SG Mannheim, Az.: S 9 KR 1100/13
Urteil vom 26.11.2013
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung nach dem Sozialgesetzbuch V (SGB V) im Anschluss an einen langfristigen Verletztengeldbezug wegen der Folgen eines Arbeitsunfalls um die Zahlung von Krankengeld.
Der am … 1970 geborene – somit heute 43jährige – Kläger ist bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert. Wegen der Folgen eines Arbeitsunfalls vom 15.2.2008 (Explosion eines Satteltankaufliegers während Schweißarbeiten), bezog er bis zum 13.8.2009 vor allem wegen der Folgen einer posttraumatischen Belastungsstörung Verletztengeld von der Berufsgenossenschaft-Metall-Nord-Süd (hierzu Vergleich in dem sozialgerichtlichen Klageverfahren S 10 U 1894/09).
In der Folge machte der Kläger wegen (erneuter) Arbeitsunfähigkeit ab dem 23.8.2010 gegenüber der Beklagten die Zahlung von Krankengeld geltend.
Dies lehnte die Beklagte mit dem Bescheid vom 22.11.2010 ab: Denn der Anspruch auf Krankengeld bestehe innerhalb einer dreijährigen Blockfrist (hier: 15.2.2008 bis 14.2.2011) nur für längstens 78 Wochen. Diese Bezugsdauer habe der Kläger am 13.8.2009 ausgeschöpft. Daher könne ein neuer Krankengeldanspruch frühestens mit dem Beginn einer neuen Blockfrist entstehen.
Gegen diese Entscheidung wandte sich der Kläger mit Schreiben vom 6.1.2011 und trug vor, er habe gegen den Bescheid vom 22.11.2010 bereits Widerspruch eingelegt.
Der Widerspruch ist jedoch erfolglos geblieben (Widerspruchsbescheid vom 27.2.2013): Ohne sich auf die nicht gewahrte Widerspruchsfrist zu berufen (hierzu Schreiben der Beklagten vom 15.2.2011), führte die Beklagte aus, die (neuerliche) Arbeitsunfähigkeit vom 23.8.2010 bis zum 10.11.2010 beruhe auf einer psychischen Erkrankung (psychosomatische Störung – F45.0 bzw. depressive Episode – F 32.9). Bei diesem Krankheitsbild handele es sich „um eine zu den Unfallfolgen hinzugetretene Krankheit, die die Leistungsdauer“ von 78 Wochen „nicht ver-längere“. Daher sei unter Berücksichtigung des vorbezogenen Verletztengeldes ein Krankengeldbezug nicht mehr möglich. Wenn der Kläger hierzu die Auffassung vertrete, dass das zuvor gezahlte Verletztengeld auf die 78wöchige Höchstbezugsdauer für das Krankengeld nicht angerechnet werden dürfe, würde dies im Extremfall dazu führen, dass nach Ausschöpfung des Verletztengeldes noch einmal für weitere 78 Wochen Krankengeld gezahlt werden müsste. Dann würden sich die Entgeltersatzleistungen zu einer „rentenähnlichen Dauerleistung aus-weiten“. Dies sei jedoch nicht Aufgabe des Krankengeldes, das nach ständiger Rechtsprechung des BSG nur dazu bestimmt sei, bei vorübergehenden Gesundheitsstörungen den Lohnausfall auszugleichen (bspw. BSG, Urteil vom 8.11.2005 – B 1 KR 27/04 R). Zudem sei eine „Kumulierung von Sozialleistungen“ auch „sozialpolitisch nicht gewollt“ (BVerfG, Entscheidung vom 15.6.1971 – 1 BvR 88/69 und 1 BvR 496/69).
Am 2.4.2013 hat der Kläger Klage zum Sozialgericht erhoben und weist zur Klagebegründung auf eine Entscheidung des SG Dresden (S 18 KR 458/06) hin. Hiernach verkenne die Beklagte, dass der Bezug von Verletztengeld seit dem 1.1.2005 nicht mehr zum Ruhen des Krankengeldes führe. Daher sei es ausgeschlossen, die Dauer des Verletztengeldbezuges auf die Höchstbezugs-dauer des Krankengeldes anzurechnen. In diesem Zusammenhang stelle das SG Dresden zu Recht fest, dass die gegenteilige Auffassung (bspw. SG Regensburg – S 2 KR 252/06) eine Auslegung „contra legem“ beinhalte und zudem auch „über den Gewaltenteilungsgrundsatz hinausgehe“. Die von der Beklagten angeführte Rechtsprechung sei irrelevant, weil sie sich noch auf die alte Rechtslage beziehe.
