Trotz eines GdB von 60 und schwerer Krebserkrankung wurden der Klägerin die Merkzeichen G und B Voraussetzungen verwehrt. Das Landessozialgericht musste klären, ob episodische, subjektiv stark empfundene Ängste für eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit ausreichen.
Übersicht
- Das Wichtigste in Kürze
- Der Fall vor Gericht
- Reicht gefühlte Hilflosigkeit für die Merkzeichen G und B?
- Warum lehnte die Behörde die Merkzeichen von Anfang an ab?
- Welche Kriterien legt das Gesetz für eine „erhebliche Gehbehinderung“ an?
- Wie bewertete das Gericht die einzelnen Beschwerden der Frau?
- Was passierte mit dem Antrag auf rückwirkende Anerkennung?
- Die Urteilslogik
- Benötigen Sie Hilfe?
- Experten Kommentar
- Häufig gestellte Fragen (FAQ)
- Muss eine erhebliche Gehbehinderung für das Merkzeichen G immer durch organische Schäden belegt werden?
- Wann gelten psychische Erkrankungen oder Schwindel als ausreichende Beeinträchtigung für das Merkzeichen G?
- Welche Befunde und Atteste benötige ich, um die Kriterien der Versorgungsmedizinischen Grundsätze zu erfüllen?
- Was kann ich tun, wenn mein Antrag auf Merkzeichen G oder B abgelehnt wurde und ich Widerspruch einlegen will?
- Welche zusätzlichen Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit ich auch das Merkzeichen B für eine Begleitperson erhalte?
- Glossar – Fachbegriffe kurz erklärt
- Das vorliegende Urteil
Zum vorliegenden Urteil Az.: L 7 SB 56/22 | Schlüsselerkenntnis | FAQ | Glossar | Kontakt
Das Wichtigste in Kürze
- Gericht: Landessozialgericht Sachsen-Anhalt
- Datum: 12.11.2024
- Aktenzeichen: L 7 SB 56/22
- Verfahren: Berufung
- Rechtsbereiche: Schwerbehindertenrecht, Nachteilsausgleiche
- Das Problem: Eine Klägerin forderte die rückwirkende Feststellung eines GdB von 60 ab Anfang 2019. Sie wollte zudem die Merkzeichen G (erhebliche Gehbeeinträchtigung) und B (Begleitperson) erhalten. Die Behörde hatte den GdB 60 erst ab Mai 2020 anerkannt und die Merkzeichen abgelehnt.
- Die Rechtsfrage: Muss die Behörde der Klägerin die Merkzeichen G und B zuerkennen? Und muss der festgestellte GdB früher als von der Behörde festgelegt gelten?
- Die Antwort: Nein. Das Gericht wies die Berufung zurück. Die medizinischen Unterlagen belegen keine dauerhafte und erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit für die Merkzeichen G und B. Die Forderung nach einer Rückdatierung des GdB war in diesem Verfahren unzulässig.
- Die Bedeutung: Der Anspruch auf Merkzeichen setzt den Nachweis dauerhafter und schwerwiegender Funktionsstörungen voraus. Episodische Beschwerden, wie vorübergehende Koliken oder nur manchmal auftretender Schwindel, reichen dafür nicht aus.
Der Fall vor Gericht
Reicht gefühlte Hilflosigkeit für die Merkzeichen G und B?
Eine Frau, die bereits eine Rente wegen voller Erwerbsminderung bezog, fühlte sich in der Öffentlichkeit unsicher. Nach einer Brustkrebserkrankung kämpfte sie mit Ängsten, Orientierungsproblemen und Schwindel. Sie brauche Hilfe beim Ein- und Aussteigen in Bus und Bahn, argumentierte sie. Für sie war der Fall klar: Ihr Zustand rechtfertigte die Merkzeichen G für eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit und B für die Notwendigkeit einer ständigen Begleitperson. Die zuständige Behörde und später die Gerichte sahen das anders. Sie prüften nicht das Gefühl der Hilflosigkeit, sondern eine Liste starrer Kriterien. Der Fall vor dem Landessozialgericht Sachsen-Anhalt zeigt, wie scharf die juristische Definition von „Gehbehinderung“ von der persönlichen Wahrnehmung abweichen kann.
