Ein Mann mit Analphabetismus und einer Somatisierungsstörung kämpfte vor Gericht um die Erhöhung seines GdB 70 und die wichtigen Merkzeichen B H RF Voraussetzungen. Obwohl seine Behinderungen ständige Begleitung erforderten, scheiterte er an der juristischen Definition der Hilflosigkeit und der strengen Prüflogik der GdB-Bildung.
Übersicht
- Das Wichtigste in Kürze
- Der Fall vor Gericht
- Die Urteilslogik
- Benötigen Sie Hilfe?
- Experten Kommentar
- Häufig gestellte Fragen (FAQ)
- Warum wird mein Grad der Behinderung (GdB) bei mehreren Leiden nicht einfach addiert?
- Reichen meine intellektuelle Einschränkungen für das Merkzeichen H oder B aus?
- Wie kann ich den Gesamt-GdB auf 80 erhöhen, wenn sich meine Leiden überschneiden?
- Welche Voraussetzungen muss ich für die Befreiung vom Rundfunkbeitrag (RF) erfüllen?
- Was gilt juristisch als „Verrichtung des täglichen Lebens“ für das Merkzeichen H?
- Glossar – Fachbegriffe kurz erklärt
- Das vorliegende Urteil
Zum vorliegenden Urteil Az.: L 3 SB 46/15 | Schlüsselerkenntnis | FAQ | Glossar | Kontakt
Das Wichtigste in Kürze
- Gericht: Landessozialgericht Mecklenburg-Vorpommern
- Datum: 25.06.2020
- Aktenzeichen: L 3 SB 46/15
- Verfahren: Berufung
- Rechtsbereiche: Sozialrecht, Grad der Behinderung (GdB), Merkzeichen
- Das Problem: Ein Kläger mit leichten Intelligenzdefiziten, Analphabetismus, Angst- und Schmerzstörungen forderte einen höheren Grad der Behinderung (mindestens 80) sowie die Merkzeichen B (Begleitung), RF (Rundfunkbefreiung) und H (Hilflosigkeit). Der Beklagte hatte zuvor einen Gesamt-GdB von 70 festgestellt und alle Merkzeichen abgelehnt.
- Die Rechtsfrage: Genügen die psychischen und körperlichen Einschränkungen des Klägers für einen Grad der Behinderung von 80 und müssen ihm die begehrten Merkzeichen für Hilflosigkeit, Rundfunkbefreiung oder ständige Begleitung zuerkannt werden?
- Die Antwort: Nein. Das Gericht bestätigte den Gesamt-GdB von 70. Die weiteren Leiden des Klägers (z. B. Wirbelsäulenprobleme) führten wegen Überschneidungen mit den psychischen Störungen nicht zu einer Erhöhung auf 80. Die strengen medizinischen Anforderungen für die Merkzeichen H, B und RF wurden nicht erfüllt.
- Die Bedeutung: Das Urteil bekräftigt die strengen Maßstäbe zur Bildung des Gesamt-GdB bei Mehrfachbehinderungen und stellt klar, dass Analphabetismus allein keinen Anspruch auf die Merkzeichen H oder B begründet.
Der Fall vor Gericht
Warum ist eine Behinderung von 70 nicht automatisch die Summe einzelner Leiden?
Ein Mann kann weder lesen noch schreiben. In einer Welt aus Schildern, Fahrplänen und Formularen ist das eine unsichtbare Mauer. Dazu kommen Panikattacken in Menschenmengen und eine ständige Angst. Eine Behörde erkannte seine schwere Behinderung an und stufte ihn mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 70 ein.

Der Mann sagte: Das reicht nicht. Seine Realität sei schlimmer. Er kämpfte um einen höheren GdB und um drei Buchstaben, die sein Leben verändern könnten: B für Begleitung, H für Hilflosigkeit und RF für die Befreiung vom Rundfunkbeitrag. Vor dem Landessozialgericht Mecklenburg-Vorpommern ging es um die Frage: Wann ist eine Beeinträchtigung so gravierend, dass der Staat nicht nur Schutz, sondern auch permanente Unterstützung gewähren muss?
