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Krankengeldanspruch – Ruhen bei nicht rechtzeitiger Meldung der Arbeitsunfähigkeit

SG Münster – Az.: S 25 KR 176/21 – Urteil vom 30.06.2021

Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin auch für den Zeitraum vom 16.05.2020 bis zum 24.05.2020 Krankengeld zu zahlen.

Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin.

Tatbestand

Die Klägerin begehrt von der Beklagten die Auszahlung von Krankengeld für die Zeit vom 16.05.2020 bis zum 24.05.2020.

Die 1970 geborene Klägerin ist bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert. Im Jahr 2006 erkrankte sie an Multipler Sklerose und ist seit längerer Zeit auf einen Rollstuhl angewiesen. Am 11.03.2020 erkrankte die Klägerin arbeitsunfähig und erhielt bis zum 21.04.2020 Entgeltfortzahlung von ihrem Arbeitgeber. Am 29.04.2020 teilte die Beklagte der Klägerin mit, dass diese ab dem 22.04.2020 Krankengeld in Höhe von 48,89 EUR (brutto) pro Kalendertag erhalte. Zudem fand sich unter der Überschrift „Wichtige Hinweise zum Krankengeld“ unter anderem der Hinweis, dass Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen binnen sieben Tagen bei der Beklagten eingehen müssen.

Der behandelnde Neurologe Dr. G. stellte für die Klägerin am 17.04.2020 eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung bis zum 15.05.2020 aus. Dies teilte die Klägerin der Beklagten am 21.04.2020 telefonisch mit. Die zusätzlich postalisch übersandte Bescheinigung ging bei der Beklagten am 28.04.2020 ein. Am 15.05.2020 attestierte Dr. G. der Klägerin weitere Arbeitsunfähigkeit bis zum 05.06.2020. Diese Bescheinigung bereite die Klägerin am 18.05.2020 für den Postversandt vor und übergab sie am 19.05.2020 ihrer Nachbarin, welche den Brief zur Post gab. Am 25.05.2020 ging die Bescheinigung auf der Geschäftsstelle der Beklagten in C. ein.

Mit Bescheid vom 26.05.2020 teilte die Beklagte der Klägerin mit, dass ihr Anspruch auf Krankengeld vom 16.05.2020 bis zum 24.05.2020 ruhe. Die am 15.05.2020 festgestellte (weitere) Arbeitsunfähigkeit hätte der Beklagten binnen einer Woche gemeldet werden müssen; dies sei jedoch erst am 25.05.2020 geschehen. Gegen diesen Bescheid erhob die Klägerin Widerspruch und führte aus, dass es ihr als Rollstuhlfahrerin aufgrund der Corona-Pandemie nicht möglich gewesen sei, mit einem Taxi zur Geschäftsstelle der Beklagten nach C. zu fahren und die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung persönlich zu übergeben. Stattdessen habe sie ihrer Nachbarin die Bescheinigung zur Übersendung auf dem Postweg übergeben und darauf vertraut, dass der dienstags (19.05.) eingeworfene Brief bis freitags (22.05.) bei der Beklagten eingehen werde. Mit Widerspruchsbescheid vom 18.01.2021 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin als unbegründet zurück. Die rechtzeitige Meldung der Arbeitsunfähigkeit sei eine Obliegenheit der Versicherten und an keine Form bzw. keinen Kommunikationsweg gebunden.

Die Klägerin hat im Februar 2021 Klage erhoben und verfolgt ihr Begehren weiter. Ergänzend zu ihrem Vortrag im Verwaltungs- und Widerspruchsverfahren führt sie aus, dass eine Postlaufzeit von mehr als drei Tagen innerhalb derselben Gemeinde derart ungewöhnlich sei, dass sie damit nicht habe rechnen können. Die ungewöhnlich lange Postlaufzeit dürfe ihr nicht zum Nachteil gereichen.

Die Klägerin beantragt schriftlich, den Bescheid der Beklagten vom 26.05.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.01.2021 aufzuheben und zu erkennen, dass der Klägerin Krankengeld auch für den Zeitraum vom 16.05.2020 bis zum 24.05.2020 zusteht.

Die Beklagte beantragt schriftlich, die Klage abzuweisen.

Sie bezieht sich auf die Begründung des streitgegenständlichen Bescheides.

