Krankengeld mit dem 17.06.2018 weggefallen sei. Die Mitgliedschaft der Klägerin mit Krankengeldanspruch und der Anspruch der Klägerin auf Krankengeld hätten am 17.06.2018 geendet, da nach dem Ende des Beschäftigungsverhältnisses am 08.06.2018 nur bis zu diesem Zeitpunkt die Arbeitsunfähigkeit lückenlos nachgewiesen worden sei. Daraus folge, dass die erneut am 22.06.2018 festgestellte Arbeitsunfähigkeit wegen Fehlens einer entsprechenden Mitgliedschaft keinen erneuten Anspruch auf Krankengeld ausgelöst habe.

Im Widerspruchsverfahren legte die Klägerin einen Zwischenbericht der Kliniken G. – Krankenhaus W. vom 28.06.2018 vor; sie brachte hierzu vor, sie habe am 18.06.2018 beim Krankenhaus W. angerufen um einen Termin zu bekommen. Aufgrund der zu dem Zeitpunkt starken Auslastung der Notaufnahme W. sei der nächstliegende Termin laut Arzthelferin am 22.06.2018 gewesen – die Notaufnahme des Krankenhauses W. stelle gleichzeitig die Praxis des Arztes Sch. dar – Herr Sch. gehört gemäß Internetrecherche dem MVZ im Krankenhaus W. bzw. MVZ W. an. Die Arzthelferin, die diesen Termin vergeben habe, habe sich daran erinnert, da sie selbst am 18.06.2018 den Termin am 22.06.2018 eingetragen hatte. Diese Aussage habe sie gegenüber ihrem Lebensgefährten in der 28. Kalenderwoche gemacht, der dies selbstverständlich unter Eid auch bestätigen könne und werde.

Zusätzlich habe der behandelnde Arzt die Arbeitsunfähigkeit schriftlich bestätigt und, dass es sich um die gleiche Verletzung vom 11.05.2018 handelt (ärztliche Bescheinigung des Hr. Sch. vom 13.07.2018). Diese Lücke hätte auch die Arztpraxis bemerken müssen, da es sich zum einen um Fachleute handele, was Krankmeldungen betreffe, und zum anderen die Klägerin schon seit dem 11.05.2018 dort wegen ein- und derselben Verletzung behandelt worden sei.

Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 04.09.2018 zurück. Die Klägerin hätte die weitere Arbeitsunfähigkeit spätestens am Montag, den 18.06.2018, feststellen lassen müssen. Dies sei nicht geschehen. Die weitere Arbeitsunfähigkeit sei erst am 22.06.2018 festgestellt worden. Es sei der Klägerin durchaus möglich gewesen, eine weitere Arbeitsunfähigkeit am 18.06.2018 attestieren zu lassen. In einer Notaufnahme würden keine Versicherten abgewiesen. Wartezeiten, um eine weitere Attestierung der Arbeitsunfähigkeit zu erhalten, seien durchaus zuzumuten. Es könne nicht davon ausgegangen werden, dass die Klägerin alles in ihrer Macht Stehende getan habe, um die ärztliche Feststellung zu erhalten.

Die Klägerin hat durch ihre Prozessbevollmächtigte Klage zum Sozialgericht Landshut erhoben. Sie hat sich auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) bezogen (BSG, Urt. vom 11.05.2017, Az: B 3 KR 22/15 R). Die Klägerin habe im Anschluss an die bis zum 17.06.2018 festgestellte Arbeitsunfähigkeit am 18.06.2018 bei ihrem seit dem Arbeitsunfall in Behandlung stehenden Arzt A. S. angerufen und habe einen Untersuchungstermin und das Ausstellen einer weiteren Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erreichen wollen. Dass die Klägerin kein „Ärzte-Hopping“ betreibe, sondern zu dem Arzt gehe, der ihr Beschwerdebild kenne und sie bereits im Vorfeld arbeitsunfähig geschrieben habe, sei nicht unbillig und könne der Klägerin nicht zum Vorwurf gemacht werden. Aufgrund Überlastung habe der Klägerin von der Sprechstundenhilfe erst für den 22.06.2018 ein Termin vergeben werden können. Diesen Umstand habe jedoch nicht die Klägerin zu vertreten. Die Klägerin habe alles in ihrem Verantwortungsbereich Mögliche getan, um nach Ablauf der AU-Feststellung bis zum nächsten Werktag eine erneute ärztliche Bescheinigung zu erhalten. Es könne der Klägerin nicht angelastet werden, dass in der Arztpraxis unbeachtet geblieben sei, dass eine Lücke in der Krankschreibung zum Verlust des Anspruchs auf Krankengeld führe.

