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Merkzeichen G – erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr

Landessozialgericht Hamburg – Az.: L 4 SB 7/09 – Urteil vom 12.04.2011

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 10. Februar 2009 aufgehoben und die Klage abgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über das Vorliegen der Voraussetzungen für das Merkzeichen „G“ (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) nach dem Neunten Sozialgesetzbuch – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen – (SGB IX).

Bei dem am XXX 1965 geborenen Kläger war zuletzt mit Bescheid vom 20. April 2004 ein Grad der Behinderung (GdB) von 80 wegen einer psychischen Krankheit festgestellt worden. Mit Antrag vom 28. September 2006 machte er eine Verschlimmerung der festgestellten Behinderung und das Vorliegen der Voraussetzungen für das Merkzeichen „G“ geltend. Die Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. H. gab in ihrem Befundbericht vom 10. Oktober 2006 unter anderem an, der Kläger leide trotz Medikation ständig unter akustischen Halluzinationen und werde im Straßenverkehr durch imperative Stimmen erheblich beeinträchtigt. Durch die imperative Stimme bestehe eine erhebliche psychisch bedingte Einschränkung des Gehvermögens. Ortsübliche Strecken könnten zu Fuß nicht bewältigt werden, da eine erhebliche Orientierungslosigkeit vorliege. Nach Auswertung dieses Befundberichts lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 23. Oktober 2006 den Antrag auf Neufeststellung ab. Mit seinem Widerspruch machte der Kläger geltend, wegen der bei ihm bestehenden paranoid-halluzinatorischen Schizophrenie komme es zu Störungen der Orientierungsfähigkeit, aufgrund derer er nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten und Gefahren für sich und Andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurücklegen könne, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden. Die innere imperative Stimme würde ihm z. B. befehlen, unter Nichtbeachtung von Ampelanlagen Kreuzungen zu überqueren oder auch zum Teil auf der Straße zu gehen. Nach Einholung der Stellungnahme der Nervenärztin Dr. B. vom 9. Dezember 2006, nach welcher es sich bei den vom Kläger vorgetragenen Beschwerden nicht um eine hirnorganisch bedingte Orientierungsstörung handele und die der psychischen Erkrankung zuzuordnenden Symptome nicht die Annahme einer erheblichen Gehbehinderung rechtfertigen würden, wurde der Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 20. Dezember 2006 zurückgewiesen. Mit seiner rechtzeitig gegen diese Entscheidung erhobenen Klage hat der Kläger sein Begehren weiter verfolgt. Das Sozialgericht hat das Gutachten des Nervenarztes Prof. Dr. M. vom 25. Juli 2007 eingeholt. Diesem gegenüber hat der Kläger bei der Untersuchung am 23. Juli 2007 angegeben, seit dem Alter von siebzehn oder achtzehn unter akustischen Halluzinationen zu leiden, die mal mehr und mal weniger stark ausgeprägt seien. Führend sei dabei die Stimme seines Vaters, die sein Tun kommentiere, ihn beleidige oder ihm auch Anweisungen gebe. Zeitweilig seien auch andere Stimmen dabei, die er nicht identifizieren könne. Die Stimme des Vaters höre er mehrfach täglich. Am Untersuchungstag habe er die Kreuzung G./ G1 einfach schräg überquert, weil sein Vater ihm das befohlen habe. Die akustischen Halluzinationen würden ihn verunsichern und führten zu einer Desorientiertheit. Zu einem Verkehrsunfall sei es allerdings noch nie gekommen. Daneben habe er manchmal das Gefühl, irgendwie verfolgt oder beobachtet zu werden. Der Sachverständige ist in seinem Gutachten zu dem Ergebnis gelangt, beim schizophrenen, unter imperativen Stimmen leidenden Kläger liege keine Störung der Orientierungsfähigkeit vor, wie sie für das Merkzeichen „G“ erforderlich wäre, zumal die akustischen Halluzinationen keinen außergewöhnlich starken verhaltenssteuernden Einfluss hätten. Dem auf Antrag des Klägers nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zum Sachverständigen bestellten Nervenarzt Dr. H1 gegenüber hat der Kläger anlässlich der Untersuchung am 2. April 2008 angegeben, die Stimme des Vaters sei eigentlich ständig