Ein Betroffener forderte wegen seines Post-Covid-Syndroms die Anerkennung eines Grades der Behinderung (GdB) von 50. Das Gericht bejahte die Schwerbehinderung trotz fehlender klassischer organischer Befunde durch eine überraschende Analogie.
Übersicht
- Das Wichtigste in Kürze
- Post-Covid-Syndrom: Wann rechtfertigt es einen Grad der Behinderung von 50?
- Was genau führte zu der Klage vor dem Sozialgericht?
- Nach welchen Regeln wird der Grad der Behinderung bei Post-Covid bemessen?
- Warum sprach das Gericht dem Kläger einen GdB von 50 zu?
- Warum überzeugten die Argumente der Behörde das Gericht nicht?
- Was bedeutet dieses Urteil für Sie als Betroffene von Post-Covid?
- Die Urteilslogik
- Benötigen Sie Hilfe?
- Experten Kommentar
- Häufig gestellte Fragen (FAQ)
- Wann bekomme ich GdB 50 für Long Covid, obwohl mir „harte“ organische Beweise fehlen?
- Wird mein Post-Covid-Syndrom zur GdB-Einstufung mit dem Chronischen Fatigue-Syndrom (CFS) verglichen?
- Welche ärztlichen Unterlagen und Gutachten brauche ich, um meine funktionellen Einschränkungen zu beweisen?
- Was muss ich tun, wenn die Behörde meinen GdB-Antrag bei Long Covid ablehnt oder nur GdB 30 feststellt?
- Was kann ich aus dem Urteil des Sozialgerichts Speyer im Widerspruchsverfahren nutzen?
- Glossar – Fachbegriffe kurz erklärt
- Das vorliegende Urteil
Zum vorliegenden Urteil Az.: S 12 SB 318/23 | Schlüsselerkenntnis | FAQ | Glossar | Kontakt
Das Wichtigste in Kürze
- Gericht: Sozialgericht Speyer
- Datum: 03.06.2025
- Aktenzeichen: S 12 SB 318/23
- Verfahren: Klage auf Feststellung des Grades der Behinderung (GdB)
- Rechtsbereiche: Schwerbehindertenrecht, Sozialrecht
- Das Problem: Ein Mann leidet nach einer Covid-19-Infektion unter einem schweren Post-Covid-Syndrom. Er beantragte die Anerkennung eines Grades der Behinderung (GdB) von 50. Die Behörde erkannte ihm nur einen GdB von 30 zu.
- Die Rechtsfrage: Muss die Behörde einem Patienten mit Post-Covid-Syndrom einen GdB von 50 feststellen, wenn dieser an starker Fatigue und kognitiven Störungen leidet?
- Die Antwort: Ja. Das Gericht verpflichtete die Behörde, den GdB von 50 festzustellen. Ein neurologisches Gutachten bestätigte eine schwere organisch-psychische Folgeerkrankung nach Covid-19. Die Symptome führen zu mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten.
- Die Bedeutung: Das Gericht bewertet die Funktionsstörungen des Post-Covid-Syndroms analog zum Chronischen Fatigue-Syndrom. Auch wenn objektive organische Befunde fehlen, kann die Schwere der subjektiven Einschränkungen einen GdB von 50 rechtfertigen.
Post-Covid-Syndrom: Wann rechtfertigt es einen Grad der Behinderung von 50?
Ein Mann, dessen Leben durch eine Covid-19-Infektion aus den Fugen geraten ist, kämpft um die Anerkennung seiner Leiden als Schwerbehinderung. Er leidet unter lähmender Erschöpfung, Konzentrations- und Gedächtnisproblemen – klassische Symptome des Post-Covid-Syndroms. Die zuständige Behörde erkennt zwar eine Beeinträchtigung an, stuft diese aber mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 30 ein. Zu wenig für den Status eines schwerbehinderten Menschen. Der Grund der Behörde: Es fehlen handfeste, organische Beweise für das Ausmaß der Beschwerden. In einem aufschlussreichen Urteil musste das Sozialgericht Speyer am 3. Juni 2025 klären, wie unsichtbare, aber gravierende Funktionsstörungen zu bewerten sind, und fällte unter dem Aktenzeichen S 12 SB 318/23 eine richtungsweisende Entscheidung.
Was genau führte zu der Klage vor dem Sozialgericht?

Im März 2021 infizierte sich der 1969 geborene Kläger mit dem SARS-CoV-2-Virus. Der akute Verlauf war unauffällig, ohne schwere Symptome oder die Notwendigkeit einer speziellen Behandlung. Doch die eigentliche Krankheit begann für ihn erst nach der Genesung. Ab September 2022 beantragte er erstmals die Feststellung eines Grades der Behinderung. Seine Symptomliste war lang und belastend: ein tiefgreifender Erschöpfungszustand (Fatigue), quälender Schwindel sowie massive psychische und kognitive Probleme. Er litt unter Konzentrations- und Wortfindungsstörungen, sein Gedächtnis ließ ihn im Stich.
Zahlreiche Arzt- und Klinikberichte zeichneten ein detailliertes Bild seines Leidensweges. Ein Reha-Aufenthalt Ende 2021 attestierte ihm nach einer leichten Covid-19-Pneumonie vor allem „ausgeprägte Konzentrationsstörungen und kognitive Dysfunktion“. Ein Kardiologe stellte eine Neigung zu Herzrasen fest, fand aber keine organische Ursache. Ein Neurologe und Psychiater diagnostizierte eine Somatoforme Störung – also körperliche Beschwerden ohne ausreichend erklärbaren organischen Befund. Die spezialisierte Long-Covid-Nachsorgeambulanz einer Universitätsklinik bestätigte im März 2022 eine anhaltend reduzierte Belastbarkeit, starke Konzentrationsstörungen und Erschöpfung.