Warum lehnte die Behörde die Merkzeichen von Anfang an ab?

Die Frau stellte im Mai 2020 einen Antrag auf Neufeststellung ihres Grades der Behinderung (GdB). Die Behörde erkannte ihre Leiden – allen voran die Folgen der Krebserkrankung in Heilungsbewährung und eine psychische Beeinträchtigung – an und setzte einen GdB von 60 fest. Damit galt sie als schwerbehindert. Den Antrag auf die Merkzeichen G und B lehnte die Behörde aber ab. Ihre Begründung stützte sich auf die eingereichten ärztlichen Unterlagen. Aus diesen Berichten ging nach Ansicht des Amtes kein Zustand hervor, der die strengen gesetzlichen Voraussetzungen für eine Mobilitätseinschränkung erfüllt. Weder die orthopädischen Befunde noch die Berichte über Schwindel, Hörprobleme oder innere Leiden belegten eine dauerhafte, gravierende Störung der Gehfähigkeit. Die Frau legte Widerspruch ein, blieb aber erfolglos und zog vor das Sozialgericht.
Welche Kriterien legt das Gesetz für eine „erhebliche Gehbehinderung“ an?
Das Gericht prüfte den Fall nicht nach dem subjektiven Empfinden der Klägerin. Es orientierte sich an den klaren Vorgaben des Sozialgesetzbuchs Neuntes Buch (SGB IX) und den dazugehörigen Versorgungsmedizinischen Grundsätzen (VMG). Das Gesetz definiert eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit (§ 229 Abs. 1 SGB IX) als einen Zustand, bei dem eine Person infolge einer gesundheitlichen Störung nicht mehr in der Lage ist, Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen, die üblicherweise noch zu Fuß bewältigt werden. Die VMG konkretisieren das. Das Merkzeichen G wird typischerweise zuerkannt, wenn Funktionsstörungen der Beine oder der Lendenwirbelsäule vorliegen, die allein schon einen GdB von 50 verursachen. Alternativ kommen schwere innere Leiden infrage, die die Gehfähigkeit ähnlich stark einschränken – etwa schwere Herz- oder Lungenleiden. Auch dauerhafter Schwindel, Anfallsleiden oder bestimmte Orientierungsstörungen können das Merkzeichen rechtfertigen. Der entscheidende Punkt ist die Dauerhaftigkeit und der Schweregrad der Einschränkung auf die reine Gehfähigkeit.
Wie bewertete das Gericht die einzelnen Beschwerden der Frau?
Der Senat des Landessozialgerichts nahm sich die medizinischen Unterlagen der Klägerin vor und glich sie mit den Kriterien der VMG ab. Das Ergebnis war eine systematische Verneinung der Voraussetzungen für das Merkzeichen G.
- Orthopädische Leiden: Der Entlassungsbericht ihrer Reha-Klinik beschrieb ihre Beine als frei beweglich. Es gab keine Anzeichen für eine Wurzelreizsymptomatik. Ärzte empfahlen ihr Spaziergänge. Damit fehlte der typische Befund einer schweren Funktionsstörung der unteren Gliedmaßen.
- Innere Leiden: Die Frau litt unter Nieren- und Blasenkoliken. Das Gericht stufte diese Beschwerden als episodisch ein. Sie dauerten nach eigenen Angaben der Klägerin selten länger als zwei Wochen an. Ein dauerhafter, die Gehfähigkeit einschränkender Zustand lag nicht vor.
- Schwindel: Die Klägerin berichtete von wiederkehrenden Schwindelanfällen. Die HNO-ärztlichen Befunde schlossen aber eine organische Ursache wie eine Störung des Gleichgewichtsorgans (Labyrinth) aus. Kreislaufparameter waren unauffällig. Ihre eigene Angabe, der Schwindel trete „manchmal“ auf, reichte dem Gericht nicht für die Annahme einer dauerhaften Beeinträchtigung.
