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Krankengeldanspruch – unverschuldete Versäumung der Ausschlussfrist zur Meldung

Krankengeldanspruch für den Zeitraum vom 02.11.2019 bis 11.11.2019 bestätigt

Das Sozialgericht Neuruppin hat entschieden, dass die Klägerin einen Anspruch auf Krankengeld für den Zeitraum vom 02. November 2019 bis zum 11. November 2019 hat. Die Beklagte hatte dies zuvor abgelehnt und muss nun das Krankengeld gewähren sowie die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits erstatten.

Direkt zum Urteil: Az.: S 20 KR 51/20 springen.

Grundlagen des Krankengeldanspruchs

Der Krankengeldanspruch der Klägerin ergibt sich aus § 44 Abs 1 S 1 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (SGB V) in Verbindung mit § 46 S 1 Nr 2 und S 2 SGB V. Die Klägerin war im relevanten Zeitraum arbeitsunfähig und hatte eine entsprechende Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorgelegt.

Entscheidung des Gerichts

Das Gericht hat die sozialverwaltungsbehördliche Verfügung der Beklagten als rechtswidrig eingestuft und entschieden, dass die Klägerin einen Anspruch auf Krankengeld für den Zeitraum vom 02.11.2019 bis 11.11.2019 hat. Die Beklagte wurde verurteilt, der Klägerin das Krankengeld für den genannten Zeitraum zu gewähren und die entstandenen außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.

Ausnahme für lückenhaften Nachweis

In diesem Fall, in dem die Klägerin die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nicht rechtzeitig einreichte, entschied das Gericht zugunsten der Klägerin, weil ein Ausnahmefall vorlag. Dieser Ausnahmefall bewirkt, dass der lückenhafte Nachweis einer Arbeitsunfähigkeit unschädlich ist. Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts besagt, dass die Versäumung einer Ausschlussfrist im Sozialversicherungsrecht nicht zu Lasten eines Berechtigten gehen kann, wenn ein Handeln im Rechtssinn überhaupt nicht möglich war.

Krankheitsbedingte Unmöglichkeit der Einreichung

Das Gericht war davon überzeugt, dass die Klägerin aufgrund ihrer Krankheit nicht in der Lage war, die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung rechtzeitig einzureichen. Diese Überzeugung stützt sich auf ein Sachverständigengutachten des Facharztes für Psychiatrie, Psychotherapie und Neurologie. Das Gutachten legt dar, dass es der Klägerin aufgrund ihrer damaligen depressiven Episode nicht möglich gewesen sei, die fragliche Bescheinigung rechtzeitig einzureichen. Die Kammer folgte der ärztlichen Expertise und hielt den Beweis für erbracht. Die Klägerin hat daher Anspruch auf die Gewährung von Krankengeld im strittigen Zeitraum.

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Das vorliegende Urteil

SG Neuruppin – Az.: S 20 KR 51/20 – Urteil vom 09.02.2022

Die Beklagte wird unter Aufhebung der mit dem Bescheid vom 13. November 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Februar 2020 verlautbarten sozialverwaltungsbehördlichen Verfügung der Beklagten verurteilt, der Klägerin Krankengeld für den Zeitraum vom 02. November 2019 bis zum 11. November 2019 zu gewähren.

Die Beklagte hat der Klägerin die ihr entstandenen notwendigen außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreites dem Grunde nach in voller Höhe zu erstatten.

Gerichtskosten werden in Verfahren der vorliegenden Art nicht erhoben.

Die Berufung wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über einen Anspruch der Klägerin auf Gewährung von Krankengeld aus der gesetzlichen Krankenversicherung für den Zeitraum vom 02. November 2019 bis zum 11. November 2019.

Zur weiteren Darstellung des Tatbestandes verweist die Kammer gemäß § 136 Abs 2 S 1 Sozialgerichtsgesetzes (SGG) auf die Ausführungen auf Seite 1 (dort von dem ersten bis zu dem vorletzten Absatz unter dem Wort „Entscheidungsgründe“) des Widerspruchsbescheides der Beklagten vom 26. Februar 2020, mit dem diese den Widerspruch der Klägerin vom 22. November 2019 gegen die sozialverwaltungsbehördliche Entscheidung der Beklagten vom 13. November 2019 als unbegründet zurückwies. Wegen der Begründung der Beklagten verweist die Kammer gemäß § 136 Abs 2 S 1 SGG auf die Ausführungen auf Seite 2 (dort ab dem zweiten Absatz) bis Seite 3 (dort bis zu dem fünften Absatz) des Widerspruchsbescheides der Beklagten vom 26. Februar 2020.