bei ihm – so erhalte er Befehle von ihm schon für banale Alltagsangelegenheiten, etwa welches Brot er kaufen solle oder welchen Weg er gehen solle. Der Vater verwickele ihn geradezu in Gespräche, was ihn völlig verwirre. Manchmal könne er seinen Weg nicht mehr ohne weiteres fortsetzen und benötige gelegentlich zwei Stunden, um nahe gelegene Ziele zu erreichen. Außerdem fühle er sich vom BND verfolgt und beobachtet. Dr. H1 ist in seinem Gutachten vom 11. Juni 2008 zu dem Ergebnis gekommen, der Kläger leide unter einer paranoid-halluzinatorischen Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis. Die Auswirkungen des Fremdbeeinflussungserlebens auf die Verhaltenssteuerung ließen sich den Orientierungsstörungen geistig behinderter Menschen gleichsetzen. Die Voraussetzungen für das Merkzeichen „G“ würden daher vorliegen. Nachdem die Beklagte dieser Einschätzung unter Hinweis auf die Stellungnahme der Nervenärztin H.-K. vom 22. Juli 2008, in der unter anderem darauf hingewiesen wird, dass nicht glaubhaft gemacht werden könne, dass es beim Kläger aufgrund des Stimmenhörens zu Verwirrtheitszuständen komme, die sich als Orientierungsstörungen auswirkten, widersprochen hatte, hat das Sozialgericht den Kläger durch die Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. L. begutachten lassen. Dieser gegenüber hat der Kläger bei der Untersuchung am 21. November 2008 angegeben, das Stimmenhören habe um das 16. Lebensjahr herum begonnen. Richtig schlimm sei es ab etwa 2000 geworden. Durch die Einnahme der verordneten Medikamente sei die Stimme des Vaters nicht mehr so aggressiv und herabwürdigend, unverändert mische sich der Vater aber ständig in seine Entscheidungen ein und erteile ihm Befehle und Aufträge, denen er Folge leisten müsse. In der Wohnung fühle er sich nicht wohl. Er habe das Gefühl – vermutlich über den Fernseher – abgehört und beobachtet zu werden, eventuell vom BND. Wenn er außerhalb der Wohnung unterwegs sei, komme es regelhaft dazu, dass er nicht an den Ort gelange, wo er eigentlich hin wolle, weil sein Vater ihm auftrage, andere Wege einzuschlagen. Aufgrund des Geheißes des Vaters und der Ablenkung durch dessen Kommentare habe er auch Straßen schon nicht an den Ampeln, sondern einfach so überquert, ohne auf den Straßenverkehr zu achten. In dem schriftlichen Gutachten vom 13. Januar 2009 hat Dr. L. unter anderem beschrieben, dass sich in der Untersuchungssituation formale und inhaltliche Denkstörungen, kognitive Störungen und ein akustisch-halluzinatorisches Erleben zeigten, welches den Kläger dahingehend beeinträchtigt habe, dass er aus dem Kontakt gegangen sei, sich kurz auch im Blickkontakt abgewendet habe, der Stimme des Vaters geantwortet habe und anschließend den vormals geführten Gedankengang nicht habe fortsetzen können. Die Sachverständige ist zu dem Ergebnis gelangt, beim Kläger bestehe eine chronische paranoid-halluzinatorische Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis. Der Kläger stehe täglich unter dem Einfluss imperativer Stimmen, die seine Handlungsfähigkeit auch im Straßenverkehr dergestalt einengten, dass er die Befehle befolgen müsse, auch wenn dies seinen persönlichen Wünschen oder einem verkehrsgerechten Verhalten entgegenstehe. Zusätzlich komme es im Moment der akustischen Halluzinationen zu einer Störung der Konzentration- und Aufmerksamkeit, die sich in der Untersuchung mehrfach kurzfristig (im Sekundenbereich liegend) gezeigt habe. Zu einer Orientierungsstörung im engeren Sinne, d.h. einer Minderung der räumlichen, zeitlichen oder personellen Orientierung komme es dabei aber nicht. Entfernt könnten die Augenblicke des akuten Einwirkens der akustischen Halluzinationen und die aus ihnen resultierenden Verhaltensweisen mit komplex-fokalen hirnorganischen Anfällen verglichen werden, wobei es aber im Gegensatz zu diesen nicht zu einer quantitativen Bewusstseinstrübung komme. Im Termin am 10. Februar 2009 hat die Sachverständige ihr Gutachten erläutert und unter anderem ausgeführt, dass in den Momenten des halluzinatorischen Erlebens zwar eine qualitative Bewusstseinsstörung vorliege, jedoch keine quantitative im Sinne einer Beeinträchtigung der Wachheit.