Der Kläger wollte einen Gesamt-GdB von mindestens 80 erreichen. Seine Argumentation schien logisch: Neben der psychischen Belastung – bewertet mit einem Einzel-GdB von 70 – litte er unter schweren orthopädischen Problemen. Seine Wirbelsäule wurde mit einem GdB von 30 eingestuft, sein Herzleiden mit 20. Rechnet man das zusammen, müsste doch mehr als 70 herauskommen.
Das Gericht durchkreuzte diese simple Addition. Es folgte den strengen Regeln der Versorgungsmedizinischen Grundsätze (VMG). Diese schreiben vor, dass man Grade der Behinderung nicht einfach addieren darf. Man beginnt mit dem höchsten Einzelwert – hier die psychische Störung mit 70 – und prüft dann, ob die anderen Leiden das Gesamtbild der Beeinträchtigung spürbar verschlimmern.
Hier lag der Denkfehler des Klägers. Das Gericht sah eine massive Überschneidung zwischen seinen Leiden. Die chronischen Schmerzen im Rücken waren laut Gutachten eng mit seiner Somatisierungsstörung verknüpft – einer psychischen Erkrankung, bei der seelische Konflikte körperliche Symptome hervorrufen. Die Wirbelsäulenprobleme erhöhten die Gesamtbelastung also nicht eigenständig, sondern waren Teil des bereits mit 70 bewerteten seelischen Leidens. Die weiteren körperlichen Gebrechen mit Werten von 20 oder 10 waren für sich genommen nicht schwer genug, um den Gesamt-GdB auf die nächste Stufe von 80 zu heben. Der Grad der Behinderung blieb bei 70 zementiert.
Reicht Analphabetismus für das Merkzeichen B (ständige Begleitung) aus?
Der Kläger war im Alltag aufgeschmissen. Er konnte keine Fahrpläne lesen, keine Fahrkarten am Automaten kaufen, keine Straßenschilder entziffern. Für ihn war klar: Ohne eine Begleitperson kommt er nicht von A nach B. Er beantragte das Merkzeichen B, das zur Mitnahme einer unentgeltlichen Begleitperson in öffentlichen Verkehrsmitteln berechtigt.
Das Gericht verneinte den Anspruch. Die Begründung ist ein Lehrstück über die präzise Logik des Sozialrechts. Das Merkzeichen B ist kein eigenständiges Recht. Es ist an andere Merkzeichen gekoppelt, etwa G (erhebliche Gehbehinderung) oder H (Hilflosigkeit). Keines davon lag beim Kläger vor.
Das Gericht prüfte seine Situation trotzdem im Detail. Es stellte fest: Ja, der Mann hat Orientierungsprobleme in fremder Umgebung. Aber er ist nicht außerstande, sich Hilfe zu organisieren. Er kann sprechen. Er kann Passanten nach dem Weg fragen. Er kann Bahnpersonal um Unterstützung bitten. Diese Fähigkeit zur Kommunikation macht den entscheidenden Unterschied. Die Richter argumentierten, es sei ihm zuzumuten, diese Hilfen aktiv in Anspruch zu nehmen. Der Analphabetismus allein begründet keine so umfassende Störung, dass eine ständige Begleitung medizinisch notwendig wäre. Die praktischen Nachteile, so das Gericht, erreichen nicht die Schwelle der rechtlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen B.
Wann liegt „Hilflosigkeit“ im Sinne des Gesetzes vor?
Das Wort „hilflos“ beschreibt das Gefühl des Klägers im Alltag treffend. Er benötigte Hilfe bei Behördengängen, beim Ausfüllen von Anträgen, bei allem, was mit Schrift zu tun hat. Folgerichtig beantragte er das Merkzeichen H (Hilflosigkeit).
Auch hier folgte das Gericht einer strengen Definition, die sich von der alltagssprachlichen Bedeutung des Wortes löst. Hilflosigkeit im Sinne des Sozialgesetzbuchs (§ 152 Abs. 4 SGB IX) liegt nur dann vor, wenn eine Person bei den regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen des täglichen Lebens auf fremde Hilfe angewiesen ist. Das Gesetz meint damit die grundlegendsten Dinge: Körperpflege, An- und Auskleiden, Essen und Trinken, der Gang zur Toilette.
