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Mitwirkungspflicht bei Beantragung von Erwerbsminderungsrente

SG Marburg – Az.: S 15 R 100/17 – Urteil vom 29.04.2019

Die Klage wird abgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Bewilligung von Versichertenrente wegen Erwerbsminderung nach § 43 SGB VI.

Die 1963 geborene Klägerin beantragte am 06.02.2015 bei der Beklagten formlos Versichertenrente wegen Erwerbsminderung (Bl. 2 Rentenakte). Mit Schreiben vom 09.07.2015 (Bl. 6 RA) teilte die Beklagte der Klägerin mit, dass für den Antrag auf Versichertenrente ein förmlicher Antrag gestellt werden müsse. Als dieser Antrag nicht gestellt wurde, lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin mit Bescheid vom 13.08.2015 (Bl.7 RA) ab. Den Widerspruch (Bl. 8 RA) wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 20.11.2015 (Bl. 14 RA) zurück.

Am 11.3.2016 (Bl. 23 RA) stellte die Klägerin einen Überprüfungsantrag und übersandte am 19.05.2016 das ausgefüllte Antragsformular (Bl.25-32 RA). Mit Schreiben vom 18.10.2016 (Bl. 55 RA) beauftragte die Beklagte den Arzt für Psychiatrie Dr. C. mit der Erstellung eines medizinischen Gutachtens. Dieser teilte der Beklagten telefonisch mit (Bl. 60 RA) dass das Gutachten bereits am 14.11.2016 storniert worden sei, da die Klägerin nicht erschienen sei. Hierauf lehnte die Beklagten Rentenantrag der Klägerin mit Bescheid vom 31.01.2017 (Bl. 61 RA) ab und führte zur Begründung aus, den Antrag auf Zahlung einer Rente wegen Erwerbsminderung könne sie nicht entsprechen, solange die Klägerin nicht mitwirke. Für die Entscheidung über den Rentenantrag habe die Beklagte den Sachverhalt zu ermitteln. Dabei müsse die Klägerin mitwirken (§§ 60-62 und 65 SGB I). Die Klägerin sei dieser Aufforderung zur Mitwirkungspflicht nicht nachgekommen.

Gegen diesen Bescheid erhob die Klägerin mit Schreiben vom 28.02.2017 (Bl. 62 RA) Widerspruch. Zur Begründung führte sie aus, die Beklagte habe die Erforderlichkeit einer Untersuchung bei seit November 2016 notwendiger Krankenhausbehandlung wegen Somatisierung nicht begründet. Es lägen genug medizinische Unterlagen vor, um über den Rentenantrag positiv entscheiden zu können. Mit Widerspruchsbescheid vom 01.06.2017 (Bl. 71 RA) wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Zur Begründung führte sie aus, nach § 62 SGB I müsse sich die Klägerin auf Verlangen des zuständigen Leistungsträgers ärztlichen und psychologischen Untersuchungsmaßnahmen unterziehen, soweit diese für die Entscheidung über die Leistung erforderlich seien. Auch nach Auswertung des Widerspruchs sei der beratungsärztliche Dienst der Beklagten weiterhin der Auffassung, dass die anberaumte psychiatrische Begutachtung für die Beurteilung des Leistungsvermögens der Klägerin unbedingt erforderlich sei. Weitere ärztliche Unterlagen habe die Klägerin nicht vorgelegt.

Am 27.06.2017 hat die Klägerin vor dem Sozialgericht Marburg Klage erhoben (Bl. 1 d. A.). Zur Begründung der Klage trägt sie vor, sie leide seit 2010 und einer posttraumatischen Belastungsstörung, Somatisierungsstörung depressiven Episoden sowie Nacken-und Schulterschmerzen. Seit 2010 bestehe durchgehende Arbeitsunfähigkeit. Ausweislich des Befundberichts der Klinik Lahnhöhe vom 08.12.2015 sei eine Verrentung sinnvoll. Gleiches ergebe sich eindeutig auch aus dem prozessualen Verhalten der Klägerin. Die Beklagte habe wiederholt angeführt, dass eine fachärztliche Begutachtung erforderlich sei, jedoch trage die Beklagte keine Begründung für die geforderte Begutachtung vor.

Die Klägerin beantragt, den Bescheid vom 31.01.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01.06.2017 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin Versichertenrente wegen voller Erwerbsminderung ab Antragsstellung zu bewilligen.

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Zur Begründung verweist sie auf ihrem Vorverfahren getroffenen Feststellungen trägt ergänzend vor, die Klägerin habe sich in der Vergangenheit mehrfach medizinischen Untersuchung unterzogen. Warum nunmehr eine Begutachtung wegen der Auskunft, sie sei Opfer schwerster Gewalt geworden, nicht möglich sei, sei nicht belegt. Darüber hinaus sei die Klägerin auch darüber aufgeklärt worden, warum die Begutachtung notwendig sei (zur weiteren Sachaufklärung) und somit eine Entscheidung nach Aktenlage eben nicht möglich sei. Auch die Folgen mangelnder Mitwirkung seien der Klägerin bekannt gegeben worden.

