Eine ehemalige Hausdame forderte die Rente wegen Erwerbsminderung, da ihre Herzrhythmusstörung das Leistungsvermögen: Sechs Stunden täglich arbeiten unmöglich mache. Ein Gutachten bescheinigte ihr nur drei Stunden Leistungsfähigkeit, doch das Gericht stützte seine Entscheidung auf eine überraschende Messung.
Übersicht
- Das Wichtigste in Kürze
- Der Fall vor Gericht
- Wessen Wort wiegt mehr, wenn Ärzte sich widersprechen?
- Worum stritten die Frau und die Rentenversicherung im Kern?
- Warum wies das erste Gericht die Klage ab?
- Wie kam es zur Schlacht der Gutachter in der nächsten Instanz?
- Wie löste das Gericht den Widerspruch der Expertisen?
- Weshalb lehnte das Gericht weitere Beweisanträge ab?
- Die Urteilslogik
- Benötigen Sie Hilfe?
- Experten Kommentar
- Häufig gestellte Fragen (FAQ)
- Was ist die entscheidende 6-Stunden-Grenze für die Rente wegen voller Erwerbsminderung?
- Wie wird mein Restleistungsvermögen bei psychischen und körperlichen Symptomen juristisch beurteilt?
- Wie gehe ich vor Gericht vor, wenn meine Erwerbsminderungsrente wegen Gutachten abgelehnt wurde?
- Welches ärztliche Gutachten gewichtet das Gericht bei widersprüchlichen medizinischen Diagnosen?
- Zählen nur objektive Testergebnisse oder auch meine subjektiven Schmerzen für die Entscheidung der Richter?
- Glossar – Fachbegriffe kurz erklärt
- Das vorliegende Urteil
Zum vorliegenden Urteil Az.: L 7 R 107/15 | Schlüsselerkenntnis | FAQ | Glossar | Kontakt
Das Wichtigste in Kürze
- Gericht: Landessozialgericht Mecklenburg‑Vorpommern
- Datum: 01.07.2020
- Aktenzeichen: L 7 R 107/15
- Verfahren: Berufung
- Rechtsbereiche: Sozialrecht, Rentenversicherung
- Das Problem: Eine Frau forderte von der Rentenversicherung eine Erwerbsminderungsrente. Sie führte ihre Forderung auf Herzrhythmusstörungen, Rückenbeschwerden und psychische Probleme zurück. Die Rentenversicherung lehnte den Antrag ab, woraufhin die Frau in die Berufung ging.
- Die Rechtsfrage: Muss die Rentenversicherung zahlen, weil die Betroffene aufgrund ihrer gesundheitlichen Probleme keine sechs Stunden mehr täglich arbeiten kann?
- Die Antwort: Nein, die Berufung wurde zurückgewiesen. Das Gericht urteilte, dass die Frau trotz ihrer Erkrankungen noch mindestens sechs Stunden täglich leichte Tätigkeiten ausüben kann.
- Die Bedeutung: Der Anspruch auf Erwerbsminderungsrente scheitert, wenn das tägliche Leistungsvermögen von sechs Stunden nicht dauerhaft unterschritten wird. Das Gericht stützt sich hierbei auf die objektiven Ergebnisse mehrerer medizinischer Gutachten.
Der Fall vor Gericht
Wessen Wort wiegt mehr, wenn Ärzte sich widersprechen?
Herzstolpern, Erschöpfung, Angst – für eine ehemalige Hausdame waren dies keine flüchtigen Symptome, sondern tägliche Realität. Sie sah sich arbeitsunfähig. Die Rentenversicherung sah das anders. Es begann ein zäher juristischer Kampf, der am Ende nicht auf der Anklagebank, sondern auf dem Papier medizinischer Gutachter entschieden wurde. Ein Kardiologe attestierte ihr eine Belastbarkeit von unter drei Stunden täglich. Drei andere Experten sahen sie bei über sechs Stunden. Das Landessozialgericht Mecklenburg-Vorpommern musste entscheiden, wessen Wort mehr wog.
Worum stritten die Frau und die Rentenversicherung im Kern?