Es liege daher ein Ausnahmefall vor, wonach die Arbeitsunfähigkeit auch noch im Nachhinein festgestellt und nachgeholt werden könne. Die Lücke werde daher durch die beiliegende ärztliche Bescheinigung vom 13.07.2018 von dem Chirurgen Sch. geschlossen. Dass der behandelnde Arzt die rückwirkende Arbeitsunfähigkeit nicht auf dem hierfür vorgesehenen Formular attestiert habe, sei irrelevant. Es reiche, dass die ärztliche Aussage der Arbeitsunfähigkeit für die Krankenkasse erkennbar sei. Dies sei hier der Fall. Es handele sich hierbei auch nicht um eine Gefälligkeitsbescheinigung, sondern um eine wirklichkeitsgetreuliche Feststellung der tatsächlichen gesundheitlichen Verhältnisse der Klägerin. Auch der weitere Beschwerdeverlauf der Klägerin mit Operation und Reha-Aufenthalt würden zeigen, dass die Klägerin tatsächlich arbeitsunfähig gewesen sei.

Auf gerichtliche Anfragen hat die Prozessbevollmächtigte der Klägerin mitgeteilt, dass streitgegenständlich der Zeitraum vom 18.06.2018 bis 03.03.2019 sei.

Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 06.12.2019 abgewiesen und auf die Entscheidungsgründe des Widerspruchsbescheides verwiesen. Es liege kein Sachverhalt vor, bei dem ein Krankengeldanspruch ausnahmsweise nicht an einer verspäteten ärztlichen Feststellung der Arbeitsunfähigkeit scheitere bzw. bei dem die Nachholung einer unterbliebenen ärztlichen Feststellung ausnahmsweise rückwirkend zuzulassen sei.

Die in der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) u.a. anerkannten Ausnahmefälle des Vorliegens einer Handlungs- oder Geschäftsunfähigkeit des Versicherten, des verspäteten Zugangs einer Meldung beruhend auf von der Krankenkasse zu vertretenden Organisationsmängeln, der Vornahme unzutreffender rechtlicher Bewertungen durch die Krankenkasse oder der objektiven Fehlbeurteilung eines an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Arztes oder des MDK lägen nicht vor und würden im Übrigen von der Klägerin auch nicht geltend gemacht.

Auch ein Ausnahmefall gemäß dem Urteil des BSG vom 11.05.2017 (Az.: B 3 KR 22/15 R) läge nicht vor. Anders als in dem vom BSG entschiedenen Fall habe die Klägerin nämlich gerade nicht rechtzeitig innerhalb der anspruchsbegründenden bzw. -erhaltenden Zeit, nämlich spätestens am 18.06.2018, einen Arzt persönlich aufgesucht und die Beschwerden geschildert. Vielmehr habe sie sich damit zufriedengegeben, ihre Beschwerden einer Sprechstundenhilfe bzw. Arzthelferin zu schildern. In der Entscheidung des BSG vom 11.05.2017 werde ausdrücklich auf die Notwendigkeit eines persönlichen Arzt-Patienten-Kontakts abgestellt. Da es sich ausdrücklich um die Fortentwicklung und Teilaufgabe der Rechtsprechung des BSG handele, sei davon auszugehen, dass der Kontakt mit der Arzthelferin nicht ausreichend sei. Eine Ausweitung auf die Auskunft einer Arzthelferin bzw. Sprechstundenhilfe lasse sich der Rechtsprechung nicht entnehmen.

Insgesamt liege daher vom 18.06.2018 bis 21.06.2018 eine anspruchsvernichtende Lücke bei der Feststellung der Arbeitsunfähigkeit vor, so dass die Klägerin keinen Anspruch gegen die Beklagte auf Gewährung von Krankengeld für die Zeit von 18.06.2018 bis 03.03.2019 habe.