Durch Urteil vom 10. Februar 2009 hat das Sozialgericht die angefochtenen Bescheide der Beklagten aufgehoben und diese verurteilt, beim Kläger das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen „G“ festzustellen. Beim Kläger liege zwar eine Beeinträchtigung der Gehfähigkeit weder aufgrund orthopädischer noch aufgrund innerer Leiden vor, jedoch sei er aufgrund seiner halluzinatorischen Wahrnehmungen und des imperativen Charakters der Stimme des Vaters gleichwohl dem in Teil D Nr. 1 der Anlage zu § 2 der Verordnung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes (Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV)) aufgeführten Personenkreis der Menschen mit hirnorganischen/geistigen Erkrankungen gleichzustellen, die in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt sind. Die halluzinatorische Wahrnehmung der Stimme seines Vaters beeinflusse den freien Willensentschluss des Klägers und befehle ihm beispielsweise, anstatt gerade aus zu gehen nach links abzubiegen. Dadurch werde seine Fähigkeit gestört, bestimmte Wege zu nehmen, weshalb er häufig längere Zeit benötige, um sein Ziel zu erreichen. Zwar werde die Fähigkeit, sich örtlich zurechtzufinden, nicht eingeschränkt, jedoch sei der Kläger nicht in der Lage, entsprechend seiner räumlichen Orientierung zu handeln. Ähnlich wie bei Personen mit einer Orientierungsstörung könne er nicht den richtigen Weg einschlagen und sich nicht zielgerichtet fortbewegen. Darüber hinaus sei der Kläger während des Auftretens der Stimmen abgelenkt und in seiner Konzentrationsfähigkeit und Aufmerksamkeit beeinträchtigt. Dies sei vergleichbar mit der Situation bei komplex-fokalen Anfällen, bei denen der Betroffene auch nicht mehr in der Lage sei, auf äußere Einflüsse zu reagieren. Im Hinblick auf die Häufigkeit würden die beim Kläger mehrmals täglich auftretenden Situationen halluzinatorischen Erlebens die Häufigkeit kleiner Anfälle bei einem nach der VersMedV für die Annahme einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit ausreichenden Anfallsleiden sowohl mittlerer Häufigkeit als auch mit häufigen Anfällen übersteigen. Zwar würden beim Kläger keine Bewusstseinsbeeinträchtigungen wie bei komplex-fokalen Anfällen vorliegen, jedoch komme es durch die deutlich stärker ausgeprägte Häufigkeit der halluzinatorischen Symptomatik zu einer insgesamt mindestens ebenso starken Beeinträchtigung.