Eine Facharbeiterin für Schreibtechnik, zuletzt als stellvertretende Hausdame tätig, stellte im Februar 2013 einen Antrag auf Rente wegen Erwerbsminderung. Als Gründe nannte sie Herzrhythmusstörungen und Rückenbeschwerden. Die Rentenversicherung holte Berichte ein und ließ ein Gutachten erstellen. Die Schlussfolgerung der Gutachterin war klar: Die Frau leide zwar an wiederkehrenden Herzrhythmusstörungen (ventrikuläre Extrasystolie) und einer Herzerkrankung, ihre Herzfunktion sei aber gut. Sie könne noch sechs Stunden und mehr täglich leichte bis mittelschwere Tätigkeiten verrichten.

Auf dieser Grundlage lehnte die Versicherung den Rentenantrag ab. Der entscheidende Punkt war die Sechs-Stunden-Grenze. Das Gesetz über die Rente wegen Erwerbsminderung (§ 43 SGB VI) ist hier eindeutig: Wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes noch mindestens sechs Stunden täglich arbeiten kann, gilt nicht als erwerbsgemindert. Die Frau war überzeugt, diese Schwelle nicht mehr zu erreichen. Die Versicherung war vom Gegenteil überzeugt. Dieser Konflikt zog sich über Jahre und zwei Gerichtsinstanzen.
Warum wies das erste Gericht die Klage ab?
Nach der Ablehnung durch die Rentenversicherung zog die Frau vor das Sozialgericht Stralsund. Sie argumentierte, ihre Herzerkrankung und zunehmende psychische Probleme wie depressive Symptome und Konzentrationsstörungen machten eine tägliche Arbeit von sechs Stunden unmöglich. Das Gericht ging dem nach. Es holte weitere Befundberichte ihrer behandelnden Ärzte ein.
Das Ergebnis war für die Frau ernüchternd. Auch ihre eigenen Ärzte bestätigten im Wesentlichen die Einschätzung des Gutachtens der Rentenversicherung. Sie sahen keine funktionellen Einschränkungen, die eine Arbeitszeit von unter sechs Stunden zwingend machten. Das Sozialgericht hatte eine klare Beweislage vor sich. Es stützte sich auf die übereinstimmenden ärztlichen Einschätzungen und wies die Klage mit einem Gerichtsbescheid ab. Die rechtlichen Voraussetzungen für eine Erwerbsminderungsrente waren nicht erfüllt.
Wie kam es zur Schlacht der Gutachter in der nächsten Instanz?
Die Frau gab nicht auf und legte Berufung beim Landessozialgericht ein. Sie brachte neue Aspekte vor: eine familiäre Vorgeschichte von Herzerkrankungen und eine seit Juni 2015 laufende psychische Behandlung. Das Landessozialgericht nahm den Fall sehr ernst und startete eine umfangreiche Beweisaufnahme. Es forderte zahlreiche neue Berichte an und beauftragte eigene Sachverständige.
Ein psychiatrisches Gutachten diagnostizierte eine Dysthymie – eine chronische depressive Verstimmung – und eine somatoforme Funktionsstörung des Herz-Kreislauf-Systems. Der Psychiater sah die Frau psychisch zwar belastbar, hielt aber leichte körperliche Arbeit für mindestens sechs Stunden täglich für zumutbar.
Dann kam die Wende – scheinbar. Ein vom Gericht bestellter internistisch-kardiologischer Gutachter kam zu einem völlig anderen Ergebnis. Er sah die maximale sitzende Belastbarkeit bei nur drei Stunden. Seine Diagnose: komplexe ventrikuläre Extrasystolie. Er empfahl eine Therapie-Intensivierung und eine neue Begutachtung in einem Jahr. Plötzlich lag ein Gutachten auf dem Tisch, das den Rentenanspruch der Frau stützte. Die Rentenversicherung protestierte. Sie argumentierte, die objektiven Daten der Belastungstests (Ergometrie) zeigten ein viel höheres Leistungsvermögen.
Das Gericht stand vor einem Dilemma. Um Klarheit zu schaffen, beauftragte es ein drittes, entscheidendes Gutachten bei einem Chefarzt für Kardiologie. Dieser sichtete alle Unterlagen, einschließlich eines neuen Klinikberichts über eine erfolglose Herzkatheter-Ablation. Sein Urteil war eindeutig: Leichte körperliche Arbeiten seien noch mindestens sechs Stunden täglich möglich. Zwar nicht im Schichtdienst oder unter Akkordbedingungen, aber das quantitative Leistungsvermögen sei nicht rentenrelevant eingeschränkt. Damit standen zwei gerichtliche Hauptgutachten gegen eines.