Hiergegen hat die Klägerin mit Schriftsatz vom 25. März 2020 – bei dem Sozialgericht Neuruppin am gleichen Tage eingegangen – Klage erhoben, mit der sie ihr Begehren auf Gewährung von Krankengeld weiter verfolgt. Sie meint im Wesentlichen, sie sei krankheitsbedingt objektiv nicht in der Lage gewesen, die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vor dem 12. November 2019 bei der Beklagten einzureichen. Es sei in dem besagten Zeitraum von einer Geschäfts- oder Handlungsunfähigkeit auszugehen, die Klägerin sei überfordert gewesen, alle Angelegenheiten zu regeln bzw sich Hilfe zu holen.

Die Klägerin beantragt (nach ihrem schriftsätzlichen Vorbringen sinngemäß),

die Beklagte unter Aufhebung der mit dem Bescheid vom 13. November 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Februar 2020 verlautbarten sozialverwaltungsbehördlichen Verfügung zu verurteilen, ihr Krankengeld für den Zeitraum vom 02. November 2019 bis zum 11. November 2019 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt, die Klagen abzuweisen.

Zur Begründung ihres Antrages verweist sie im Wesentlichen auf die Ausführungen in ihrem – auch – angegriffenen Widerspruchsbescheid vom 26. Februar 2020. Hinsichtlich der geltend gemachten Geschäfts- oder Handlungsunfähigkeit fehle es an einem entsprechenden Nachweis, hierfür trage die Klägerin das Risiko.

Die Kammer hat den Sachverhalt durch die Einholung eines sozialmedizinischen Sachverständigengutachtens des Facharztes für Psychiatrie, Psychotherapie und Neurologie Dr. med. habil. Kalus vom 29. November 2020, das dieser nach ambulanter Untersuchung der Klägerin vom 20. November 2020 erstattet hat, sowie durch die Einholung von dessen ergänzenden gutachterlichen Stellungnahmen vom 14. Mai 2021 sowie vom 23. August 2021 weiter aufgeklärt.

Die Beteiligten haben mit ihren Schriftsätzen vom 16. November 2021 und vom 29. November 2021 jeweils ihre Zustimmung zu einer Entscheidung der Kammer ohne mündliche Verhandlung erteilt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze, die Prozessakte sowie auf die die Klägerin betreffende Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen, die vorgelegen haben und die Gegenstand der Beratung sowie der Entscheidungsfindung waren.

Entscheidungsgründe

Die Klagen haben Erfolg.

1. Über die Klagen konnte die Kammer gemäß § 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten hierzu ihr Einverständnis erteilt haben und weil das Gericht vor seiner Entscheidung – ebenso wie im Rahmen der mündlichen Verhandlung – weder zur vorherigen Darstellung seiner Rechtsansicht (vgl hierzu etwa Bundessozialgericht, Beschluss vom 03. April 2014 – B 2 U 308/13 B, RdNr 8 mwN) noch zu einem vorherigen umfassenden Rechtsgespräch verpflichtet ist (vgl hierzu etwa Bundessozialgericht, Urteil vom 30. Oktober 2014 – B 5 R 8/14 R, RdNr 23).

2. Das – auf Aufhebung der mit dem Bescheid vom 13. November 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Februar 2020 verlautbarten sozialverwaltungsbehördlichen Verfügung und auf Verurteilung der Beklagten zur Gewährung von Krankengeld für den Zeitraum vom 02. November 2019 bis zum 11. November 2019 gerichtete – Begehren ist als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage statthaft (vgl § 54 Abs 1 S 1 Regelung 1 SGG, § 54 Abs 4 SGG iVm § 56 SGG) und auch im Übrigen zulässig. Hierbei geht die Kammer zu Gunsten der Klägerin bei interessengerechter Auslegung ihres Begehrens (vgl § 123 SGG) davon aus, dass ihr Begehren – entsprechend des im Tatbestand formulierten sinngemäßen Klageantrages – auf eine Krankengeldgewährung bis zum 11. November 2019 gerichtet ist und dass das noch im schriftsätzlich gestellten Antrag enthaltene Datum „10.11.2019“ eine offenbare Unrichtigkeit darstellt.