Gegen das ihr am 20. Februar 2009 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 11. März 2009 Berufung eingelegt und zur Begründung ausgeführt, die vom Sozialgericht vorgenommene Gleichstellung der halluzinatorischen Wahrnehmungen des Klägers mit dem in Teil D Nr. 1 der VersMedV aufgeführten Personenkreis mit hirnorganischen bzw. geistigen Erkrankungen sei nicht zulässig. Das Gehvermögen des Klägers sei weder durch Anfälle noch durch Orientierungsstörungen beeinträchtigt. Anfälle seien in keiner Weise zu steuern. Der Kläger höre zwar die Stimme seines Vaters, jedoch beinhalte dies keinen vollkommenen Steuerungsverlust. Vielmehr diskutiere er mit der von ihm wahrgenommenen Stimme und setze sich mit ihr auseinander. Zwar bewirke die Stimme eine Einflussnahme in der Weise, dass der Kläger nicht die Wege gehen könne, die ihm vorschwebten, jedoch folge er den Richtungsanweisungen im Rahmen der geltenden Verkehrsvorschriften. Wäre dies nicht so, wäre dem Kläger bei dem langjährig bestehenden Krankheitsbild längst etwas zugestoßen. Auch eine Störung der Orientierungsfähigkeit sei nicht gegeben. Der Kläger wisse immer genau, wo er sich befinde. Zwar müsse er nach seinen Angaben aufgrund der Anweisungen der wahrgenommenen Stimme häufig andere Wege gehen als er eigentlich wünsche, jedoch sei es ihm aufgrund seiner guten Orientierungsfähigkeit immer gelungen, letztlich sein Ziel zu erreichen. Der Kläger sei nach dessen Angaben auch in Lage, ortsübliche Wegstrecken von 2 Kilometern zurückzulegen.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 10. Februar 2009 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 10. Februar 2009 zurückzuweisen.

Er ist der Auffassung, das Sozialgericht habe ihm zu Recht und mit zutreffender Begründung das Merkzeichen „G“ zugesprochen. Die Beklagte übersehe bei ihrer Argumentation, dass nach den Ausführungen der Sachverständigen Dr. L. in den Momenten des halluzinatorischen Erlebens eine qualitative Bewusstseinsstörung vorliege, wie sie auch bei komplex-fokalen Anfällen vorhanden sei. Hinzu komme die Häufigkeit der Situationen halluzinatorischen Erlebens, durch die es zu einer mindestens gleichen Beeinträchtigung wie bei einem Anfallsleiden mittlerer Häufigkeit komme. Entgegen den Ausführungen der Beklagten halte er sich beim Befolgen der Anweisungen des Vaters auch nicht immer an bestehende Verkehrsregeln. So habe er z.B. die stark befahrene G. einfach so überquert, ohne auf den Verkehr zu achten. Zusätzlich bestünden Konzentrations-und Aufmerksamkeitsstörungen infolge akustischer Halluzinationen. Letztlich könne er zwar die geforderten 2 Kilometer zurücklegen, jedoch nicht in den ebenfalls geforderten 30 Minuten.

Hinsichtlich des weiteren Vorbringens der Beteiligten und des Sachverhalts im Übrigen wird Bezug genommen auf den Inhalt der in der Sitzungsniederschrift vom 12. April 2011 aufgeführten Akten und Unterlagen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Beratung gewesen sind.

Entscheidungsgründe

Die statthafte, form- und fristgerecht eingelegte und auch im Übrigen zulässige Berufung (§§ 143, 144, 151 Abs. 1 SGG) der Beklagten ist begründet. Zu Unrecht hat das Sozialgericht der Klage auf Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen für das Merkzeichen „G“ stattgegeben. Der Bescheid vom 23. Oktober 2006 und der Widerspruchsbescheid vom 20. Dezember 2006, mit denen die Beklagte den Erlass des von dem Kläger begehrten feststellenden Verwaltungsaktes abgelehnt hat, sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten, weil er keinen Anspruch auf Zuerkennung des Merkzeichens „G“ hat.

Anspruchsgrundlage für die begehrte Feststellung ist § 69 Abs. 4 SGB IX. Hiernach stellen die zuständigen Behörden neben einer Behinderung auch gesundheitliche Merkmale fest, die Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilausgleichen für schwerbehinderte Menschen sind. Nach § 3 Abs. 2 der Schwerbehindertenausweisverordnung ist auf dem Schwerbehindertenausweis das Merkzeichen „G“ einzutragen, wenn der schwerbehinderte Mensch in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt im Sinne des § 146 Abs. 1 SGB IX ist. Diese Voraussetzungen liegen dann vor, wenn der schwerbehinderte Mensch infolge der Einschränkung des Gehvermögens, auch durch innere Leiden, oder infolge von Anfällen oder von Störungen der Orientierungsfähigkeit nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden (§§ 145 Abs.1, 146 Abs. 1 SGB IX). Hierbei handelt es sich um Wegstrecken von 2 km Länge bei einer Fußwegdauer von etwa einer halben Stunde (Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 10. Dezember 1987 – 9a RVs 11/87 –, BSGE 62, 273).

Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben ist der Kläger in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr nicht erheblich beeinträchtigt im Sinne des § 146 Abs. 1 SGB IX. Die Vorschrift wird durch die gemäß § 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX auch für die Feststellungen im Schwerbehindertenrecht geltende VersMedV vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I, 2412) bzw. bis zu deren Inkrafttreten durch die „Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht“ (herausgegeben vom Bundesministerium für Gesundheit und soziale Sicherung bzw. Bundesministerium für Arbeit und Soziales, hier: Ausgaben 2004, 2005 bzw. 2008 – AHP 2004/2005/2008) konkretisiert. Diese rechtsnormähnlichen (vgl. hierzu: BSG, Urteil vom 11. Oktober 1994 – 9 RVs 1/93 –, BSGE 75, 176) Anhaltspunkte bildeten das Ergebnis langer medizinischer Erfahrung und stellten ein geschlossenes Beurteilungsgefüge dar (BSG, Urteil vom 23. Juni 1993 – 9/9a RVs 1/91 –, BSGE 72, 285).

Zutreffend hat das Sozialgericht in seiner Entscheidung dargelegt, dass die bei dem Kläger vorliegenden psychischen Störungen und die damit verbundenen Funktionsbeeinträchtigungen nicht zu den in den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen aufgeführten Regelfällen zählt. Denn er leidet unstreitig weder unter einer sich auf die Gehfähigkeit auswirkenden Funktionsstörung der unteren Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule, die für sich einen GdB von wenigstens 50 bedingt, noch liegen bei ihm Behinderungen vor, die sich auf die Gehfähigkeit besonders auswirken wie z.B. eine Versteifung des Hüftgelenks, Versteifungen der Knie- oder Fußgelenke in ungünstiger Stellung oder arteriellen Verschlusskrankheiten. Er leidet auch nicht unter einer vergleichbaren Behinderung des Bewegungsapparates. Ferner liegt bei dem Kläger kein inneres Leiden vor, welches eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit verursacht, wie sie z.B. bei Herzschäden mit Beeinträchtigung der Herzleistung oder bei Atembehinderungen mit dauernder Einschränkung der Lungenfunktion wenigstens mittleren Grades anzunehmen ist. Ebenso fehlt es nach den vorliegenden medizinischen Unterlagen und den Ergebnissen der Begutachtungen an einer Störung der Orientierungsfähigkeit infolge geistiger Erkrankung, die zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit führen kann sowie an hirnorganischen Anfällen (vgl. VersMedV D 1 Punkt d; AHP 2004/ 2005/ 2008 Punkt 30 Abs. 3 bis 5).