- Orientierungsstörungen: Die Seh- und Hörtests zeigten keine gravierenden Mängel. Ihr Sehvermögen war mit Brille gut. Eine leichte Schwerhörigkeit lag vor, die Frau wünschte aber keine Hörgeräteversorgung. Aus diesen Befunden ließ sich keine Orientierungsstörung ableiten, die das Gehen im Straßenverkehr gefährlich machen würde.
- Psychische Erkrankung: Die diagnostizierte Depression und die Ängste der Frau wurden anerkannt. Es fehlte aber der Nachweis, dass diese psychische Belastung zu konkreten Orientierungsstörungen im Sinne der VMG führte. Die Tatsache, dass die Klägerin aktiv Fahrrad fuhr und spazieren ging, sprach aus Sicht der Richter gegen eine derart tiefgreifende Störung.
Da die Voraussetzungen für das Merkzeichen G nicht erfüllt waren, scheiterte automatisch der Anspruch auf das Merkzeichen B. Dieses setzt in der Regel voraus, dass bereits eine erhebliche Gehbehinderung vorliegt.
Was passierte mit dem Antrag auf rückwirkende Anerkennung?
Die Klägerin wollte ihren GdB von 60 nicht erst ab Mai 2020, sondern bereits ab Januar 2019 anerkannt bekommen. Das Sozialgericht hatte diesen Teil der Klage als unzulässig abgewiesen. Der Grund war prozessualer Natur: Die Behörde hatte über diesen Punkt noch gar nicht abschließend entschieden. Sie hatte in einem Schreiben angekündigt, eine gesonderte Entscheidung über die Rückdatierung zu treffen. Solange diese Verwaltungsentscheidung nicht vorliegt, kann ein Gericht sie auch nicht überprüfen. Es fehlt schlicht der Gegenstand, den man anfechten könnte. Das Landessozialgericht schloss sich dieser Begründung an und wies auch diesen Teil der Berufung zurück.
Die Urteilslogik
Die Gewährung von Mobilitätsmerkzeichen hängt nicht von der gefühlten Hilflosigkeit des Antragstellers ab, sondern von der objektiven und dauerhaften Einschränkung der Gehfähigkeit.
- Objektive Messbarkeit vor subjektivem Empfinden: Die juristische Prüfung einer erheblichen Gehbehinderung stützt sich strikt auf die Vorgaben der Versorgungsmedizinischen Grundsätze und fordert den Nachweis einer gravierenden, messbaren organischen oder psychischen Funktionsstörung, die das selbstständige Zurücklegen üblicher Wegstrecken dauerhaft verhindert.
- Dauerhaftigkeit entscheidet über die Anerkennung: Das Gesetz setzt für die Zuerkennung des Merkzeichens G eine dauerhafte Einschränkung voraus; episodisch auftretende Leiden, wie zeitweiliger Schwindel, kolikartige Schmerzen oder phasenweise Angstzustände, begründen keine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit.
- Gerichte überprüfen nur abgeschlossene Verfahren: Ein Gericht kann einen Anspruch auf rückwirkende Feststellung des Grades der Behinderung (GdB) erst dann prozessual zulassen, wenn die zuständige Verwaltungsbehörde eine abschließende, anfechtbare Entscheidung über das Begehren getroffen hat.
Das Sozialrecht trennt strikt zwischen der Anerkennung des Leidens und der Zuerkennung von Merkzeichen, die eine spezifische funktionelle Einschränkung der Mobilität voraussetzen.
Benötigen Sie Hilfe?
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Experten Kommentar
Wer sich im Alltag unsicher fühlt oder unter Angst leidet, glaubt oft, das Merkzeichen G stehe ihm automatisch zu. Dieses Urteil zieht eine klare rote Linie: Für G und B zählen allein objektiv messbare, dauerhafte körperliche Einschränkungen, die das Gehen massiv behindern. Episodische Schwindelanfälle oder psychische Ängste reichen nicht aus, wenn die medizinischen Befunde zeigen, dass die Beine frei beweglich sind und Spaziergänge möglich sind. Es geht vor Gericht nicht um die gefühlte Notwendigkeit einer Begleitung, sondern um den knallharten Nachweis einer schwerwiegenden, dauerhaften Störung der reinen Gehfähigkeit nach den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen.