Das Gericht hat im Rahmen der gemäß § 103 SGG vorzunehmen Sachverhalt; am 27.04.2018 einen Erörterungstermin durchgeführt (Bl. 48 d. A.). In diesem und in dem Termin zur Verhandlung am 29.04.2019 hat das Gericht die Klägerin ausdrücklich auf die Notwendigkeit einer ärztlichen Begutachtung hingewiesen, um vorliegend über den Klageantrag auf Rente wegen Erwerbsminderung entscheiden zu können. Die Klägerin hat im Termin am 29.04.2019 auf nochmaliges befragen durch den Kammervorsitzenden erklärt, dass sie eine Begutachtung auch zukünftig ablehnen werde.

Das Gericht hat die bei der Beklagten geführte Rentenakte zu dem Rechtsstreit beigezogen und den Prozessbevollmächtigten der Klägerin zur Einsichtnahme überlassen.

Bezüglich der weiteren Einzelheiten zur Sachverhaltsermittlung und dem Vorbringen der Beteiligten wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakten der beigezogenen Akten, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Entscheidungsgründe

Die form-und fristgerecht und nach ordnungsgemäß durchgeführtem Vorverfahren erhobene Klage ist zulässig, sie ist jedoch nicht begründet.

Der mit vorliegender Klage angefochten Bescheid vom 31.01.2017 Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01.06.2017 hat sich nach Überprüfung durch das Gericht als rechtmäßig gewesen, denn die Klägerin hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Versichertenrente wegen Erwerbsminderung, weil sie ihren gesetzlich vorgegebenen Mitwirkungspflichten nicht nachgekommen ist.

Vorliegend ist entsprechend dem Klageantrag über Versichertenrente wegen voller Erwerbsminderung nach § 43 SGB VI in der seit 01.01.2001 geltenden Fassung zu entscheiden (§ 300 Abs. 2 SGB VI), denn der Rentenantrag in der Form des Überprüfungsantrag ist am 11.03.2016 gestellt worden.

Nach § 43 Abs. 1 SGB VI haben Versicherte bis zum Erreichen der Regel Altersgrenze Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung, wenn sie

1. teilweise erwerbsgemindert sind,

2. in den letzten 5 Jahren vor Eintritt Erwerbsminderung 3 Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und

3. vor Eintritt Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.

Teilweise Erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 6 Stunden täglich erwerbstätig zu sein.

Gemäß § 43 Abs. 2 SGB VI haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie

1. voll erwerbsgemindert sind,

2. in den letzten 5 Jahren vor Eintritt Erwerbsminderung 3 Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und

3. vor Eintritt Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.

Voll erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 3 Stunden täglich erwerbstätig zu sein.

Die Klägerin erfüllt die in den §§ 50 und 51 SGB VI normierten Wartezeiten und die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen des § 43 Abs. 1 Satz. 1 Nr. 2 bzw. Abs. 2 Satz. 1 Nr. 2 SGB VI sind ebenfalls gegeben. Um die beantragte Rente wegen Erwerbsminderung bewilligen zu können, musste die Beklagte prüfen ob die jeweilige Nr. 1 aus § 43 Abs. 1 und Abs. 2 SGB VI nämlich die medizinischen Voraussetzungen einer Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung oder voller Erwerbsminderung bei der Klägerin vorliegen. Diese Prüfung kann die Beklagte nur vornehmen, wenn – neben dem Beiziehen von ärztlichen Unterlagen – eine gutachterliche Beurteilung des Gesundheitszustands und des Leistungsvermögens der Klägerin erfolgen kann.

Gutachterliche Beurteilung heißt, dass eine zum Zwecke der Entscheidungsfindung vorzunehmen eigene medizinische Untersuchung der Klägerin durchgeführt werden muss. Diese medizinische Untersuchung hat die Klägerin wiederholt schriftlich und mündlich verweigert. Damit ist sie den in den §§ 60-62 und 65 SGB I vorgeschriebenen gesetzlichen Mitwirkungspflichten nicht nachgekommen. Nach § 60 Abs. 1 SGB I hat, wer Sozialleistungen beantragt oder erhält, alle Tatsachen anzugeben, die für die Leistung erheblich sind und auf Verlangen des zuständigen Leistungsträgers der Erteilung der erforderlichen Auskünfte durch Dritte zuzustimmen. Dieser Vorschrift liegt die Überlegung des Gesetzgebers zugrunde, dass ohne ein Zusammenwirken zwischen Sozialleistungsträgern und denen, die Sozialleistungen in Anspruch nehmen möchten, eine Verwirklichung der sozialen Rechte nicht möglich ist. Zwar haben die Behörden den Sachverhalt gemäß § 20 SGB X von Amts wegen aufzuklären. Viele Informationen kann aber nur der Leistungsberechtigte zur Verfügung stellen. Den Leistungsträgern soll deshalb durch § 60 SGB X die Erfüllung seiner Aufgaben ermöglicht werden, in dem den Leistungsberechtigten aufgegeben wird, alle entscheidungserheblichen Tatsachen und Beweismittel anzugeben (vergleiche Lilge, Kommentar zum SGB I, 2. Aufl. § 60 Anmerkung 4).