Wie löste das Gericht den Widerspruch der Expertisen?
Der Senat des Landessozialgerichts musste nun das Gesamtergebnis des Verfahrens würdigen, wie es das Gesetz vorschreibt (§ 128 SGG). Es wog die Argumente der verschiedenen Experten sorgfältig gegeneinander ab. Die Richter folgten am Ende der Mehrheit der Gutachter – Dr. B., Dr. E. und dem Chefarzt Dr. H.
Ihre Überzeugung gründete auf einem einfachen Prinzip: Objektive Befunde wiegen schwerer als subjektive Beschreibungen. Die Gutachter, die ein Leistungsvermögen von sechs Stunden und mehr sahen, stützten ihre Meinung auf messbare Daten. Die Belastungs-EKGs hatten gezeigt, dass die Frau eine Leistung von 75 bis 100 Watt erbringen konnte. Der Abbruch der Tests erfolgte nicht wegen Herzproblemen, sondern wegen allgemeiner muskulärer Erschöpfung.
Das einzelne Gutachten, das von nur drei Stunden Arbeitsfähigkeit ausging, überzeugte den Senat nicht. Es stützte sich zu stark auf die subjektive Symptomatik der Frau und weniger auf die harten Fakten der medizinischen Tests. Die Richter stellten fest, dass ventrikuläre Extrasystolien zwar belastend sind, aber sozialmedizinisch nicht zwangsläufig zu einer Reduzierung der täglichen Arbeitszeit führen. Die psychischen Diagnosen waren bereits im psychiatrischen Gutachten berücksichtigt worden, das ebenfalls von einer sechsstündigen Leistungsfähigkeit ausging. Die Berufung der Frau wurde zurückgewiesen.
Weshalb lehnte das Gericht weitere Beweisanträge ab?
Die Klägerin versuchte im Verfahren, weitere Beweise einzubringen. Sie beantragte unter anderem ein Gutachten zu den möglichen Spätfolgen von staatlich verordnetem Doping im DDR-Sport, dem sie möglicherweise als Jugendliche ausgesetzt war.
Das Gericht lehnte diesen Antrag ab. Die Begründung war prozessualer Natur. Für den Anspruch auf eine Erwerbsminderungsrente ist allein der aktuelle Gesundheitszustand und das daraus resultierende Leistungsvermögen entscheidend. Die Ursache einer Krankheit spielt für die Feststellung der Arbeitsfähigkeit keine Rolle. Selbst wenn Doping die Ursache ihrer Herzprobleme gewesen wäre – das Gericht müsste trotzdem nur die Frage beantworten: Kann sie heute noch sechs Stunden arbeiten? Da die Kenntnis der Ursache das Ergebnis der Leistungsbeurteilung nicht verändert hätte, war ein solches Gutachten für die Entscheidung nicht erforderlich. Auch andere Anträge, etwa auf Vernehmung von Zeugen, wurden als untauglich zurückgewiesen, weil sie keine neuen, für die medizinische Leistungsbeurteilung relevanten Tatsachen versprachen.
Die Urteilslogik
Der Anspruch auf eine Erwerbsminderungsrente scheitert vor Gericht, wenn objektive Belastungsdaten der medizinischen Gutachten die subjektiv empfundene Arbeitsunfähigkeit widerlegen.
- Die Sechs-Stunden-Schwelle bestimmt den Rentenanspruch: Die volle Erwerbsminderung liegt nur dann vor, wenn das Leistungsvermögen unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes auf unter sechs Stunden täglich sinkt.
- Objektive Messdaten überwiegen subjektive Angaben: Bei sich widersprechenden Sachverständigengutachten schenken Gerichte primär messbaren Befunden und Belastungsdaten (z.B. Ergometrie) Glauben und gewichten diese höher als die rein subjektive Beschreibung der Symptomatik durch den Kläger.
- Die Ursache der Krankheit ist irrelevant: Für die Feststellung des Rentenanspruchs ist ausschließlich der aktuelle Gesundheitszustand und das daraus resultierende Leistungsvermögen maßgeblich; die ursprüngliche Ursache der Erkrankung beeinflusst die quantitative Beurteilung der Arbeitsfähigkeit nicht.
Das Sozialrecht verpflichtet Gerichte, die aktuelle funktionelle Leistungsfähigkeit strikt an der kritischen Schwelle der sechsstündigen Arbeitsfähigkeit zu messen.
Benötigen Sie Hilfe?