Die Beteiligten haben schriftlich ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Das Gericht konnte aufgrund des Einverständnisses der Beteiligten gemäß § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung entscheiden.

Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§§ 54 Abs. 1 und Abs. 4, 56 SGG) statthaft und auch im Übrigen zulässig. Sie ist auch begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 26.05.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.01.2021 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 54 Abs. 2 SGG). Die Klägerin hat Anspruch auf die Zahlung von Krankengeld für den Zeitraum vom 16.05.2020 bis zum 24.05.2020.

Zwischen den Beteiligten steht (zu Recht) außer Streit, dass die Voraussetzungen für den Anspruch auf Krankengeld dem Grunde nach erfüllt sind. Nach §§ 44 ff. Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) setzt der Anspruch auf Krankengeld voraus, dass die Klägerin wegen Krankheit arbeitsunfähig war, die Arbeitsunfähigkeit ärztlich festgestellt wurde und dass sie in der Zeit vom 16.05.2020 bis zum 24.05.2020 bei der Beklagten mit Anspruch auf Krankengeld versichert war. Dies war der Fall, weil die Arbeitsunfähigkeit der Klägerin durch ihren behandelnden Arzt Dr. G. festgestellt und durch die Bescheinigungen vom 15.05.2020 dokumentiert wurde. Zu diesem Zeitpunkt war die Klägerin auch bei der Beklagten mit einem Anspruch auf Krankengeld versichert.

Der Anspruch auf Krankengeld kam auch nicht ab dem 16.05.2020 zum Ruhen. Der Anspruch auf Krankengeld ruht nach § 49 Abs. 1 Nr. 5 SGB V, solange die Arbeitsunfähigkeit von Versicherten der Krankenkasse nicht gemeldet wird; dies gilt nicht, wenn die Meldung innerhalb einer Woche nach Beginn der Arbeitsunfähigkeit erfolgt. Die Meldung ist in entsprechender Anwendung von § 130 Abs. 1 und 3 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) erst dann erfolgt, wenn sie der Krankenkasse zugegangen ist (BSG, Urteil vom 05.12.2019 – B 3 KR 5/19 R). Die Meldung der mittels ärztlicher Bescheinigung vom 15.05.2020 dokumentierten Arbeitsunfähigkeit der Klägerin ging bei der Beklagten erst am 25.05.2020 ein. Dieser Zeitpunkt liegt nicht innerhalb einer Woche nach Beginn der Arbeitsunfähigkeit. Am 25.05.2020 war bereits mehr als eine Woche nach Ausstellung der für den Zeitraum relevanten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vom 15.05.2020 verstrichen. Ein Nachweis über einen früheren Zugang der Meldung ist für die Klägerin nicht erbracht.

§ 49 Abs. 1 Nr. 5 SGB V ordnet nach seinem Wortlaut als Rechtsfolge bei Versäumung der Wochenfrist einschränkungslos das Ruhen des Anspruchs an, solange die Arbeitsunfähigkeit der Krankenkasse nicht gemeldet worden ist. Im Fall der Klägerin umfasste das den Zeitraum bis zum 24.05.2020. Die Meldeobliegenheit über die ärztlich festgestellte Arbeitsunfähigkeit nach § 49 Abs. 1 Nr. 5 SGB V bezweckt, der Krankenkasse die Nachprüfung der Anspruchsvoraussetzungen für das Krankengeld zu ermöglichen. Die Ruhensvorschrift soll die Krankenkassen zum einen davon freistellen, die Voraussetzungen eines verspätet angemeldeten Anspruchs im Nachhinein aufklären zu müssen, um Missbrauch und praktische Schwierigkeiten zu vermeiden, zu denen die nachträgliche Behauptung der Arbeitsunfähigkeit und deren rückwirkende Bescheinigung beitragen können. Außerdem sollen die Krankenkassen so die Möglichkeit erhalten, die Arbeitsunfähigkeit zeitnah durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) überprüfen zu lassen, um Leistungsmissbräuchen entgegenzutreten und Maßnahmen zur Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit einleiten zu können. Die Wochenfrist, innerhalb derer die Meldung gegenüber der Krankenkasse zu erfolgen hat, ist mit Rücksicht darauf eine Ausschlussfrist (BSG, a.a.O.). Die Meldung der Arbeitsunfähigkeit ist eine Obliegenheit der Versicherten, deren Folgen bei unterbliebener oder nicht rechtzeitiger Meldung grundsätzlich von diesen selbst zu tragen sind. Bei verspäteter Meldung ist die Gewährung von Krankengeld daher selbst dann ausgeschlossen, wenn die Leistungsvoraussetzungen im Übrigen zweifelsfrei gegeben sind und die Versicherten kein Verschulden an dem unterbliebenen oder nicht rechtzeitigen Zugang der Meldung trifft. Eine bestimmte Form wird für die Meldung nicht vorgeschrieben; insoweit kommen sowohl eine schriftliche, elektronische, mündliche oder fernmündliche Mitteilung in Betracht (Schifferdecker, in: Kasseler Kommentar Sozialversicherungsrecht, 111. EL September 2020, SGB V, § 49 Rn. 38 f.). Auch eine von Versicherten rechtzeitig zur Post gegebene, aber auf dem Postweg verloren gegangene Arbeitsunfähigkeits-Bescheinigung kann den Eintritt der Ruhenswirkung daher selbst dann nicht verhindern, wenn die Meldung unverzüglich nachgeholt wird. Die Arbeitsunfähigkeit muss der Krankenkasse vor jeder erneuten Inanspruchnahme des Krankengeldes auch dann angezeigt werden, wenn sie seit ihrem Beginn ununterbrochen bestanden hat und wenn wegen der Befristung der bisherigen Arbeitsunfähigkeit in den ärztlichen Bescheinigungen über die Weitergewährung des Krankengeldes neu zu befinden ist (so zuletzt BSG, a.a.O.).