Die Mitwirkungspflichten des Antragstellers werden konkretisiert in den §§ 61 und 62 SGB I. Nach § 62 soll sich derjenige, der Sozialleistungen beantragt, auf Verlangen des zuständigen Leistungsträgers ärztlichen und psychologischen Untersuchungsmaßnahmen unterziehen, soweit diese für die Entscheidung über die Leistung erforderlich sind. § 62 SGB I enthält eine für den gesamten Sozialrechtsbereich, als auch für den Bereich der Sozialhilfe gültige Regelung der Obliegenheit, sich untersuchen zu lassen. Zweck der Untersuchung kann es sein, den Sachverhalt aufzuklären, dann stehen sie im Zusammenhang mit § 60 und es können sich bei fehlender Mitwirkung die Konsequenzen aus § 66 Abs. 1 SGB X ergeben, d. a., die beantragte Leistung kann versagt oder entzogen werden. Das Wort „soll“ bedeutet, dass selbst zumutbare Untersuchungsmaßnahmen von dem Leistungsträger nicht erzwungen werden können. Allerdings mit den sich aus § 66 SGB I und den Grundsätzen der objektiven Beweislast ergebenden Folgen. Die Folgen bestehen darin, dass die beantragte Leistung versagt werden kann.

Vorliegend ist von Klägerseite vorgetragen worden, die vorhandenen ärztlichen Unterlagen würden ausreichen, um über den Antrag auf Rente wegen Erwerbsminderung entscheiden zu können. Bezug genommen wurde von Klägerseite insbesondere auf den Behandlungsbericht der Klinik Lahnhöhe in Lahnstein vom 08.12.2015 (Bl. 28-29 d. A.). In diesem Bericht wird die stationäre Behandlung der Klägerin vom 12.11.2015 bis10.12.2015 in der Klinik Lahnhöhe beschrieben. Als Hauptdiagnose wird PTBS (posttraumatische Belastungssituation, F43.1) angegebenen und als Nebendiagnosen eine Somatisierungsstörung (F 45.4) und eine depressive Episode (F 32.1). Weiter wird die aus 5 Medikamenten beschriebene Medikation bei der Entlassung aus der Klinik aufgelistet und am Ende der Therapieempfehlung ist wirklich ausgeführt: „Die Entlassung erfolgt arbeitsunfähig. Für den Alltagstransfer und zur Schaffung eines weiter veränderungsunterstützenden Umfeldes im ambulanten Bereich empfehlen wir eine weitere Krankschreibung von mindestens noch 3 Wochen. Um den zur dauerhaften Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit notwendigen inneren Veränderungsprozessen eine Chance zu geben, halten wir eine Zeitrente von 2 Jahren für einen rehabilitationsfördernden Rahmen.“ Die Formulierung „halten wir eine Zeitrente von 2 Jahren für einen rehabilitationsfördernden Rahmen“, reicht nicht aus, um den gesetzlichen Bestimmungen des §§ 43 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 und Abs. 2 S. 1 Nr. 1 gerecht zu werden. Um eine Rente wegen Erwerbsminderung bewilligen oder ablehnen zu können, bedarf es aufgrund jahrzehntelanger Erfahrung gründlicher Überprüfung und Beurteilung des Leistungsvermögens und der Erwerbsfähigkeit einer Antragstellerin. Erwerbsfähigkeit im Sinne des §§ 43 SGB VI ist etwas anderes als der Begriff der in den Bericht der Klinik Lahnhöhe zitierten „Arbeitsunfähigkeit“, die im Bereich des SGB V in der Regel kurzfristige Erkrankungen meint, die zu einer nur wenige Tage oder Wochen führenden Unfähigkeit die berufliche Arbeit durchzuführen. Die beantragte Rente ist von der Beklagten vorliegend zu Recht abgelehnt worden, weil die Klägerin jegliche Untersuchung verweigert hat.

Das Gericht hat in der mündlichen Verhandlung am 29.04.2018 zum wiederholten Male darauf hingewiesen, dass auch das Gericht im Rahmen der gesetzlich vorgeschriebenen Sachverhaltsermittlung nach § 103 und 106 SGG seine Beurteilung der Erwerbsfähigkeit der Klägerin nur auf gutachterliche Untersuchung stützen kann. Weil diese gutachterlichen Untersuchung abgelehnt werde, hat die Klägerin die in § 66 SGB I beschriebenen Folgen der mangelnden Mitwirkung selbst zu verantworten und zu tragen. Die Klage war daher abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG, die Rechtsmittelbelehrung auf §§ 143, 134 SGG.

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