Ein psychiatrischer Gutachter hatte dem Kläger in all diesen Bereichen volle Selbstständigkeit bescheinigt. Der Kläger konnte sich selbst versorgen. Seine Abhängigkeit von fremder Hilfe bezog sich auf intellektuelle, nicht auf körperliche Verrichtungen. Das Ausfüllen eines Formulars ist keine Verrichtung des täglichen Lebens im Sinne dieser Vorschrift. Die Richter stellten klar: So belastend die Situation für den Kläger auch ist – die juristische Definition von Hilflosigkeit erfüllt sie nicht.
Warum wurde die Befreiung vom Rundfunkbeitrag verweigert?
Zuletzt scheiterte der Kläger mit dem Antrag auf das Merkzeichen RF. Dieses hätte ihn von der Zahlung des Rundfunkbeitrags befreit. Die Hürden dafür sind im Rundfunkbeitragsstaatsvertrag klar definiert. Eine Befreiung aus gesundheitlichen Gründen gibt es im Wesentlichen für zwei Gruppen: Blinde und Gehörlose oder Menschen mit einem GdB von mindestens 80, die wegen ihres Leidens ständig nicht an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen können.
Beide Voraussetzungen lagen nicht vor. Der Kläger war weder blind noch gehörlos. Sein GdB betrug nach der Entscheidung des Gerichts weiterhin 70, nicht 80. Zudem konnte er nicht nachweisen, dass er permanent von öffentlichen Veranstaltungen ausgeschlossen ist. Seine Angststörung und die Panikattacken schränkten ihn zwar ein. Er hatte aber – in Begleitung – an den Gerichtsverhandlungen teilgenommen. Diese Teilnahme pulverisierte das Argument des ständigen und ausnahmslosen Ausschlusses. Ohne diese zwingende Voraussetzung gab es für das Gericht keine rechtliche Grundlage, dem Antrag stattzugeben. Die Berufung des Klägers wurde vollständig zurückgewiesen.
Die Urteilslogik
Das Sozialrecht definiert Einschränkungen nicht nach dem subjektiven Empfinden, sondern nach strengen, juristisch festgelegten Schwellenwerten.
- Additive Logik scheitert bei der GdB-Bildung: Bei der Berechnung des Gesamt-Grades der Behinderung addieren Gutachter Einzelwerte nicht, sondern bestimmen den höchsten Wert und prüfen, ob sich andere Leiden spürbar und eigenständig auf das Gesamtbild auswirken.
- Symptomüberschneidung neutralisiert Mehrfachleiden: Überlappen sich verschiedene Leiden – etwa wenn orthopädische Schmerzen direkt als Teil einer bereits hoch bewerteten psychischen Störung gelten – verhindert diese Verknüpfung eine Erhöhung des Gesamt-GdB.
- Fähigkeit zur Kommunikation ersetzt ständige Begleitung: Die Notwendigkeit einer ständigen Begleitung (Merkzeichen B) setzt eine medizinische Unfähigkeit zur Orientierung voraus; solange eine betroffene Person sprechen und aktiv um Hilfe bitten kann, gilt Analphabetismus nicht als ausreichender Grund.
- Hilflosigkeit bemisst sich an körperlicher Grundversorgung: Juristische Hilflosigkeit (Merkzeichen H) beschränkt sich strikt auf die Notwendigkeit permanenter Unterstützung bei grundlegenden, regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen des körperlichen Alltags und ignoriert Abhängigkeiten bei intellektuellen oder administrativen Aufgaben.
Die Gesetze ziehen scharfe Trennlinien zwischen subjektiver Betroffenheit und den objektiven Kriterien für staatlich garantierte Mehrleistungen.
Benötigen Sie Hilfe?
Stehen Sie vor der Frage der Gesamt-GdB-Bildung bei psychischen und physischen Einschränkungen? Kontaktieren Sie uns für eine sachliche erste Einschätzung Ihrer Erfolgsaussichten.
Experten Kommentar
Viele Antragsteller tappen in dieselbe Falle: Sie rechnen ihre Einzel-Leiden zusammen und erwarten automatisch einen höheren Gesamt-GdB. Dieses Urteil zeigt schonungslos, dass die Versorgungsmedizinischen Grundsätze (VMG) genau das verhindern, indem sie die höchste Störung als Ausgangspunkt nehmen und Überschneidungen herausrechnen. Wer eine GdB-Erhöhung durchsetzen will, muss nachweisen, dass die nachgeordneten Leiden das Gesamtbild eigenständig und massiv verschlimmern, was gerade bei psychosomatischen Verknüpfungen schwer ist. Zudem macht das Gericht klar: Massive intellektuelle Nachteile wie Analphabetismus begründen keine Merkzeichen wie B oder H, da die juristische Definition zwingend eine Hilflosigkeit bei grundlegenden körperlichen Verrichtungen oder eine ständige Begleitung aufgrund von Orientierungslosigkeit fordert.