Häufig gestellte Fragen (FAQ)
Muss eine erhebliche Gehbehinderung für das Merkzeichen G immer durch organische Schäden belegt werden?
Nein, die Ursache der Einschränkung ist juristisch nicht entscheidend, solange die funktionale Auswirkung gleichwertig ist. Das Gesetz fokussiert auf die tatsächliche Fähigkeit, Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen (§ 229 Abs. 1 SGB IX). Gerichte erkennen auch schwere innere Leiden oder psychisch bedingte Orientierungsstörungen an. Die Anforderungen sind allerdings extrem eng.
Die Regel verlangt, dass die Einschränkung der Gehfähigkeit objektiv das Ausmaß erreicht, das typischerweise eine orthopädische Störung mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 50 bewirkt. Daher können auch Leiden wie schwere Herz- oder Lungenkrankheiten das Merkzeichen G rechtfertigen. Wichtig ist die Äquivalenz: Die Behörde prüft, ob nicht-organische Ursachen die Mobilität ebenso gravierend und dauerhaft beeinträchtigen wie körperliche Schäden an den Beinen.
Der häufigste Ablehnungsgrund liegt im fehlenden klaren Nachweis der Dauerhaftigkeit. Subjektive Empfindungen wie Angst, Schwindel oder Unsicherheit reichen nicht aus, wenn sie nicht im medizinischen Gutachten als konkrete, gravierende Orientierungsstörung klassifiziert werden. Gerichte suchen nach dem Beweis, dass das Leiden objektiv messbar zu einer massiven Störung des Gehprozesses führt. Fehlen organische Befunde, müssen die alternativen Leiden das gleiche Funktionsdefizit belegen.
Fordern Sie von Ihrem Facharzt einen Bericht an, der explizit die dauerhafte Auswirkung Ihrer Leiden auf Ihre tatsächliche Gehstrecke im Ortsverkehr quantifiziert.
Wann gelten psychische Erkrankungen oder Schwindel als ausreichende Beeinträchtigung für das Merkzeichen G?
Die Anforderungen an die Anerkennung nicht-organischer Leiden für das Merkzeichen G sind juristisch extrem hoch. Psychische Erkrankungen oder anhaltender Schwindel führen nur dann zur erheblichen Gehbehinderung, wenn sie objektiv nachgewiesene, dauerhafte Orientierungsstörungen verursachen. Diese Störungen müssen das Zurücklegen normaler Wegstrecken im Ortsverkehr unmöglich machen und in ihrem Ausmaß einem Grad der Behinderung (GdB) von 50 gleichwertig sein. Episodische oder nur „manchmal“ auftretende Beschwerden genügen niemals den strengen Kriterien.
Der Gesetzgeber fokussiert bei der Vergabe auf die funktionale Auswirkung der Beeinträchtigung auf das Gehen. Fehlt eine offensichtliche organische Ursache, muss die psychische Störung eine gleichwertige Einschränkung bewirken, welche die Gehstrecke auf unter zwei Kilometer reduziert. Entscheidend ist die Dauerhaftigkeit der Beeinträchtigung. Gerichte werten eigene Angaben, der Schwindel trete nur gelegentlich auf, sofort als fehlende Konstanz und lehnen den Antrag ab. Auch bei inneren Leiden, wie Koliken, muss der Zustand chronisch und permanent vorliegen.
Gerichte verlangen den klaren Nachweis, dass die psychische Belastung (wie Angst oder Panikattacken) zu konkreten Orientierungsstörungen im Sinne der Versorgungsmedizinischen Grundsätze (VMG) führt. Die Tatsache, dass ein Antragsteller aktiv leichte Spaziergänge oder kurze Strecken mit dem Fahrrad bewältigt, wird oft als Beweis gegen eine derart tiefgreifende Störung interpretiert. Es reicht nicht aus, Angst vor dem Straßenverkehr zu haben; diese Angst muss objektiv in eine messbare Störung der Gehfähigkeit münden, die einem orthopädischen Schaden entspricht.