Unterschreitet Ihr Leistungsvermögen die tägliche Sechs-Stunden-Grenze nach ärztlichem Gutachten? Kontaktieren Sie uns für eine unverbindliche Einschätzung Ihres rechtlichen Stands.
Experten Kommentar
Herzstolpern und tiefe Erschöpfung fühlen sich für Betroffene existenzbedrohend an, doch dieses Urteil zeigt: Im Kampf um die Rente wegen Erwerbsminderung zählen messbare Fakten oft mehr als das subjektive Leid. Das Landessozialgericht machte konsequent klar, dass die bloße Existenz einer Herzerkrankung (wie die ventrikuläre Extrasystolie) nicht automatisch zu einer rentenrelevanten quantitativen Leistungseinschränkung führt. Für eine erfolgreiche Klage muss nachgewiesen werden, dass die objektiven Belastungsdaten – hier die ergometrischen Watt-Werte – die Grenze von sechs Stunden täglich zwingend verhindern. Wenn mehrere Gutachten auf objektive Messwerte setzen, die ein höheres Leistungsvermögen bestätigen, dann verliert die subjektive Symptomatik vor Gericht ihr Gewicht.
Häufig gestellte Fragen (FAQ)
Was ist die entscheidende 6-Stunden-Grenze für die Rente wegen voller Erwerbsminderung?
Die 6-Stunden-Grenze ist die juristisch unumstößliche Trennlinie, ab der die Deutsche Rentenversicherung (DRV) keinen Anspruch auf Erwerbsminderungsrente mehr anerkennt. Wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes noch mindestens sechs Stunden täglich arbeiten kann, gilt juristisch als nicht erwerbsgemindert. Diese Schwelle ist in § 43 des Sechsten Sozialgesetzbuches (SGB VI) gesetzlich verankert und definiert Ihr Restleistungsvermögen.
Die Regel: Nur wer gesundheitsbedingt weniger als drei Stunden am Tag arbeiten kann, hat Anspruch auf die volle Erwerbsminderungsrente. Können Versicherte zwischen drei und unter sechs Stunden täglich leichte Tätigkeiten verrichten, liegt nur eine teilweise Erwerbsminderung vor. Die Rentenversicherung prüft streng, ob diese körperliche oder psychische Einschränkung dauerhaft vorliegt und das Leistungsvermögen objektiv unter die kritische Schwelle drückt.
Wichtig: Für die Entscheidung zählt nicht, ob Sie Ihren zuletzt ausgeübten, spezialisierten oder körperlich anspruchsvollen Beruf noch machen können. Entscheidend ist allein der allgemeine Arbeitsmarkt. Das bedeutet, die Gutachter untersuchen jede leichte bis mittelschwere Tätigkeit, die es theoretisch gibt. Selbst wenn Sie als stellvertretende Hausdame nicht mehr tätig sein können, kann die Rentenversicherung argumentieren, dass Sie sechs Stunden für andere einfache Verrichtungen fähig sind.
Suchen Sie in Ihrem Ablehnungsbescheid oder dem ärztlichen Gutachten nach der konkreten Formulierung der Restleistungsfähigkeit; diese muss eindeutig unter sechs Stunden liegen.
Wie wird mein Restleistungsvermögen bei psychischen und körperlichen Symptomen juristisch beurteilt?
Gerichte prüfen das Zusammenspiel von körperlichen und psychischen Symptomen sehr ernsthaft. Sie lassen häufig ein separates psychiatrisches Gutachten erstellen, um Belastungen wie Dysthymie oder somatoforme Störungen zu würdigen. Allerdings reicht die bloße Diagnose einer psychischen Erkrankung allein nicht aus, um eine Erwerbsminderung festzustellen. Entscheidend ist die objektive Reduzierung des quantitativen Leistungsvermögens.
Der zentrale Fokus bei der Beurteilung liegt darauf, inwieweit die Psyche die Funktion messbar einschränkt. Trotz schwerwiegender psychischer Diagnosen kommen Gutachter oft zu dem Schluss, dass leichte körperliche Arbeit weiterhin zumutbar bleibt. Dabei muss die Tätigkeit weder Schichtdienst noch Akkordarbeit beinhalten, aber sechs Stunden täglich sollten möglich sein. Die Richter legen grundsätzlich mehr Gewicht auf funktionelle Einschränkungen, wie Konzentration über Zeit oder Stehvermögen, als auf die subjektive Belastung durch die Störung.