Häufig gestellte Fragen (FAQ)
Warum wird mein Grad der Behinderung (GdB) bei mehreren Leiden nicht einfach addiert?
Die einfache Addition Ihrer einzelnen Grade der Behinderung ist nach deutschem Sozialrecht untersagt. Das Landessozialgericht und die Behörden folgen den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen (VMG). Diese Regeln schreiben vor, dass der Gesamt-GdB immer auf dem schwerwiegendsten Einzelwert basiert. Eine simple Addition (z.B. 70 + 30) würde die tatsächliche Schwere der funktionellen Einschränkung oft überschätzen.
Die Regel: Die Berechnung startet stets mit dem höchsten GdB-Wert, den ein Leiden erreicht, und dieser Wert bildet die Basis. Anschließend prüfen Gutachter, ob weitere Leiden eine unabhängige funktionelle Beeinträchtigung darstellen. Oft sehen Gerichte eine massive Überschneidung zwischen verschiedenen gesundheitlichen Problemen. Kleinere Leiden werden nicht eigenständig bewertet, wenn sie als Folge oder eng verknüpft mit dem Hauptleiden gelten. Die Behörde nimmt an, dass die Gesamtbelastung bereits durch den höchsten Einzel-GdB erfasst ist.
Konkret: Leidet eine Person unter einer psychischen Störung (GdB 70) und orthopädischen Schmerzen (GdB 30), sehen die VMG diese Schmerzen häufig als Teil einer Somatisierungsstörung. Das kleinere Leiden wird dann im bereits hohen Wert von 70 „aufgesogen“. Die Aufwertung auf die nächste 10er-Stufe (etwa von 70 auf 80) erfolgt nur, wenn die Nebenerkrankung das Gesamtbild spürbar und unabhängig von der Haupteinschränkung verschlimmert. Die VMG durchkreuzen damit die Logik der Addition.
Um eine Höherstufung zu erreichen, fordern Sie von Ihrem Facharzt einen Zusatzbericht an, der die Eigenständigkeit Ihrer kleineren Leiden explizit belegt und dokumentiert.
Reichen meine intellektuelle Einschränkungen für das Merkzeichen H oder B aus?
Juristisch betrachtet reichen intellektuelle Einschränkungen wie Analphabetismus oder die Schwierigkeit, Formulare auszufüllen, meist nicht aus, um die Merkzeichen H oder B zu erhalten. Das Sozialrecht definiert Hilflosigkeit und Begleitbedürftigkeit viel enger, als es die allgemeine Alltagssprache suggeriert. Entscheidend ist nicht die intellektuelle, sondern die körperliche Abhängigkeit von fremder Hilfe. Wer im modernen Alltag bei administrativen Prozessen auf Unterstützung angewiesen ist, erfüllt damit die juristischen Anforderungen in der Regel nicht.
Die Definition der Hilflosigkeit (Merkzeichen H) ist streng auf die körperliche Selbstversorgung beschränkt, wie es im Sozialgesetzbuch vorgeschrieben ist. Dazu gehören grundlegende Verrichtungen wie Körperpflege, An- und Auskleiden sowie die Nahrungsaufnahme. Wenn ein Gutachter in diesen Kernbereichen volle Selbstständigkeit attestiert, wird H verweigert. Intellektuelle Abhängigkeit, etwa bei Behördengängen oder dem Umgang mit Schriftverkehr, erfüllt die juristische Schwelle der Hilflosigkeit explizit nicht.
Auch das Merkzeichen B (ständige Begleitung) ist bei kognitiven Defiziten schwer zu erlangen, da es oft an eine erhebliche Gehbehinderung oder Hilflosigkeit gekoppelt ist. Gerichte prüfen primär, ob die betroffene Person unfähig ist, sich Orientierungshilfe zu organisieren. Solange die Fähigkeit zur aktiven Kommunikation erhalten bleibt, ist es zumutbar, Passanten oder Bahnpersonal aktiv um Hilfe zu bitten. Die Unfähigkeit, Fahrpläne zu lesen, begründet keine ständige Begleitung, weil die Kommunikationsfähigkeit den entscheidenden Unterschied macht.