Die Prozessbevollmächtigte der Klägerin hat gegen das am 09.12.2019 zugestellte Urteil am 09.01.2020 Berufung beim Bayer. Landessozialgericht erhoben. Die vom Sozialgericht zitierte Rechtsprechung des BSG sei sinngemäß auch auf andere Fälle zu übertragen. Die Klägerin sei telefonisch durch die Arzthelferin über die Auslastung informiert worden, so dass eine Anwesenheit keinen Sinn ergeben hätte. Die Gründe für die Auslastung lägen allein im Verantwortungsbereich des Krankenhauses bzw. der Praxis. Da der behandelnde Arzt sie seit Beginn der erlittenen Verletzung kenne, könne das Aufsuchen eines anderen Arztes ihr nicht als Obliegenheit abverlangt werden. Als nächster freier Termin sei der Klägerin der 22.06.2018 (Freitag) vergeben worden. Bei dem damals vorliegenden Beschwerdebild hätte sich die Notwendigkeit der durchgehenden Arbeitsunfähigkeit bzw. die Lückenlosigkeit auch der Arzthelferin beim Telefonat am 18.06.2018 aufdrängen müssen.

Ferner hat die Klägerin auf die erfolgte Gesetzesänderung des § 46 des Fünften Buchs Sozialgesetzbuch (SGB V) hingewiesen; der Gesetzgeber habe den Handlungsbedarf bei Lücken erkannt. Das vollständige und dauerhafte Entfallen des Krankengeldes bei verspäteter Feststellung stelle eine besondere Härte für den Versicherten dar.

Die Beklagte hat weiterhin die Ansicht vertreten, dass die Klägerin nicht alles in ihrer Macht Stehende und ihr Zumutbare im Sinne der Entscheidung des BSG vom 11.05.2017 gemacht habe, um ihren Krankengeldanspruch zu wahren. Es habe am 18.06.2018 kein persönlicher Kontakt mit einem Arzt stattgefunden. Kurzfristige Terminengpässe bei ärztlichen Behandlern fielen nicht in den Verantwortungsbereich der Krankenkasse. In einem solchen Fall müsse der Versicherte ggf. einen anderen Arzt aufsuchen oder zur Not den kassenärztlichen Notdienst in Anspruch nehmen.

Der Vorsitzende hat mit Schreiben vom 29.04.2020 auf die Entscheidung des BSG vom 26.03.2020 (Az.: B 3 KR 10/19 R – juris) hingewiesen.

Nach Ansicht der Beklagten hat jener Entscheidung ein anderer Sachverhalt zugrunde gelegen. Vorliegend sei kein Termin verschoben, sondern lediglich verspätet gewährt worden. Entgegen dem dortigen Sachverhalt sei hier der Versicherten ein Verschulden anzulasten. Das Urteil des BSG sei somit nicht geeignet, eine Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts zu rechtfertigen. Die Klägerin habe nicht alles in ihrer Macht Stehende getan, um eine zeitgerechte AU-Feststellung zu erhalten. Sie habe erstmals am 18.06.2018 telefonisch versucht, für diesen Tag einen Termin zu erhalten. Mithin habe sie nicht für einen rechtzeitigen Termin Sorge getragen. Sie habe sich nicht darauf verlassen können, dass sie am 18.06.2018 ohne vorherige Terminvereinbarung beim Arzt vorsprechen könne. Kurzfristige Terminengpässe bei ärztlichen Behandlungen könnten nicht in den Verantwortungsbereich der Krankenkasse fallen.

Die Klägerin hat auf die grundsätzliche Fortentwicklung der Rechtsprechung des BSG durch das o.g. Urteil verwiesen. Ein „Arzt-Hopping“ könne grundsätzlich nicht verlangt werden.

Der Senat hat ferner auf die Entscheidungen des BSG vom 29.10.2020 bzw. die hierzu ergangenen Pressemitteilungen des BSG hingewiesen.

Die Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) mit Schriftsatz vom 20. bzw. 27.10.2020 zugestimmt.

Die Klägerin beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 06.12.2019 sowie den Bescheid der Beklagten vom 16.07.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.09.2018 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr über den 17.06.2018 hinaus bis 03.03.2019 Krankengeld zu zahlen.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der beigezogenen Akte der Beklagten, der Unfallakte der Berufsgenossenschaft Handel und Warenlogistik sowie der Klage- und Berufungsakte verwiesen.

Entscheidungsgründe

Die form- und fristgerecht (§§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz – SGG) eingelegte Berufung der Klägerin ist zulässig, jedoch unbegründet.