Allerdings liegt eine Ausnahme, wonach eine im obigen Sinne verfristete Meldung gleichwohl nicht zum Ruhen der Zahlung führt, vor. Allgemein gilt: Durchsetzbare Krankengeld-Ansprüche von Versicherten bestehen in Sonderfällen dann, wenn die rechtzeitige Meldung der Arbeitsunfähigkeit durch Umstände verhindert oder verzögert worden ist, die dem Verantwortungsbereich der Krankenkassen zuzurechnen sind und nicht demjenigen der Versicherten (BSG, Urteil vom 08.08.2019 – B 3 KR 18/18 R). So kann sich die Krankenkasse nicht auf den verspäteten Zugang der Meldung der Arbeitsunfähigkeit berufen, wenn sie die Fristüberschreitung verursacht hat und Versicherte deshalb weder wussten noch hätten wissen müssen, dass die Krankenkasse von der Arbeitsunfähigkeit keine Kenntnis erlangt hatte. Die verspätete Meldung darf Versicherten ausnahmsweise auch dann nicht entgegengehalten werden, wenn die Versicherten ihrerseits alles in ihrer Macht Stehende getan hatten, um ihre Ansprüche zu wahren, daran aber durch eine von der Krankenkasse zu vertretende Fehlentscheidung gehindert wurden. In beiden Konstellationen kann es um ein Verhalten der Krankenkasse selbst gehen oder ein solches, welches ihr zuzurechnen ist. Ausgehend davon trifft das allgemeine Postübermittlungsrisiko, dass die Arbeitsunfähigkeitsmeldung nicht oder verspätet bei der Krankenkasse anlangt, die Versicherten. Es ist grundsätzlich ohne Belang, worauf ein verzögerter oder unvollendeter Postweg beruht. Es kommt insbesondere nicht darauf an, ob die Zustellung an postinternen Fehlern leidet oder verzögert oder gar nicht erfolgt (LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 05.08.2020 – L 9 KR 234/19). Allerdings berücksichtigen diese Grundsätze nicht die erstmals und insbesondere in der ersten Phase der Corona-Pandemie großflächig und verbreitet aufgetretenen Verzögerungen in den etablierten und gewöhnlichen Betriebsabläufen einer Vielzahl von Dienstleistungsunternehmen wie der Deutschen Post. Vor diesem Hintergrund hat die Klägerin nach Ansicht der Kammer alles Notwendige und ihr Mögliche getan, als sie maximal drei volle Werktage für den Postversand kalkulierte und den Brief am 19.05.2020 zur Post geben ließ. Ihr Krankengeldanspruch bestand daher durchgehend fort.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG. Da die Klägerin mit ihrem Begehren obsiegt, hat die Beklagte ihr die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

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