Erstellen Sie ein detailliertes Protokoll, das dokumentiert, wie oft Sie körperlich (nicht nur administrativ) auf Hilfe angewiesen sind, um die Kriterien der Selbstversorgung zu erfüllen.
Wie kann ich den Gesamt-GdB auf 80 erhöhen, wenn sich meine Leiden überschneiden?
Der Sprung von einem Grad der Behinderung (GdB) 70 auf 80 ist juristisch anspruchsvoll, weil diese Stufe eine neue, unabhängige Qualität der Gesamtbeeinträchtigung erfordert. Die Behörde nimmt oft eine funktionelle Überschneidung Ihrer Leiden an. Um das zu widerlegen, müssen Sie beweisen, dass die kleineren Leiden – etwa orthopädische Probleme mit GdB 30 – eine eigene, objektiv messbare Einschränkung verursachen.
Gerichte beginnen bei der Berechnung des Gesamt-GdB immer mit dem höchsten Einzelwert, hier GdB 70, und prüfen dann die Auswirkungen weiterer Beeinträchtigungen. Liegt eine schwere psychische Störung vor, sehen Gutachter körperliche Schmerzen, wie Rückenschmerzen (GdB 30), häufig nur als deren Begleiterscheinung. Dies geschieht, wenn sie die körperlichen Symptome eng mit einer Somatisierungsstörung verknüpft sehen. Dadurch wird das kleinere Leiden im GdB 70 „aufgesogen“ und die Gesamtbelastung steigt nicht auf die nächste Stufe.
Um die Schwelle 80 zu erreichen, müssen Sie die Eigenständigkeit der Behinderung nachweisen. Dokumentieren Sie präzise, welche spezifischen Bewegungen die körperliche Behinderung mechanisch blockiert, die von der psychischen Störung unberührt bleiben. Es genügt nicht, nur eine Diagnose vorzulegen; der zusätzliche GdB von 30 muss das Gesamtbild der Beeinträchtigung spürbar und unabhängig von der bereits bewerteten Haupteinschränkung verschlimmern.
Lassen Sie radiologische Befunde wie MRT-Aufnahmen von einem unabhängigen Facharzt begutachten, um die anatomische Ursache Ihrer mechanischen Einschränkung zu belegen.
Welche Voraussetzungen muss ich für die Befreiung vom Rundfunkbeitrag (RF) erfüllen?
Die Anforderungen für das Merkzeichen RF sind extrem hoch und streng juristisch definiert. Sie müssen entweder blind oder gehörlos sein oder, bei anderen Leiden, einen Grad der Behinderung (GdB) von mindestens 80 nachweisen. Entscheidend ist darüber hinaus, dass Sie aufgrund Ihrer Beeinträchtigung ständig und ausnahmslos von der Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen ausgeschlossen sind.
Für psychische oder motorische Einschränkungen gilt die Schwelle von GdB 80 zwingend. Ein GdB von 70 reicht in diesen Fällen grundsätzlich nicht aus, um die Befreiung zu erhalten. Die juristische Hürde liegt vor allem in der Auslegung des Wortes „ständig“. Diese Regelung ist primär für Personen konzipiert, denen die Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen physisch oder sensorisch unmöglich ist, wie Rollstuhlfahrer, die keine öffentlichen Verkehrsmittel nutzen können.
Nehmen wir an, Sie leiden unter schweren Angststörungen und vermeiden die Öffentlichkeit konsequent. Selbst eine einmalige Teilnahme an einem öffentlichen Termin, etwa einer Gerichtsverhandlung – selbst in Begleitung –, kann den Antrag gefährden. Das Gericht wertet dies als Gegenbeweis dafür, dass Sie nicht ausnahmslos ausgeschlossen sind. Diese Anwesenheit kann das gesamte Argument des ständigen Ausschlusses sofort zunichtemachen.
Überprüfen Sie sofort alle Dokumente, um sicherzustellen, dass Ihr GdB mindestens 80 beträgt, da der Antrag aus psychischen Gründen ohne diesen Wert faktisch chancenlos ist.