Ein vom Gericht bestellter Psychiater kann beispielsweise eine Dysthymie (chronische depressive Verstimmung) diagnostizieren, die betroffene Person aber dennoch als psychisch belastbar einstufen. Wenn körperliche Tests wie die Ergometrie gleichzeitig eine hohe Belastbarkeit zeigen, überwiegen diese objektiven Befunde. Das Gericht folgt dann der Einschätzung, dass trotz der psychischen Beschwerden die 6-Stunden-Grenze für allgemeine Tätigkeiten nicht unterschritten wird. Hier gilt der juristische Grundsatz Funktion vor Gefühl.
Dokumentieren Sie präzise in einem Protokoll, zu welchen konkreten Zeitpunkten psychische Symptome Sie gezwungen haben, eine leichte alltägliche Tätigkeit abzubrechen.
Wie gehe ich vor Gericht vor, wenn meine Erwerbsminderungsrente wegen Gutachten abgelehnt wurde?
Die Ablehnung Ihrer Klage durch das Sozialgericht wegen negativer Gutachten ist oft enttäuschend, aber kein Ende des Verfahrens. Sie müssen nun in der Berufungsinstanz, dem Landessozialgericht, eine klare Strategie verfolgen. Das Ziel besteht darin, neue, rentenrelevante medizinische Tatsachen zu präsentieren, um eine gerichtliche Neubewertung zu erzwingen.
Das Sozialgericht stützte sich in der ersten Instanz meist auf die ursprünglichen Gutachten der Rentenversicherung oder auf Berichte Ihrer behandelnden Ärzte. Deshalb führt die bloße Wiederholung alter Argumente in der Berufung nur selten zum Erfolg. Sie müssen dem Gericht beweisen, dass sich Ihr Gesundheitszustand seit dem letzten Urteil objektiv und relevant verschlechtert hat oder dass neue Diagnosen hinzugekommen sind. Bringen Sie neue Befunde oder Therapieansätze ein, die nach der ablehnenden Klageentscheidung entstanden sind.
Diese neuen medizinischen Tatsachen sind die einzige Möglichkeit, das Landessozialgericht zur Einholung eigener, frischer Sachverständigengutachten zu zwingen. Erst wenn neue Aspekte auf dem Tisch liegen, die die bisherige Leistungsbeurteilung infrage stellen, startet das Gericht eine umfassende Beweisaufnahme. Konkret: Eine Klägerin in Mecklenburg-Vorpommern legte Berufung ein und führte eine seit Klageablehnung neu begonnene psychische Behandlung ins Feld. Dies zwang das Landessozialgericht, eigene unabhängige Sachverständige, etwa einen Psychiater und einen Kardiologen, zu beauftragen.
Sammeln Sie alle aktuellen Behandlungsberichte, Klinikentlassungsbriefe oder Atteste, die ein Datum nach dem letzten Urteil tragen, und legen Sie diese Ihrem Anwalt für den Berufungsschriftsatz vor.
Welches ärztliche Gutachten gewichtet das Gericht bei widersprüchlichen medizinischen Diagnosen?
Wenn Gutachter zu völlig unterschiedlichen Schlussfolgerungen kommen, führt das Gericht keine Stimmenauszählung durch. Die Regel: Das Gericht wägt die Gutachten nach dem Prinzip der Beweiswürdigung (§ 128 SGG) ab. Richter folgen der Expertise, deren Schlussfolgerungen sich am besten durch objektive Befunde belegen lassen. Subjektive Schilderungen oder rein auf Schmerzempfinden basierende Aussagen wiegen juristisch weniger stark als harte, messbare Fakten.
Der Fokus des Gerichts liegt auf der wissenschaftlichen Fundierung des Gutachtens. Ein Bericht, der sich primär auf die alleinigen subjektiven Symptome des Klägers stützt, kann verworfen werden, selbst wenn er den Rentenanspruch befürwortet. Entscheidend ist, ob die attestierte Leistungseinschränkung durch instrumentelle Untersuchungen wie Belastungs-EKGs oder Labortests gestützt wird. Konkret: Zeigen Tests, dass ein Kläger eine Leistung von 75 bis 100 Watt erbringen konnte, spricht das gegen eine extreme Einschränkung der Belastbarkeit.