Aufgrund des Einverständnisses der Beteiligten vom 20. bzw. 27.10.2020 konnte der Senat ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 SGG entscheiden.

Zutreffend hat das Sozialgericht unter Bezugnahme auf den streitgegenständlichen Widerspruchsbescheid ausgeführt, dass es vorliegend an einer lückenlosen Feststellung der Arbeitsunfähigkeit im Sinne von § 46 Satz 1 Nr. 2 des Fünften Buchs Sozialgesetzbuch (SGB V) fehlt. Die Beschäftigung der Klägerin und damit auch die Pflichtmitgliedschaft bei der Beklagten gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 1 SGB V endete am 08.06.2018. Im Anschluss blieb die Mitgliedschaft mit Anspruch auf Krankengeld gemäß § 192 Abs. 1 Nr. 2 SGB V nur erhalten, solange die Klägerin Anspruch auf Krankengeld hatte. Nach § 46 S. 2 SGB V bleibt der Anspruch auf Krankengeld jeweils bis zu dem Tag bestehen, an dem die weitere Arbeitsunfähigkeit wegen derselben Krankheit ärztlich festgestellt wird, wenn diese ärztliche Feststellung spätestens am nächsten Werktag nach dem zuletzt bescheinigten Ende der Arbeitsunfähigkeit erfolgt, wobei Samstage insoweit nicht als Werktage gelten.

Bei der Klägerin lag eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, ausgestellt durch den behandelnden Arzt Sch., bis 17.06.2018 (Sonntag) vor. Damit hätte spätestens am 18.06.2018 (Montag) eine Folgebescheinigung ausgestellt werden müssen, um den Anspruch auf Krankengeld zu erhalten. Dies geschah jedoch unstreitig erst am Freitag, den 22.06.2018.

Der mit Gesetz vom 06.05.2019 (BGBl I S. 646) eingefügte Satz 3 des § 46 SGB V ist erst zum 11.05.2019 in Kraft getreten. Eine rückwirkende Anwendung ist nicht vorgesehen und kommt nicht in Betracht.

Das Sozialgericht hat sich in seinen Entscheidungsgründen insbesondere auch mit der Fortentwicklung der durch die Rechtsprechung entwickelten Ausnahmen zu § 46 S. 2 SGB V durch das Urteil des BSG vom 11.05.2017 (BSG, a.a.O.) befasst. Unter der Voraussetzung, dass keine Zweifel an der ärztlich festgestellten Arbeitsunfähigkeit im maßgeblichen Zeitraum vorliegen und keinerlei Anhaltspunkte für einen Leistungsmissbrauch ersichtlich sind, hat danach der Versicherte Anspruch auf Krankengeld, wenn er

1. alles in seiner Macht Stehende und ihm Zumutbare getan hat, um seine Ansprüche zu wahren, indem er einen zur Diagnostik und Behandlung befugten Arzt persönlich aufgesucht und ihm seine Beschwerden geschildert hat, um

a) die ärztliche Feststellung der Arbeitsunfähigkeit als Voraussetzung des Anspruchs auf Krankengeld zu erreichen, und

b) dies rechtzeitig innerhalb der anspruchsbegründenden bzw. anspruchserhaltenden zeitlichen Grenzen für den Krankengeldanspruch erfolgt ist,

2. der Versicherte an der Wahrung der Ansprüche durch eine (auch nichtmedizinische) Fehlentscheidung des Vertragsarztes gehindert wurde (wie durch eine irrtümlich nicht zeitgerecht erstellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung),

3. und der Versicherte zusätzlich seine Rechte bei der Krankenkasse unverzüglich, spätestens innerhalb der zeitlichen Grenzen des § 49 Abs.1 Nr.5 SGB V nach Erlangung der Kenntnis von dem Fehler geltend macht.

Damit wurden die bisher schon in der Rechtsprechung des BSG anerkannten engen Ausnahmefälle, in denen die ärztliche Feststellung oder die Meldung der Arbeitsunfähigkeit durch Umstände verhindert oder verzögert worden ist, die dem Verantwortungsbereich der Krankenkassen und nicht dem Versicherten zuzurechnen sind, erweitert (vgl. BSG, a.a.O.).