Was gilt juristisch als „Verrichtung des täglichen Lebens“ für das Merkzeichen H?
Die juristische Definition der „Verrichtungen des täglichen Lebens“ für das Merkzeichen H (Hilflosigkeit) ist extrem eng gefasst. Sie beschränkt sich ausschließlich auf die grundlegende körperliche Selbstversorgung. Intellektuelle oder administrative Aufgaben, selbst wenn sie tägliche Hilfe erfordern, zählen explizit nicht dazu. Diese strenge Auslegung unterscheidet sich fundamental von der alltagssprachlichen Bedeutung des Wortes „hilflos“.
Das Sozialgesetzbuch legt fest, dass Hilflosigkeit nur vorliegt, wenn eine Person bei regelmäßig wiederkehrenden Tätigkeiten auf fremde Unterstützung angewiesen ist. Dieser Katalog umfasst primär Handlungen zur Erhaltung der Hygiene und des Lebens. Dazu gehören die Körperpflege, das An- und Auskleiden, die Nahrungsaufnahme sowie Ausscheidungen. Die Abhängigkeit muss sich somit auf diese essenziellen, körperlichen Bereiche beziehen.
Wer zwar körperlich selbstständig ist, aber aufgrund intellektueller Defizite massive Unterstützung bei bürokratischen oder organisatorischen Dingen benötigt, erfüllt das Kriterium nicht. Konkret stellte das Gericht fest, dass das Ausfüllen eines Formulars keine Verrichtung des täglichen Lebens im Sinne dieser Vorschrift darstellt. Die Gutachter prüfen, ob Sie in allen Bereichen der körperlichen Selbstversorgung volle Verrichtungen des täglichen Lebens ausführen können.
Kontaktieren Sie einen Anwalt für Sozialrecht oder eine Beratungsstelle, um die genauen Zeitvorgaben der Versorgungsmedizinischen Grundsätze (VMG) für die benötigte tägliche Hilfszeit zu prüfen.
Hinweis: Bitte beachten Sie, dass die Beantwortung der FAQ Fragen keine individuelle Rechtsberatung darstellt und ersetzen kann. Alle Angaben im gesamten Artikel sind ohne Gewähr. Haben Sie einen ähnlichen Fall und konkrete Fragen oder Anliegen? Zögern Sie nicht, uns zu kontaktieren. Wir klären Ihre individuelle Situation und die aktuelle Rechtslage.
Glossar – Fachbegriffe kurz erklärt
Funktionelle Überschneidung
Funktionelle Überschneidung beschreibt im Sozialrecht den Zustand, wenn verschiedene gesundheitliche Leiden sich nicht unabhängig voneinander auswirken, sondern ihre Beeinträchtigungen wechselseitig bedingen oder sich überlagern. Das Gesetz verhindert damit, dass die Gesamtbehinderung durch eine simple Addition der Einzelwerte überbewertet wird; stattdessen wird das kleinere Leiden im höchsten GdB-Wert „aufgesogen“.
Beispiel: Das Landessozialgericht sah eine massive funktionelle Überschneidung zwischen den orthopädischen Schmerzen des Klägers und seiner psychischen Somatisierungsstörung, weshalb keine Höherstufung des Gesamt-GdB erfolgte.
Grad der Behinderung (GdB)
Der Grad der Behinderung (GdB) ist eine Maßeinheit, die amtlich feststellt, wie stark die Teilhabe einer Person am gesellschaftlichen Leben durch eine gesundheitliche Einschränkung behindert wird. Dieser Wert wird in 10er-Stufen von 20 bis 100 festgelegt und dient als Grundlage für die Gewährung von Nachteilsausgleichen wie Steuervorteilen oder besonderem Kündigungsschutz.
Beispiel: Obwohl der Kläger einen Einzel-GdB von 70 für seine psychische Störung hatte, reichten seine weiteren Leiden nicht aus, um den Gesamt-GdB auf die juristisch wichtige Stufe 80 zu erhöhen.