Kommt es zu einem fundamentalen Widerspruch zwischen zwei gerichtlich bestellten Sachverständigen, zieht das Gericht oft einen dritten, entscheidenden Gutachter hinzu. Dieser sogenannte Obergutachter, häufig ein Chefarzt einer unabhängigen Klinik, soll den Expertenstreit klären. Die Richter folgten im Fall der Hausdame der Mehrheit der Experten, deren Aussagen auf klaren medizinischen Daten basierten, und nicht dem einen Gutachten, das sich zu stark auf subjektive Schilderungen stützte.
Wird in Ihrem stützenden Gutachten eine Therapie-Intensivierung empfohlen, beginnen Sie diese unverzüglich und legen die Nachweise zur Stärkung der Glaubwürdigkeit dem Gericht vor.
Zählen nur objektive Testergebnisse oder auch meine subjektiven Schmerzen für die Entscheidung der Richter?
Die Richter nehmen subjektive Schmerzen, chronische Erschöpfung oder Symptome wie Herzstolpern zwar zur Kenntnis. Für die juristische Entscheidung ist jedoch das objektiv messbare Leistungsvermögen entscheidend. Solche Beschwerden führen nur dann zur Rente wegen Erwerbsminderung, wenn sie nachweislich die täglich mögliche Arbeitszeit quantitativ reduzieren. Das Gericht konzentriert sich primär auf die Funktion und die daraus resultierende Belastbarkeit, nicht auf die bloße Intensität des persönlichen Leidens.
Der Grund für diese strenge Sichtweise liegt in der sozialmedizinischen Relevanz. Belastende Symptome müssen nicht zwangsläufig das tägliche Arbeitspensum unter die Sechs-Stunden-Grenze drücken, solange die medizinischen Hauptfunktionen intakt sind. Beispielsweise stellte ein Gericht fest, dass Herzrhythmusstörungen zwar belastend sind, sie aber bei einer grundsätzlich guten Herzfunktion nicht zwangsläufig zu einer Reduzierung der täglichen Arbeitszeit führen müssen. Entscheidend ist, ob die Erkrankung die Ausdauer und das Durchhaltevermögen objektiv einschränkt.
Besondere Bedeutung hat, warum ein Kläger Belastungstests abbricht. Melden Gutachter einen Abbruch wegen „allgemeiner muskulärer Erschöpfung“, werten Richter dies nicht als krankheitsbedingte Einschränkung. Das Gericht ignoriert zudem die Ursache der Erkrankung: Es lehnt Anträge auf historische Gutachten (etwa zu Doping-Spätfolgen) ab, da die Kenntnis der Ursache das aktuelle Leistungsvermögen nicht beeinflusst.
Lassen Sie Ihren behandelnden Arzt stets klar dokumentieren, dass Ihre subjektiven Beschwerden innerhalb der Belastungstests zur sofortigen Unterbrechung oder zum Abbruch der Tätigkeit führten.
Hinweis: Bitte beachten Sie, dass die Beantwortung der FAQ Fragen keine individuelle Rechtsberatung darstellt und ersetzen kann. Alle Angaben im gesamten Artikel sind ohne Gewähr. Haben Sie einen ähnlichen Fall und konkrete Fragen oder Anliegen? Zögern Sie nicht, uns zu kontaktieren. Wir klären Ihre individuelle Situation und die aktuelle Rechtslage.
Glossar – Fachbegriffe kurz erklärt
Beweiswürdigung
Die Beweiswürdigung ist die hoheitliche Aufgabe des Gerichts, alle im Prozess gesammelten Beweismittel, insbesondere widersprüchliche Gutachten, sorgfältig und frei zu gewichten. Juristen nennen diesen Vorgang die richterliche Überzeugungsbildung, welche maßgeblich bestimmt, welche Fakten in einem komplexen Fall als wahr gelten. Nach § 128 SGG muss das Sozialgericht das Gesamtergebnis des Verfahrens umfassend berücksichtigen, um Rechtssicherheit zu gewährleisten.
Beispiel: Im vorliegenden Fall wandte der Senat die Beweiswürdigung an, indem er die objektiv messbaren Daten der Belastungs-EKGs höher bewertete als das einzelne Gutachten, welches zu stark auf subjektiven Symptomen basierte.