Sinngemäß beantragt der Kläger somit, die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 22.10.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.2.2013 zu verurteilen, ihm für die Zeit ab dem 23.8.2010 Krankengeld in gesetzlicher Höhe zu gewähren.
Die Beklagte tritt der Klage entgegen und beantragt, die Klage abzuweisen.
Sie verweist auf die Begründung des angefochtenen Bescheides bzw. Widerspruchsbescheides.
Die Beteiligten stimmen einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung zu.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Verwaltungsakte der Beklagten (ein Band), die Prozessakte sowie auf die beigezogenen Akten der unfallrechtlichen Klageverfahren des Klägers (S 10 U 1894/10 und S 10 U 563/10) Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Mit dem Einverständnis der Beteiligten macht das Gericht von der Möglichkeit Gebrauch, über die Klage durch Urteil ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG)
Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage zulässig (§ 54 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 4 SGG). Das notwendige Vorverfahren (§ 78 SGG) ist durchgeführt worden, die Klage vom 2.4.2013 wahrt nach Erteilung des Widerspruchsbescheides vom 27.2.2013 die einmonatige Klagefrist (§ 87 SGG). Denn unter Berücksichtigung von § 37 Abs. 2 Sozialgesetzbuch X (SGB X) gilt der Widerspruchsbescheid als am 2.3.2013 bekannt gegeben, so dass die Klagefrist am 3.3.2013 begonnen und am Dienstag, dem 2.4.2013 geendet hat (§ 64 SGG).
Die Klage ist jedoch unbegründet.
Da die Beklagte den Widerspruch gegen den Bescheid vom 22.11.2010 ungeachtet der Frage, ob die einmonatige Widerspruchsfrist eingehalten worden ist (§ 84 SGG), als zulässig angesehen und im Rahmen des Widerspruchsbescheides vom 27.2.2013 eine Sachentscheidung getroffen hat (zu dieser Befugnis vergleiche Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Auflage 2012, § 84 Rdnr. 7), ist der Bescheid vom 22.11.2010 nicht bestandskräftig geworden (§ 77 SGG).
Zu Recht nimmt die Beklagte hierin an, dass die Höchstbezugsdauer des Krankengeldes von 78 Wochen bereits erschöpft ist.
Im einzelnen:
Grundsätzlich erhalten Versicherte Krankengeld bei Arbeitsunfähigkeit ohne zeitliche Begrenzung. Wenn die Arbeitsunfähigkeit jedoch auf derselben Krankheit beruht, ist die Dauer des Krankengeldes innerhalb einer dreijährigen Blockfrist auf längstens 78 Wochen begrenzt. Wenn während der Arbeitsunfähigkeit eine weitere Krankheit hinzutritt, wird hierdurch die Leistungsdauer nicht verlängert (§ 48 Abs. 1 SGB V). Bei der Feststellung der Leistungsdauer werden Zeiten, in denen der Anspruch auf Krankengeld ruht oder für die das Krankengeld versagt wird, wie Zeiten des Bezugs von Krankengeld berücksichtigt (§ 48 Abs. 3 Satz 1 SGB V).