Merkzeichen B (Begleitung)
Dieses Merkzeichen wird jenen schwerbehinderten Menschen zuerkannt, die nachweislich und ständig auf eine Begleitperson angewiesen sind, um öffentliche Verkehrsmittel oder andere Orte sicher nutzen zu können. Das Merkzeichen B ist fast immer an andere Kriterien wie Hilflosigkeit (H) oder eine erhebliche Gehbehinderung (G) gekoppelt und erlaubt der Begleitperson die unentgeltliche Mitfahrt.
Beispiel: Das Gericht lehnte das Merkzeichen B ab, da der Analphabetismus des Klägers zwar Orientierungsprobleme verursachte, er aber noch in der Lage war, sich aktiv Hilfe bei Passanten zu organisieren.
Merkzeichen H (Hilflosigkeit)
Juristen verstehen unter dem Merkzeichen H eine Person, die bei den regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen des täglichen Lebens dauerhaft fremde Hilfe benötigt. Die Definition ist extrem eng und beschränkt sich im Sozialgesetzbuch (SGB IX) auf die grundlegende körperliche Selbstversorgung (Körperpflege, Nahrungsaufnahme), um die höchste staatliche Unterstützung zielgenau bereitzustellen.
Beispiel: Der Kläger erfüllte die strengen Voraussetzungen für das Merkzeichen H nicht, weil er in allen körperlichen Kernbereichen selbstständig war und seine Hilfsbedürftigkeit nur intellektuelle Tätigkeiten betraf.
Merkzeichen RF (Rundfunkbeitrag)
Dieses spezielle Merkzeichen befreit schwerbehinderte Menschen von der Pflicht zur Zahlung des Rundfunkbeitrags, wenn sie entweder blind/gehörlos sind oder aufgrund ihrer Leiden ständig von der Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen ausgeschlossen sind. Für alle nicht-sensorischen Leiden ist zwingend ein Grad der Behinderung (GdB) von mindestens 80 erforderlich, um überhaupt eine juristische Grundlage für die Befreiung zu schaffen.
Beispiel: Die Richter verweigerten dem Kläger das Merkzeichen RF, weil sein GdB unter 80 lag und seine dokumentierte Teilnahme an der Gerichtsverhandlung das Argument des ständigen Ausschlusses von der Öffentlichkeit widerlegte.
Somatisierungsstörung
Eine Somatisierungsstörung ist eine psychische Erkrankung, bei der Betroffene wiederholt körperliche Symptome – wie beispielsweise chronische Schmerzen – erleben, für die sich keine organische Ursache finden lässt. Dieses Krankheitsbild ist im Sozialrecht oft relevant, da es die enge Verknüpfung zwischen seelischem und körperlichem Leiden belegt und damit eine funktionelle Überschneidung verschiedener GdB-Werte begründen kann.
Beispiel: Im vorliegenden Fall sah das Gutachten die Wirbelsäulenprobleme des Klägers als eng verknüpft mit seiner Somatisierungsstörung an, wodurch diese Leiden gemeinsam bewertet wurden.
Versorgungsmedizinische Grundsätze (VMG)
Die Versorgungsmedizinischen Grundsätze (VMG) sind ein detailliertes Regelwerk, das von Behörden und Gerichten im Sozialrecht zwingend angewendet werden muss, um objektive Maßstäbe für die Bewertung und Berechnung von Behinderungen zu schaffen. Diese Richtlinien schreiben unter anderem vor, dass Grade der Behinderung nicht einfach addiert werden dürfen, sondern vom schwerwiegendsten Einzelwert ausgegangen werden muss.
Beispiel: Das Landessozialgericht folgte den VMG strikt und stellte fest, dass die einfache Addition der Einzel-GdB-Werte durch den Kläger nicht zulässig war.
Das vorliegende Urteil
Landessozialgericht Mecklenburg-Vorpommern – Az.: L 3 SB 46/15 – Urteil vom 25.06.2020
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Ich bin Dr. Christian Gerd Kotz, Rechtsanwalt und Notar in Kreuztal. Als Fachanwalt für Verkehrs- und Versicherungsrecht vertrete ich Mandant*innen bundesweit. Besondere Leidenschaft gilt dem Sozialrecht: Dort analysiere ich aktuelle Urteile und erkläre praxisnah, wie Betroffene ihre Ansprüche durchsetzen können. Seit 2003 leite ich die Kanzlei Kotz und engagiere mich in mehreren Arbeitsgemeinschaften des Deutschen Anwaltvereins.