3. Die danach im dargestellten Umfang insgesamt zulässigen Klagen sind auch begründet.

a) Die Anfechtungsklage ist begründet, weil die angegriffene sozialverwaltungsbehördliche Verfügung der Beklagten rechtswidrig ist und die Klägerin hierdurch in ihren subjektiv-öffentlichen Rechten beschwert ist (vgl § 54 Abs. 2 S 1 SGG). Die Beklagte hat es zu Unrecht abgelehnt, der Klägerin auch Krankengeld für den Zeitraum vom 02. November 2019 bis zum 11. November 2019 zu gewähren

aa) Der Klägerin steht ein Anspruch auf Gewährung von Krankengeld nach Maßgabe des § 44 Abs 1 S 1 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Krankenversicherung – (SGB V) iVm § 46 S 1 Nr 2 und S 2 SGB V – jeweils in der Fassung, die die genannten Vorschriften zu Beginn des streitgegenständlichen Zeitraums hatten, weil in Rechtsstreitigkeiten über bereits abgeschlossene Bewilligungszeiträume das zum damaligen Zeitpunkt geltende Recht anzuwenden ist <sog Geltungszeitraumprinzip, vgl dazu aus dem Rechtskreis des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II) etwa Bundessozialgericht, Urteil vom 19. März 2020 – B 4 AS 1/20 R, RdNr 13 mwN), was auch für die weiteren zitierten Vorschriften gilt – auch für den Zeitraum vom 02. November 2019 bis zum 11. November 2019 zu. Die Kammer verweist gemäß § 136 Abs 3 SGG wegen der maßgeblichen rechtlichen Grundlagen zur Vermeidung von unnötigen Wiederholungen auf die Ausführungen der Beklagten auf Seite 2 (dort ab dem zweiten Absatz) bis Seite 3 (dort bis zu dem vierten Absatz) in deren Widerspruchsbescheid vom 26. Februar 2020.

bb) Entgegen der Auffassung der Beklagten ist jedoch zugunsten der Klägerin von dem Vorliegen eines von der Beklagten dargestellten Ausnahmefalles auszugehen, der den – hier vorliegenden – lückenhaften Nachweis einer Arbeitsunfähigkeit unschädlich macht, weshalb die Klägerin so zu behandeln ist, als wäre die fragliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung rechtzeitig – mithin im Rahmen der Frist des § 49 Abs 1 Nr 5 SGB V, wonach der Anspruch auf Gewährung von Krankengeld solange ruht wie die Arbeitsunfähigkeit der Krankenkasse nicht gemeldet wird, was nur dann nicht gilt, wenn die Meldung innerhalb einer Woche nach Beginn der Arbeitsunfähigkeit erfolgt – bei der Beklagten eingegangen. Denn nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, der die Kammer folgt, weil sie sie für überzeugend hält, kann die Versäumung einer Ausschlussfrist im Sozialversicherungsrecht jedenfalls dann nicht zu Lasten eines Berechtigten gehen, wenn ein Handeln im Rechtssinn überhaupt nicht möglich war (so schon sehr frühzeitig: Bundessozialgericht, Urteil vom 22. Juni 1966 – 3 RK 14/64, RdNr 17; später ua unter Verweis auf diese Entscheidung auch: Bundessozialgericht, Urteil vom 16. Dezember 2014 – B 1 KR 37/14 R –, RdNr 24 mwN).

cc) Die Kammer ist mit der erforderlichen Gewissheit davon überzeugt (vgl § 128 Abs 1 S 1 SGG und § 128 Abs 1 S 2 SGG), dass die Klägerin krankheitsbedingt nicht imstande gewesen ist, die fragliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung rechtzeitig bei der Beklagten einzureichen. Die Kammer stützt sich hierbei insbesondere auf das von ihr eingeholte Sachverständigengutachten des Facharztes für Psychiatrie, Psychotherapie und Neurologie Dr. med. habil. Kalus vom 29. November 2020, das dieser nach ambulanter Untersuchung der Klägerin vom 20. November 2020 erstattet hat, sowie auf die ergänzenden gutachterlichen Stellungnahmen vom 14. Mai 2021 sowie vom 23. August 2021. Das Gericht erachtet das Sachverständigengutachten insgesamt für überzeugend, weil es anerkannten Bewertungsgrundsätzen entspricht und in sich schlüssig und nachvollziehbar begründet ist. Der Sachverständige hat die Klägerin nach ausführlicher Anamnese und Befunderhebung in Kenntnis aller erreichbaren Vorbefunde eingehend untersucht, die erhobenen Befunde gründlich und vollständig gewürdigt und für das Gericht schlüssig und nachvollziehbar dargelegt, dass es der Klägerin aufgrund der damals bestehenden ausgeprägteren depressiven Episoden nicht möglich gewesen sei, die fragliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung rechtzeitig bei der Beklagten einzureichen.