Um die Dauerhaftigkeit Ihrer Einschränkung zu belegen, führen Sie ein detailliertes Mobilitäts-Tagebuch über mindestens 30 Tage.
Welche Befunde und Atteste benötige ich, um die Kriterien der Versorgungsmedizinischen Grundsätze zu erfüllen?
Um das Merkzeichen G zu erhalten, müssen Atteste exakt die Anforderungen der Versorgungsmedizinischen Grundsätze (VMG) erfüllen. Es reicht nicht, eine allgemeine Diagnose zu bestätigen. Sie müssen spezifisch nachweisen, dass Ihre Gehfähigkeit dauerhaft auf unter zwei Kilometer im Ortsverkehr reduziert ist. Dies geschieht entweder über schwere körperliche Einschränkungen oder durch gleichwertige innere oder psychische Leiden.
Orthopädische Befunde müssen präzise eine schwere Funktionsstörung der unteren Gliedmaßen oder eine Wurzelreizsymptomatik belegen, deren Ausmaß das eines Grades der Behinderung (GdB) von 50 erreicht. Fehlen diese klaren körperlichen Schäden, müssen interne oder psychische Atteste die Gleichwertigkeit der Einschränkung nachweisen. Bei Schwindel beispielsweise darf der HNO-Arzt keine organische Ursache ausschließen oder das Leiden muss chronisch und permanent die Bewegung stören, weil episodische Koliken nicht ausreichen.
Facharztberichte über psychische Erkrankungen müssen gezielt bescheinigen, dass diese zu konkreten Orientierungsstörungen im Straßenverkehr führen, nicht nur zu allgemeiner Angst. Vermeiden Sie jegliche Widersprüche in den Unterlagen. Im Fallbeispiel beschrieb der Entlassungsbericht der Reha-Klinik die Beine der Klägerin als frei beweglich. Weil keine Anzeichen für eine Wurzelreizsymptomatik vorlagen, sah das Gericht die strengen Kriterien für das Merkzeichen G nicht als erfüllt an.
Bitten Sie Ihren behandelnden Arzt explizit darum, die Beweglichkeit und das Vorhandensein einer Wurzelreizsymptomatik im Attest direkt im Hinblick auf die VMG zu bewerten.
Was kann ich tun, wenn mein Antrag auf Merkzeichen G oder B abgelehnt wurde und ich Widerspruch einlegen will?
Die Ablehnung ist frustrierend, doch im Widerspruch zählen ausschließlich objektive medizinische Beweise. Konzentrieren Sie sich darauf, die Ablehnungsgründe der Behörde systematisch zu entkräften. Eine Schilderung der subjektiven Notlage ist juristisch unzureichend; Sie müssen die strengen Kriterien der Versorgungsmedizinischen Grundsätze (VMG) erfüllen.
Vergleichen Sie zuerst den Bescheid mit den VMG. Identifizieren Sie exakt, welche Punkte – wie die Dauerhaftigkeit der Einschränkung oder der Schweregrad der Funktionsstörung – die Behörde verneint hat. Holen Sie anschließend neue Facharztberichte ein, welche die fehlenden Kriterien spezifisch und gegenteilig belegen. Das Amt lehnte im Fallbeispiel ab, weil die Berichte keinen Zustand darstellten, der die strengen gesetzlichen Voraussetzungen für eine Mobilitätseinschränkung erfüllte.
Legen Sie dem Widerspruch quantifizierbare Nachweise bei, die Ihre reduzierte Gehfähigkeit belegen. Hierfür eignen sich Gehstreckenmessungen oder detaillierte ärztliche Feststellungen, dass Wegstrecken im Ortsverkehr dauerhaft auf ein Minimum reduziert sind. Achten Sie auf die prozessuale Sauberkeit: Fechten Sie nur Entscheidungen an, die bereits final durch die Behörde getroffen wurden, um prozessuale Fehler bei der Anfechtung von Rückdatierungen zu vermeiden.
Markieren Sie die strittigen Passagen im Ablehnungsbescheid und nutzen Sie diese Liste als präzise Arbeitsanweisung für die Erstellung eines korrigierenden Gutachtens durch Ihren behandelnden Facharzt.