Dem Kläger ist zwar darin Recht zu geben, dass das Verletztengeld seit dem 1.1.2005 nicht mehr zum Ruhen des Krankengeldes führt, denn seinerzeit ist diese Sozialleistung in dem entsprechenden Ruhenstatbestand (§ 49 Abs. 1 Nr. 3a SGB V) ersatzlos gestrichen worden. Nach den Gesetzesmaterialien sollte dies nur eine „redaktionelle Änderung“ darstellen, da Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung wegen der Folgen eines Arbeitsunfalls ohnehin ausgeschlossen sind (heute: § 11 Abs. 5 SGB V, bis zum 1.4.2007: § 11 Abs. 4 SGB V). Deshalb hielt der Gesetzgeber die Erwähnung des Verletztengeldes in § 49 Abs. 1 Nr. 3a SGB V für überflüssig (zur diesbezüglichen Gesetzeshistorie vgl. juris-PK, § 49 SGB V Rdnr. 6 und Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, Loseblatt, § 48 SGB V Rdnr. 27 und § 49 SGB V Rdnr. 22). Vor diesem Hintergrund folgt das Gericht den Ausführungen des SG Regensburg in seinem Urteil vom 9.6.2009 (S 2 KR 252/06) und nimmt ebenfalls an, dass die Herausnahme des Verletztengeldes aus § 49 Abs. 1 Nr. 3a SGB letztlich auf einem Versehen des Gesetzgebers beruht und hierdurch bezüglich der Anrechnung des Verletztengeldes auf die Höchstbezugsdauer des Krankengeldes nach § 48 Abs. 3 SGB V keine Rechtsänderung eingetreten ist. Bei dieser Annahme sieht sich das Gericht durch die Ausführungen des BSG in seinem Urteil vom 8.11.2005 (B 1 KR 33/03 R) bestärkt, denn es erscheint in der Tat zweifelhaft, ob der Gesetzgeber durch die angeführte Gesetzesänderung tatsächlich die Anrechnungsregelung in § 48 Abs. 3 Satz 1 SGB V für das Verletztengeld außer Kraft setzen und eine sozialpolitisch nicht erwünschte Kumulierung von Sozialleistungen zulassen wollte. Darüber hinaus sprechen auch rechtssystematische Überlegungen für eine Anrechnung des Verletztengeldbezuges auf die Dauer des Krankengeldes: Denn § 11 Abs. 5 SGB V enthält gegenüber dem schlichten „Ruhen“ von Leistungsansprüchen eine deutlich stärkere Rechtsfolge, indem nämlich Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung gänzlich ausgeschlossen werden, wenn diese wegen der Folgen eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit notwendig sind. Vor diesem Hintergrund wäre es logisch kaum zu begründen, das Krankengeld in zeitlicher Hinsicht nur um die Dauer konkurrierender ruhender (oder wegen fehlender Mitwirkung versagter) Leistungsansprüche zu kürzen, hiervon aber abzusehen, wenn wegen eines noch stärkeren Konkurrenzverhältnisses Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung grundsätzlich ausgeschlossen sind. Vor diesem Hintergrund kann die gegenteilige Rechtsauffassung des SG Dresden (Urteil vom 10.12.2009 – S 18 KR 458/06) nicht überzeugen. Denn sie kann sich im Grunde genommen nur auf den Gesetzeswortlaut berufen und lässt die übrigen Kriterien der juristischen Auslegungslehre (historische, teleologische und systematische Auslegung) vollkommen außer Acht. Im Hinblick darauf, dass im Sozialleistungsrecht eine Analogie auch zu Lasten von anspruchsberechtigten Bürgern zulässig ist (hierzu BSG, Urteil vom 9.6.2011 – B 8 AY 1/10 R, hierzu auch SG Mannheim, Urteil vom 6.11.2012 – S 9 AY 1553/12 und LSG Baden-Württemberg, Urteile vom 12.9.2013 – L 7 AY 5113/12 und L 7 AY 5090/12, jeweils zur analogen Anwendung von § 116a SGB XII auf Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz – AsylbLG) und dass seit jeher bei einer unklaren oder widersprüchlichen Gesetzeslage auch die Bildung von Richterrecht für zulässig angesehen wird, liegt in der hier vertretenen Rechtsauffassung kein Verstoß gegen den Grundsatz der Gewaltenteilung. Vielmehr wird hierdurch lediglich sichergestellt, dass das Verletztengeld wie auch das Krankengeld regelmäßig nur einen gesundheitsbedingten vorübergehenden Lohnausfall ausgleichen wollen, während bei langfristiger gesundheitlich bedingter Leistungsunfähigkeit die entsprechenden Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung vorrangig sind. Hierauf bzw. auf die entsprechende Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 8.11.2005 – B 1 KR 27/04 R) weist die Beklagte zu Recht hin.
Somit muss die Klage abgewiesen werden.
Dies berücksichtigt die auf § 193 SGG beruhende Kostenentscheidung.