Nach der ärztlichen Expertise des Sachverständigen, die sich die Kammer zu eigen macht, weil sie sie für überzeugend hält und an deren Richtigkeit sie keinen Zweifel hat, sei insbesondere eine Störung des formalen Denkens in Gestalt einer Denkhemmung ein wesentliches psychopathologisches Merkmal ausgeprägterer depressiver Episoden, die als Ausdruck einer passagären Reduktion des psychischen energetischen Potentials aufgefasst werden könne und die sich in einem verlangsamten, einfallsarmen, um wenige Themen kreisenden Denken äußere, wodurch es wiederum auch zu erheblichen Beeinträchtigungen der kognitiven Funktionen depressiver Menschen komme. Der Sachverständige hat vor diesem Hintergrund überzeugend hervorgehoben, dass aufgrund der Beschreibungen der damaligen Symptomatik durch die Klägerin davon auszugehen sei, dass bei ihr in dem in Rede stehenden Zeitraum die Symptome einer stark vermehrten Grübelneigung, einer Denkhemmung sowie dadurch bedingter Störungen der Konzentration und Aufmerksamkeit wie auch des Beharrungsvermögens und der Ausdauer in schwerem Ausprägungsgrad vorgelegen hätten, was sich nicht zuletzt auch darin zeige, dass die in ihrer Persönlichkeit von Perfektionismus und Ordnungsliebe geprägte Klägerin in dieser Zeit nicht in der Lage gewesen sei, die anfallenden organisatorischen Erfordernisse in ihrem alltäglichen Leben mit der gewohnten Zuverlässigkeit und Effizienz zu erledigen. Der Sachverständige hat hieraus für die Kammer nachvollziehbar abgeleitet, dass es zumindest hochwahrscheinlich sei, dass die unterbliebene Absendung der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung der im Rahmen des depressiven Krankheitsbildes bestehenden Denkhemmung und den dadurch bedingten kognitiven Störungen zuzuschreiben sei. Nach den Erwägungen des Sachverständigen habe zwar keine vollständige Aufhebung der Handlungsfähigkeit vorgelegen, jedoch jedenfalls eine krankheitsbedingte erhebliche Einschränkung der Fähigkeiten zur Durchführung der notwendigen Handlungen in der alltäglichen Lebensführung, wodurch es nach seinen Darlegungen wiederum hochwahrscheinlich sei, dass das Unterlassen der rechtzeitigen Übersendung der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung Ausdruck der depressiven Symptomatik gewesen sei.

Soweit die Beklagte dem Ergebnis des Sachverständigengutachtens nicht zu folgen vermochte, hat sich der Sachverständige mit den – im Übrigen ohne Hinzuziehung eigenen medizinischen Sachverstandes – erhobenen Einwänden der Beklagten für die Kammer überzeugend auseinandergesetzt, ohne dass sich an dessen Einschätzung etwas geändert hätte. Der Sachverständige hat insoweit für die Kammer nachvollziehbar betont, dass allein der Umstand, dass die Klägerin trotz ihrer depressiven Symptomatik noch grundsätzlich in der Lage gewesen sei, rechtswirksame Handlungen vorzunehmen, bei Weitem noch nicht besagen würde, dass sie auch alle notwendigen rechtswirksamen Handlungen tatsächlich habe vornehmen können. Er hat für die Kammer hierzu nachvollziehbar dargelegt, dass der Umstand, dass sie dies eben nicht gekonnt habe, symptomatischer Ausdruck ihres depressiven Syndroms gewesen sei.