Welche zusätzlichen Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit ich auch das Merkzeichen B für eine Begleitperson erhalte?
Die wichtigste Regel ist die juristische Abhängigkeit: Das Merkzeichen B für eine Begleitperson ist zwingend an das Vorliegen des Merkzeichens G geknüpft. Ohne eine anerkannte erhebliche Gehbehinderung wird der Anspruch auf B automatisch ausgeschlossen. Selbst wenn G anerkannt ist, müssen Sie zusätzlich die ständige Notwendigkeit einer Begleitung objektiv belegen. Dies ist der zweite, oft unterschätzte Schritt der Beweisführung.
Der Gesetzgeber betrachtet B als subsidiär zu G. Es dient dazu, die bereits anerkannte schwere Mobilitätseinschränkung durch die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel zu ermöglichen. Die Behörden prüfen deshalb zuerst die Kriterien der Versorgungsmedizinischen Grundsätze (VMG) für die Gehbehinderung G. Erst wenn diese Schwelle überschritten ist, wird die Notwendigkeit der Begleitung selbst geprüft. Subjektive Empfindungen wie „gefühlte Hilflosigkeit“ oder allgemeine Ängste reichen hierfür nicht aus, falls die primäre Basis (G) fehlt.
Die Begleitung muss zwingend erforderlich sein, entweder zur Orientierung im Straßenverkehr oder für die aktive Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs, beispielsweise beim Ein- oder Aussteigen. Die Gerichte verlangen einen objektiven Nachweis dieser Notwendigkeit. Im Fall der Klägerin im Fallbeispiel scheiterte der Anspruch auf Merkzeichen G, wodurch automatisch der Anspruch auf das Merkzeichen B entfiel, da dessen juristische Voraussetzung nicht erfüllt war.
Konzentrieren Sie die Beweislast im Antrag primär auf die Erfüllung der Kriterien für G und sammeln Sie zusätzlich objektive Beweise für die dauerhafte Hilfeleistung.
Hinweis: Bitte beachten Sie, dass die Beantwortung der FAQ Fragen keine individuelle Rechtsberatung darstellt und ersetzen kann. Alle Angaben im gesamten Artikel sind ohne Gewähr. Haben Sie einen ähnlichen Fall und konkrete Fragen oder Anliegen? Zögern Sie nicht, uns zu kontaktieren. Wir klären Ihre individuelle Situation und die aktuelle Rechtslage.
Glossar – Fachbegriffe kurz erklärt
Grad der Behinderung (GdB)
Der Grad der Behinderung (GdB) ist ein Maßstab im Sozialrecht, der die Auswirkungen einer gesundheitlichen Beeinträchtigung auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft in Zehnerschritten (von 20 bis 100) quantifiziert. Der GdB dient als Basis für die Anerkennung des Schwerbehindertenstatus und die damit verbundenen Nachteilsausgleiche, wobei das Gesetz damit die funktionale Einschränkung und nicht die Diagnose selbst bewertet.
Beispiel: Die Behörde setzte den Grad der Behinderung der Klägerin auf 60 fest, wodurch sie offiziell als schwerbehindert galt, obwohl dies nicht automatisch die Merkzeichen G und B garantierte.
Heilungsbewährung
Juristen nennen die Heilungsbewährung einen spezifischen Zeitrahmen, der bei bestimmten Krankheiten, insbesondere Krebserkrankungen, nach Abschluss der Erstbehandlung festgesetzt wird, um das Risiko eines Rückfalls oder bleibender Spätfolgen abzubilden. In dieser Zeit wird der Grad der Behinderung (GdB) vorsorglich höher eingestuft, da die Heilung noch nicht als gesichert gilt. Der Gesetzgeber will damit sicherstellen, dass Betroffene in einer kritischen Phase angemessene Nachteilsausgleiche erhalten.
Beispiel: Die Folgen der Krebserkrankung der Frau wurden von der Behörde im Status der Heilungsbewährung berücksichtigt, was zur Anerkennung eines höheren GdB führte.