Allgemein wurde hieraus abgeleitet, dass ein Arztkontakt stattgefunden haben muss. Dieser erfolgte vorliegend durch die Klägerin spätestens am 18.06.2018 nicht, vielmehr fand an diesem Tag nur ein telefonischer Kontakt mit der Arzthelferin bzw. Sprechstundenhilfe statt. Der am 22.06.2018 erfolgte Arzt-Patienten-Kontakt war damit nach den in dem Urteil aufgestellten Kriterien verspätet.

Mit Urteilen vom 26.03.2020 (Az.: B 3 KR 9/19 R und B 3 KR 10/19 R) hat das BSG seine Rechtsprechung weiter „fortentwickelt“. Danach steht einem rechtzeitig erfolgten Arzt-Patienten-Kontakt gleich, wenn der Versicherte alles in seiner Macht Stehende und ihm Zumutbare getan hat und rechtzeitig innerhalb der anspruchsbegründenden bzw. anspruchserhaltenden zeitlichen Grenzen versucht hat, eine ärztliche Feststellung der Arbeitsunfähigkeit als Voraussetzung des Anspruchs auf Krankengeld zu erhalten, es dazu aber aus dem Arzt und der Krankenkasse zurechenbaren Gründen erst verspätet gekommen ist. Dies ist nach dieser Rechtsprechung in Fällen anzunehmen, in denen die Gründe für das nicht rechtzeitige Zustandekommen in der Sphäre des Vertragsarztes und nicht in derjenigen des Versicherten liegen. Dies sei bei einer auf Wunsch des Arztes bzw. seines Praxispersonals erfolgten Verschiebung des vereinbarten rechtzeitigen Termins zu bejahen, wenn dies in der (naheliegenden) Vorstellung erfolgt sei, ein späterer Termin sei für den Versicherten unschädlich. Hierfür spreche, dass die Mitwirkungspflichten des Versicherten auf das in seiner Macht Stehende und ihm Zumutbare beschränkt seien und ein „Arzt-Hopping“ grundsätzlich nicht verlangt werden könne und generalpräventiven Erwägungen der Missbrauchsabwehr vor allem in Fällen, in denen die weitere Arbeitsunfähigkeit zweifelsfrei feststehe, kein solches Gewicht zukomme, dass sie diese Schutzaspekte überlagern und verdrängen könnten. In diesem Sinne dürften sich Krankenkassen nicht darauf berufen, dass ein Arzt-Patienten-Kontakt nicht rechtzeitig zustande gekommen sei, wenn dies auf Gründen beruht, die in der Sphäre des Vertragsarztes (und nicht des Versicherten) liegen, und die auch den Krankenkassen zuzurechnen sind.

Vorliegend hat die Beklagte zu Recht darauf hingewiesen, dass der zugrunde liegende Sachverhalt nicht identisch mit dem des BSG mit Urteilen vom 26.03.2020 entschiedenen ist. Dort hatte der Versicherte sich bereits einen Termin gesichert gehabt, der zur lückenlosen Fortsetzung der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung geführt hätte. Dieser wurde von der Arztpraxis verlegt aus Gründen, die aus der Sphäre des Vertragsarztes kamen.

Hier jedoch hat sich die Klägerin erstmalig am ersten Werktag nach dem Ende der bescheinigten Arbeitsunfähigkeit, also am 18.06.2018, um einen Arzttermin bemüht. Ein Arztkontakt erfolgte erst am 22.06.2018; besondere Gründe sind hierfür nicht ersichtlich oder vorgetragen, insbesondere lag keine Handlungs- oder Geschäftsunfähigkeit der Klägerin vor.

Grundsätzlich hätte sich die Klägerin also auch schon früher um einen Arzttermin kümmern können und müssen. Insoweit hat die Klägerin tatsächlich nicht alles in ihrer Macht Stehende und ihr Zumutbare getan, um eine Folgearbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu erlangen. Anders als in den vom BSG am 26.03.2020 entschiedenen Fällen ist vorliegend nicht ersichtlich, dass der nicht rechtzeitige Arzt-Patienten-Kontakt hier auf Gründen beruht, die in der Sphäre des Vertragsarztes und nicht in der der Versicherten liegt und daher der Beklagten zuzurechnen ist. Es ist nämlich allgemein nicht unwahrscheinlich, ohne jeglichen Vorlauf nicht sofort für denselben Tag einen Termin für eine Vorsprache beim Arzt zu erhalten.