Zwar ist den Ausführungen des Sozialgerichts zuzustimmen, dass die rechtliche Prüfung eines Anspruchs auf das Merkzeichen „G“ nicht darauf zu beschränken ist, ob der Kläger zu einer der in der VersMedV bzw. in den AHP (vgl. VersMedV D 1; AHP 2004/2005/2008 Punkt 30) genannten Personengruppe gehört. Denn es handelt sich hierbei nicht um eine abschließende Aufzählung des anspruchsberechtigten Personenkreises, sondern lediglich um Regelbeispiele, die für andere Behinderte als Vergleichsmaßstab dienen (BSG, Urteil vom 24. April 2008 – B 9/9a SB 7/06 R –; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 11. Dezember 2008 – L 11 SB 193/08 –, juris). Bei den beschriebenen Regelfällen handelt es sich um Beispiele, in denen nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse die Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich „G“ als erfüllt anzusehen sind. Aus ihnen ergibt sich, welche Funktionsstörungen in welcher Ausprägung vorliegen müssen, bevor angenommen werden kann, dass ein Behinderter infolge einer Einschränkung des Gehvermögens „in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist“. Damit wird durch die Konkretisierung dem Umstand Rechnung getragen, dass das menschliche Gehvermögen keine statische Messgröße ist, sondern von verschiedenen Faktoren geprägt und variiert wird. Darunter sind neben den anatomischen Gegebenheiten des Körpers, also Körperbau und etwaige Behinderungen, vor allem der Trainingszustand, die Tagesform, Witterungseinflüsse, die Art des Gehens (ökonomische Beanspruchung der Muskulatur, Gehtempo und Rhythmus) sowie Persönlichkeitsmerkmale, vor allem die Motivation, zu nennen. Von diesen Faktoren filtern die AHP bzw. die VersMedV all jene heraus, die nach dem Gesetz außer Betracht zu bleiben haben, weil sie die Bewegungsfähigkeit des schwerbehinderten Menschen im Straßenverkehr nicht infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung seines Gehvermögens, sondern möglicherweise aus anderen Gründen erheblich beeinträchtigen (zuletzt: BSG, Urteil vom 24. April 2008, a.a.O.).

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze erfüllt der Kläger nicht die Voraussetzungen für die Anerkennung des Merkzeichens „G“. Denn die bei ihm vorliegenden psychischen Störungen sind nicht mit den in der VersMedV genannten Personengruppen vergleichbar. Seine Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr ist nicht infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung seines Gehvermögens, sondern aus anderen – nicht zu berücksichtigenden – Gründen beeinträchtigt. Das Gehvermögen des Klägers, also die organisch bedingte Fähigkeit, Wege in dem geforderten Umfang zurückzulegen, ist nicht eingeschränkt. So kann der Kläger schon nach seinen eigenen Angaben ohne weiteres eine Wegstrecke von mindestens 2000 m auch im Straßenverkehr innerhalb von etwa 30 Minuten zurücklegen. Zwar ist er aufgrund der akustischen Halluzinationen und der imperativen Stimme insbesondere seines Vaters häufig gezwungen, eine andere Wegstrecke als eigentlich gewollt einzuschlagen, jedoch gelangt er – wenn auch auf Umwegen – in der Regel trotzdem zu seinem ursprünglichen Ziel. Dass er dafür wegen der längeren Wegstrecke auch eine längere Zeit als geplant benötigt, ist nachvollziehbar, ändert aber nichts daran, dass er in der Lage ist, eine Strecke von 2000 Metern innerhalb etwa einer halben Stunde zu Fuß zurückzulegen. Eine Störung der Orientierungsfähigkeit liegt beim Kläger ebenfalls nicht vor. Zwar mag er sich teilweise nicht entsprechend seiner Orientierung fortbewegen können, jedoch weiß er dabei auch nach seinen eigenen Angaben immer, wo er sich aufhält und erreicht dementsprechend auch in der Regel sein ursprüngliches Ziel, wenn auch mit zum Teil erheblichen Umwegen. Die Fälle der die Fortbewegungsfähigkeit beeinträchtigenden Gründe, welche bei der Zuerkennung des Merkzeichens „G“ einbezogen werden dürfen, sind nach der Rechtsprechung des BSG, der auch der erkennende Senat folgt, aber abschließend geregelt (vgl. BSG, Beschluss vom 10. Mai 1994 – 9 BVs 45/93 –, juris). Hierzu gehören lediglich die „Anfälle“ und „Störungen der Orientierungsfähigkeit“. Als nicht in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt gelten daher psychisch erkrankte Personen, deren Leiden mit sonstigen Beeinträchtigungen oder Störungen einhergehen, wie etwa Verstimmungen, Antriebsminderung, Angstzuständen (vgl. BSG, Beschluss vom 10. Mai 1994, a.a.O) oder auch zu Umwegen nötigende imperative Stimmen. Eine Abweichung von der Regelung des § 146 Abs. 1 S. 1. SGB IX (konkretisiert durch die AHP bzw. VersMedV) ist nicht möglich, weil der Gesetzgeber auch in Kenntnis der Entscheidung des BSG vom 10. Mai 1994 keine andere Regelung der Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs „G“ getroffen hat (vgl. zum Ganzen: LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 28. September 2010 – L 11 SB 77/07 –, juris).

Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts sind die akustischen Halluzinationen nicht mit hirnorganischen Anfällen oder hypoglykämischen Schocks (vgl. VersMedV D 1 Punkt e; AHP 2004/2005/2008 Punkt 30 Abs. 4) vergleichbar. Nach den medizinischen Unterlagen und insbesondere dem Gutachten der Sachverständigen Dr. L. vom 13. Januar 2009 leidet der Kläger an einer chronischen paranoid-halluzinatorischen Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis. Dadurch bedingt kommt es zu formalen und inhaltlichen Denkstörungen, kognitiven Störungen und einem akustisch-halluzinatorisches Erleben. Diese genannten Symptome beeinträchtigen zwar teilweise die Fortbewegung. Das akustisch-halluzinatorische Erleben, dass wesentlich bestimmt wird durch das Hören der befehlenden Stimme des Vaters, beruht aber im Gegensatz zu hirnorganischen Anfällen oder hypoglykämischen Schocks nicht auf neurologischen und internistische Ursachen. Insoweit kann den Ausführungen der Sachverständigen Dr. L., die die Symptome des akustisch-halluzinatorischen Erlebens mit denjenigen von komplex-fokalen Anfällen im Sinne der Vergleichsgruppe gleichsetzt, weil die Attacken weitgehend unbeeinflusst vom Willen des Klägers eintreten, nicht gefolgt werden. Denn mit „Anfällen“ im Sinne von § 146 Abs. 1 S. 1 SGB IX sind nur hirnorganische Anfälle, insbesondere epileptische Anfälle, aber auch hypoglykämische Schocks (bei Zuckerkranken) gemeint, also solche Anfälle, die mit Bewusstseinsverlust und Sturzgefahr verbunden sind (BSG, Beschluss vom 10. Mai 1994, a.a.O.). Solche Funktionsbeeinträchtigungen bestehen im vorliegenden Fall aber auch nach den Feststellungen der Sachverständigen Dr. H1 und Dr. L. nicht. Zwar kommt es insbesondere nach den Ausführungen der Nervenärztin Dr. L. in den Momenten des halluzinatorischen Erlebens zu einer Bewusstseinsstörung in Form einer Auffassungs- und Konzentrationsstörung. Ein Bewusstseinsverlust tritt jedoch nach allen medizinischen Erkenntnissen ebenso wenig ein wie eine Sturzgefahr. Daran vermag auch die vom Sozialgericht hervorgehobene Häufigkeit der halluzinatorischen Wahrnehmungen nichts zu ändern. Selbst wenn sie permanent auftreten, sind sie hinsichtlich ihrer Auswirkungen wegen des fehlenden Bewusstseinsverlustes und damit verbundener Sturzgefahr nicht mit den Einschränkungen im Straßenverkehr vergleichbar, denen ein Mensch mit einem Anfallsleiden unterliegt. Letztlich stellen sich die durch das Hören der Stimme des Vaters bedingten Bewusstseinsstörungen in Form von Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen im Ergebnis nicht wesentlich anders dar als entsprechende Ablenkungen durch eine den Kläger tatsächlich begleitende und permanent auf ihn einredende und hinsichtlich der Wahl der Wegstrecke einwirkende Person. Dass eine solche ständige Begleitung, mag sie für den Betreffenden noch so störend sein, nicht die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens „G“ erfüllt, bedarf keiner weiteren Ausführungen. Dies gilt auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass durch entsprechende Ablenkungen, egal ob durch die halluzinatorisch vernommene Stimme des Vaters oder Einwirkungen einer tatsächlich vorhandenen Person, gelegentlich verkehrswidriges Verhalten hervorgerufen wird.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Der Senat hat die Revision gegen dieses Urteil nicht zugelassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder Nr. 2 SGG nicht vorliegen.

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