Merkzeichen B
Das Merkzeichen B wird im Schwerbehindertenausweis eingetragen und bestätigt die notwendige Begleitung einer schwerbehinderten Person, damit diese öffentliche Verkehrsmittel oder bestimmte Wegstrecken sicher nutzen kann. Dieses Merkzeichen ist fast immer an das Vorliegen des Merkzeichens G geknüpft und gilt als subsidiär, weshalb seine Voraussetzungen extrem streng sind. Das Gesetz ermöglicht damit der Begleitperson die kostenlose Mitfahrt in Bus und Bahn.
Beispiel: Da das Gericht die Voraussetzungen für das Merkzeichen G nicht als erfüllt ansah, scheiterte automatisch auch der Anspruch der Klägerin auf das Merkzeichen B für eine ständige Begleitperson.
Merkzeichen G
Das Merkzeichen G steht für eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr, was bedeutet, dass die betroffene Person Wegstrecken im Ortsverkehr nicht mehr in der üblichen Weise zu Fuß zurücklegen kann. Entscheidend ist die dauerhafte, gravierende Störung der Gehfähigkeit, die objektiv das Ausmaß eines GdB von mindestens 50 erreichen muss. Nur bei Vorliegen dieses Merkmals erhalten Betroffene Anspruch auf verschiedene Mobilitätserleichterungen, wie etwa die unentgeltliche Beförderung.
Beispiel: Die Frau argumentierte, ihre Ängste und Orientierungsprobleme rechtfertigten das Merkzeichen G, jedoch forderte das Gericht den Nachweis einer dauerhaft massiven Einschränkung der Gehfähigkeit.
Verwaltungsentscheidung
Eine Verwaltungsentscheidung ist ein juristischer Fachbegriff für einen finalen Beschluss oder Bescheid, den eine staatliche Behörde im Rahmen ihrer hoheitlichen Aufgaben trifft und der rechtlich bindende Wirkung entfaltet. Solange die Behörde über einen Sachverhalt, wie die Rückdatierung des GdB, noch nicht abschließend entschieden hat, fehlt der Gegenstand, den man vor Gericht anfechten könnte. Gerichte können nur bereits existierende Entscheidungen überprüfen, um die Zuständigkeit und den korrekten Verfahrensweg zu wahren.
Beispiel: Die Klage der Klägerin auf rückwirkende Anerkennung des GdB wurde vom Sozialgericht als unzulässig abgewiesen, da die finale Verwaltungsentscheidung der zuständigen Behörde noch ausstand.
Versorgungsmedizinische Grundsätze (VMG)
Als zentrale Richtlinie im Sozialrecht konkretisieren die Versorgungsmedizinischen Grundsätze (VMG) die abstrakten gesetzlichen Regelungen des SGB IX und legen starre Kriterien fest, nach denen die Behörden den Grad der Behinderung (GdB) und die Merkzeichen beurteilen müssen. Diese Grundsätze stellen sicher, dass gesundheitliche Einschränkungen bundesweit nach einheitlichen und objektiven Maßstäben bewertet werden. Gerichte orientieren sich zwingend an diesen Vorgaben, anstatt das subjektive Empfinden des Antragstellers zu berücksichtigen.
Beispiel: Der Senat des Landessozialgerichts glich die medizinischen Unterlagen der Klägerin systematisch mit den strengen Kriterien der Versorgungsmedizinischen Grundsätze ab, um die Voraussetzungen für das Merkzeichen G zu prüfen.
Das vorliegende Urteil
Landessozialgericht Sachsen-Anhalt – Az.: L 7 SB 56/22 – Urteil vom 12.11.2024
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Ich bin Dr. Christian Gerd Kotz, Rechtsanwalt und Notar in Kreuztal. Als Fachanwalt für Verkehrs- und Versicherungsrecht vertrete ich Mandant*innen bundesweit. Besondere Leidenschaft gilt dem Sozialrecht: Dort analysiere ich aktuelle Urteile und erkläre praxisnah, wie Betroffene ihre Ansprüche durchsetzen können. Seit 2003 leite ich die Kanzlei Kotz und engagiere mich in mehreren Arbeitsgemeinschaften des Deutschen Anwaltvereins.