Für die Klägerin spricht lediglich, dass grundsätzlich ein „Arzt-Hopping“ nicht verlangt werden kann. Dies gilt vorliegend gerade auch vor dem Hintergrund, dass die Klägerin nach dem Arbeitsunfall vom 11.05.2018 stets von dem Chirurgen Sch. in seiner Praxis im Krankenhaus W. behandelt wurde.

Dennoch kommen bei der hier gegebenen Fallkonstellation die Gesichtspunkte, die das BSG in den Urteilen vom 26.03.2020 zugunsten der Versicherten aufstellte, nicht zum Zuge.

Gemäß den vorliegenden Pressemitteilungen des BSG hat das Gericht mit Urteilen vom 29.10.2020 (B 3 KR 5/20 R; B 3 KR 6/20 R) an dieser Rechtsprechung vom 26.03.2020 ausdrücklich festgehalten und festgestellt, dass die zu entscheidenden Fälle an dieser Rechtsprechung im Sinne der Konkretisierung der Ausnahmen zu dem Erfordernis einer lückenlosen ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsfeststellung zu messen sind. Es verbleibt also bei dem dort aufgestellten Grundsatz, dass der Versicherte alles in seiner Macht Stehende und ihm Zumutbare getan haben muss, um eine rechtzeitige ärztliche Feststellung der Arbeitsunfähigkeit zu erhalten, und es zum persönlichen Arzt-Patienten-Kontakt aus dem Vertragsarzt und der Krankenkasse zurechenbaren Gründen erst verspätet, aber nach Wegfall dieser Gründe gekommen ist.

Wie dargelegt war der Klägerin bekannt, dass ihr behandelnder Arzt in die Notfallversorgung des Krankenhauses eingebunden war. Dennoch bemühte sie sich erstmals am ersten Werktag nach dem Ende der bescheinigten Arbeitsunfähigkeit am 18.06.2018 um einen Termin zur ärztlichen Feststellung der weiteren Arbeitsunfähigkeit. Dies geschah lediglich durch einen Anruf in der Praxis; sie hat die Praxis bzw. das MVZ im Krankenhaus W. nicht aufgesucht. Dass die Arztpraxis aufgrund der Auslastung in der Praxis und dem Krankenhaus erst einen Termin am 22.06.2018 anbieten konnte, stellt keinen Grund im Sinne der vom BSG konkretisierten Ausnahmen vom Erfordernis einer lückenlosen ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsfeststellung dar. Es handelt sich nämlich nicht um einen Grund, der dem Vertragsarzt und der Krankenkasse zuzurechnen ist. Dabei liegt die terminliche Planung in der Organisation der Praxis zwar in der Sphäre des Vertragsarztes, jedoch ist bei der Terminabsprache eine Einigung auf einen passenden Termin auf beiden Seiten – Arztpraxis und Patient – notwendig. Vor diesem Hintergrund hat es die Klägerin im Hinblick auf das Gebot, alles in ihrer Macht Stehende und ihr Zumutbare zu tun, unterlassen, sich rechtzeitig um einen Arzttermin zu kümmern. Hier liegt gerade der wesentliche Unterschied zu dem vom BSG am 26.03.2020 entschiedenen Verfahren. Das Risiko, bei einem bestimmten Vertragsarzt nicht umgehend einen gewünschten Termin zu erhalten, liegt im Risikobereich des Patienten bzw. der Klägerin, zumal, wie dargelegt, hier eine besondere Praxissituation im Krankenhaus gegeben war. Von der Klägerin hätte daher verlangt werden können, sich entweder rechtzeitig um einen Arzttermin zu bemühen oder das MVZ im Krankenhaus W., in dem also auch mindestens ein weiterer Arzt/eine weitere Ärztin tätig ist, oder gegebenenfalls einen anderen Arzt aufzusuchen.

Vorliegend hat die Klägerin somit nicht alles in ihrer Macht Stehende und ihr Zumutbare getan, um eine Folgebescheinigung für das Vorliegen von Arbeitsunfähigkeit am 18.06.2018 zu erhalten.

Die Berufung war daher zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG), liegen nicht vor. Insbesondere schließt sich der Senat der aktuellen Rechtsprechung des BSG gemäß den genannten Entscheidungen an.

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