dd) Ausgehend von den die Kammer überzeugenden Darlegungen des Sachverständigen hält die Kammer den Beweis dafür, dass die Klägerin außerstande war, die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung rechtzeitig bei der Beklagten einzureichen, für erbracht. Zwar ist der volle Beweis für eine Tatsache erst dann erbracht, wenn sie für das erkennende Gericht mit Gewissheit feststeht, wobei Gewissheit in diesem Sinn bedeutet, dass ein vernünftiger, die Lebensverhältnisse klar überschauender Mensch keinen Zweifel hat (vgl G. Becker in: Eicher/Luik/Harich, SGB II, 5. Auflage 2021, § 7, RdNr 117 mwN). Indes kann und darf sich das Gericht mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad an Gewissheit begnügen, der den Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen (vgl zu diesem Aspekt des Vollbeweises erneut G. Becker in: Eicher/Luik/Harich, SGB II, 5. Auflage 2021, § 7, RdNr 117 mwN). Da der Sachverständige im Ergebnis davon ausgeht, dass die unterlassene rechtzeitige Absendung der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung hochwahrscheinlich auf die depressive Erkrankung der Klägerin und der mit ihr einhergehenden Symptomatik zurückzuführen ist und andere Erkenntnismöglichkeiten nicht zur Verfügung stehen, begnügt sich das Gericht mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad an Gewissheit, der den Zweifeln – auch ein „schlichtes Vergessen“ der unterlassenen Handlung erscheint zumindest denkbar – Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen.

ee) Angesichts der in den Ausführungen der Beklagten anklingenden Auffassung, die Klägerin habe selbst Nachweise über die bestehende Handlungs- oder Geschäftsunfähigkeit zu erbringen, erlaubt sich die Kammer noch folgenden Hinweis: Die Beklagte ihrerseits wäre umgekehrt im Rahmen der bereits ihr von Amts wegen obliegenden Aufklärung des Sachverhaltes <§ 20 Abs 1 S 1 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – (SGB X)> verpflichtet gewesen, alle für den Einzelfall bedeutsamen, im Übrigen auch die für die Klägerin günstigen Umstände (vgl § 20 Abs 2 SGB X), selbst zu ermitteln und zu berücksichtigen. Sie hat sich dabei der Beweismittel zu bedienen, die sie nach pflichtgemäßem Ermessen zur Ermittlung des Sachverhalts für erforderlich hält (§ 21 Abs 1 SGB X). Insoweit wäre es angesichts des Vorbringens der Klägerin im sozialverwaltungsbehördlichen Verwaltungsverfahren insbesondere angezeigt gewesen, die schriftliche oder elektronische Äußerung eines Sachverständigen oder zumindest der die Klägerin behandelnden Ärzte und Psychotherapeuten als (sachverständige) Zeugen einzuholen (§ 21 Abs 1 S 2 Nr 2 SGBX) und sich nicht darauf beschränken dürfen, das Vorliegen einer (partiellen) Geschäfts- oder Handlungsunfähigkeit ohne eigene medizinische Sachverhaltsermittlung zu verneinen. Angesichts der so beschriebenen gesetzlich vorgesehen sozialverwaltungsbehördlichen Amtsaufklärungspflichten hält die Kammer es auch für nicht nachvollziehbar, wenn die Beklagte die Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens zu dieser Frage als „überzogen“ und „praxisfern“ geißelt. Angesichts der dargelegten – auch die Beklagte bindenden – gesetzlichen Regelungen ist das Gegenteil der Fall.

b) Wenn nach alledem die Anfechtungsklage begründet ist, gilt Gleiches auch für die mit ihr verbundene Leistungsklage (§ 54 Abs 4 SGG iVm § 56 SGG). Diese ist begründet, weil in Verfahren der vorliegenden Art eine zulässige und begründete Leistungsklage wegen des der Kombination immanenten Stufenverhältnisses ihrerseits eine zulässige und begründete Anfechtungsklage voraussetzt und weil zugunsten der Klägerin – wie aufgezeigt – ein Anspruch auf Gewährung von Krankengeld im streitgegenständlichen Zeitraum besteht.

4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs 1 S 1 SGG. Es entsprach dabei der Billigkeit, dass die Beklagte der Klägerin die ihr entstandenen notwendigen außergerichtlichen Kosten dem Grunde nach in voller Höhe zu erstatten hat, weil die Klägerin mit ihrem Begehren vollumfänglich obsiegte, während die Aufwendungen der Beklagten schon von Gesetzes wegen nicht erstattungsfähig sind (§ 193 Abs 4 SGG iVm § 184 Abs 1 SGG).

5. Gerichtskosten werden in Verfahren der vorliegenden Art nicht erhoben (§ 183 S 1 SGG).

6. Die wegen der Unterschreitung des Wertes des Beschwerdegegenstandes  zulassungsbedürftige Berufung (§ 144 Abs 1 S 1 Nr 1 SGG) war mangels Vorliegen von Berufungszulassungsgründen nicht zuzulassen (§ 144 Abs 2 SGG).

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