Gerichtsbescheid
Ein Gerichtsbescheid ist eine spezielle Form der gerichtlichen Entscheidung in Verwaltungssachen und Sozialangelegenheiten, die ohne mündliche Verhandlung ergeht, wenn der Sachverhalt als hinreichend klar angesehen wird. Dieses Verfahren soll eine schnelle und effiziente Entscheidungsfindung ermöglichen, besonders wenn die Beweislage eindeutig ist und die rechtlichen Voraussetzungen unstreitig erscheinen.
Beispiel: Das Sozialgericht Stralsund wies die Klage der ehemaligen Hausdame mit einem Gerichtsbescheid ab, weil die übereinstimmenden ärztlichen Einschätzungen die Voraussetzungen für eine Erwerbsminderungsrente klar als nicht erfüllt ansahen.
Objektive Befunde
Objektive Befunde sind messbare medizinische Daten und Ergebnisse von instrumentellen Untersuchungen wie Belastungs-EKGs, Labortests oder bildgebenden Verfahren, die unabhängig von den subjektiven Schilderungen des Patienten sind. Das Gesetz legt auf objektive Befunde besonderen Wert, weil sie eine wissenschaftlich fundierte Grundlage für die Beurteilung des Leistungsvermögens liefern und die Gefahr der Übertreibung von Symptomen minimieren.
Beispiel: Die Richter folgten der Mehrheit der Gutachter, da diese ihre Einschätzung auf objektive Befunde stützten, welche zeigten, dass die Klägerin eine Leistung von 75 bis 100 Watt erbringen konnte.
Quantitatives Leistungsvermögen
Das Quantitative Leistungsvermögen beschreibt die reine Dauer oder die Menge der Arbeit, die ein Versicherter trotz seiner gesundheitlichen Einschränkungen am allgemeinen Arbeitsmarkt täglich noch verrichten kann. Bei der Prüfung der Erwerbsminderungsrente konzentrieren sich Gutachter und Gerichte primär auf dieses quantitative Element, das heißt die Stunden pro Tag, und nicht auf die qualitative Anforderung des zuletzt ausgeübten Berufs.
Beispiel: Das Landessozialgericht stellte fest, dass die Klägerin trotz psychischer Diagnosen über ein quantitatives Leistungsvermögen von mindestens sechs Stunden verfügte, solange die Tätigkeit keine Akkordarbeit beinhaltete.
Restleistungsvermögen
Als Restleistungsvermögen bezeichnen Juristen die verbleibende Arbeitsfähigkeit eines Versicherten, nachdem die gesundheitlichen Einschränkungen durch Krankheit oder Behinderung abschließend bewertet wurden. Die Deutsche Rentenversicherung ermittelt das Restleistungsvermögen anhand von Gutachten, um festzustellen, ob die Person unter, gleich oder über der kritischen Sechs-Stunden-Grenze liegt.
Beispiel: Die ärztlichen Gutachten in der ersten Instanz attestierten der Klägerin ein Restleistungsvermögen von sechs Stunden und mehr täglich, weshalb das Sozialgericht die Klage als unbegründet ansah.
Sechs-Stunden-Grenze
Die Sechs-Stunden-Grenze, welche in § 43 SGB VI gesetzlich verankert ist, stellt die absolut entscheidende Schwelle im Sozialrecht dar, ab der ein Versicherter als nicht erwerbsgemindert gilt. Wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes noch mindestens sechs Stunden täglich arbeiten kann, hat keinen Anspruch auf die volle Rente wegen Erwerbsminderung, da das Gesetz eine klare Abgrenzung schaffen will.
Beispiel: Im Zentrum des jahrelangen juristischen Konflikts stand die Frage, ob die Klägerin krankheitsbedingt nachweislich unter diese kritische Sechs-Stunden-Grenze gedrückt wurde oder ob sie leichte Tätigkeiten noch länger verrichten konnte.
Das vorliegende Urteil
Landessozialgericht Mecklenburg-Vorpommern – Az.: L 7 R 107/15 – Urteil vom 01.07.2020
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Ich bin Dr. Christian Gerd Kotz, Rechtsanwalt und Notar in Kreuztal. Als Fachanwalt für Verkehrs- und Versicherungsrecht vertrete ich Mandant*innen bundesweit. Besondere Leidenschaft gilt dem Sozialrecht: Dort analysiere ich aktuelle Urteile und erkläre praxisnah, wie Betroffene ihre Ansprüche durchsetzen können. Seit 2003 leite ich die Kanzlei Kotz und engagiere mich in mehreren Arbeitsgemeinschaften des Deutschen Anwaltvereins.