Trotz dieser umfassenden Dokumentation bewertete der versorgungsärztliche Dienst der Behörde die Beeinträchtigungen lediglich mit einem GdB von 30 für eine „psychische Störung mit funktionellen Organbeschwerden“. Die Behörde folgte dieser Einschätzung und lehnte den Widerspruch des Mannes ab. Für sie zählte vor allem, dass Organische Korrelate – also messbare körperliche Schäden an Herz, Lunge oder Nervensystem – fehlten. Der Kläger, der seine verantwortungsvolle Tätigkeit als Teamleiter im Werkzeugbau nicht mehr ausüben konnte und dem bereits eine befristete Erwerbsminderungsrente zuerkannt worden war, gab jedoch nicht auf. Er zog vor das Sozialgericht mit dem Ziel, einen GdB von 50 und damit die Anerkennung als schwerbehinderter Mensch zu erstreiten.
Nach welchen Regeln wird der Grad der Behinderung bei Post-Covid bemessen?
Die rechtliche Grundlage für die Feststellung einer Behinderung liefert das Neunte Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX). Gemäß § 152 Abs. 1 SGB IX wird der Grad der Behinderung (GdB) in Zehnerschritten von 20 bis 100 bemessen. Er ist ein Maß für die sozialen Auswirkungen von Funktionsbeeinträchtigungen, nicht für die Erkrankung selbst.
Die konkreten Bewertungsmaßstäbe sind in der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) und ihrer Anlage, den „Versorgungsmedizinischen Grundsätzen“ (VG), festgelegt. Diese Grundsätze fungieren als eine Art medizinische Bewertungsbibel. Das Problem: Für das relativ neue Krankheitsbild des Post-Covid-Syndroms gibt es dort noch keinen eigenen Eintrag.
Gerichte müssen sich daher mit einer Analogie behelfen. Sie suchen nach einem Krankheitsbild, das in seinen funktionellen Auswirkungen dem Post-Covid-Syndrom am nächsten kommt. Das Sozialgericht Speyer zog hier, wie in solchen Fällen üblich, das Chronische Fatigue-Syndrom (CFS) als Vergleichsmaßstab heran (VG Teil B Nr. 18.4). Zudem orientierte es sich an den Bewertungsmaßstäben für psychische Störungen (VG Teil B Nr. 3.7), da die kognitiven und seelischen Beeinträchtigungen im Vordergrund standen. Entscheidend ist dabei immer die Schwere der Störung und das Ausmaß der damit verbundenen sozialen Anpassungsschwierigkeiten.
Warum sprach das Gericht dem Kläger einen GdB von 50 zu?
Das Gericht gab der Klage statt und verpflichtete die Behörde, ab dem Zeitpunkt der Antragstellung einen Gesamt-GdB von 50 festzustellen. Die Richter stützten ihre Entscheidung auf eine sorgfältige Gesamtschau aller Befunde, wobei ein vom Gericht beauftragtes Gutachten den Ausschlag gab.
Das entscheidende Puzzleteil: Das neurologische Gutachten
Im Zentrum der richterlichen Überzeugungsbildung stand ein neurologisches Sachverständigengutachten. Der Gutachter untersuchte den Kläger ambulant und wertete sämtliche vorliegenden medizinischen Unterlagen aus. Sein Fazit war eindeutig: Beim Kläger liegt eine organisch-psychische Folgeerkrankung der Covid-19-Infektion vor. Diese Diagnose ist entscheidend, da sie die psychischen Symptome direkt auf eine organische Ursache – die Virusinfektion – zurückführt. Der Gutachter bewertete die daraus resultierenden Funktionsstörungen mit einem GdB von 50 bis 60.
Der Analogieschluss: Warum Post-Covid wie eine schwere psychische Störung bewertet wurde
Das Gericht folgte der Einschätzung des Gutachters. Es ordnete die Symptomatik des Klägers – die massive geistige und körperliche Erschöpfbarkeit, die kognitiven Defizite und der Schwindel – dem Funktionssystem „Gehirn einschließlich Psyche“ zu. Gemäß den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen (Teil B Nr. 3.7) entspricht ein GdB von 50 in diesem Bereich einer „schweren Störung mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten“.
Die Richter sahen diese Kriterien als erfüllt an. Die anhaltende Fatigue, die deutlichen kognitiven Beeinträchtigungen, die depressive Symptomatik, der soziale Rückzug und der vollständige Verlust der Tagesstruktur durch die Arbeitsunfähigkeit rechtfertigten diese hohe Einstufung.
Die Gesamtschau: Wie glaubhafte Schilderungen und Arztberichte zusammenwirkten
Das Gutachten stand nicht allein. Das Gericht würdigte ausdrücklich die Vielzahl der bereits vorliegenden Berichte der behandelnden Ärzte, Psychotherapeuten und der Reha-Klinik. Diese zeichneten über einen langen Zeitraum ein konsistentes Bild der Erkrankung. Hinzu kam der persönliche Eindruck des Klägers in der mündlichen Verhandlung. Er schilderte glaubhaft seinen Leidensdruck, die Überforderung bei einfachen Alltagsaufgaben und den sozialen Rückzug. Selbst während der Anhörung zeigten sich leichte Wortfindungsstörungen, was die beschriebenen kognitiven Probleme untermauerte.
Die Bildung des Gesamt-GdB: Warum aus 50 und 10 nicht 60 wird
Neben dem Post-Covid-Syndrom bewertete das Gericht die ebenfalls dokumentierten Herzrhythmusstörungen. Nach den Vorgaben der VG (Teil B 9.1.6) setzte es hierfür einen Teil-GdB von 10 an. Bei der Bildung des Gesamt-GdB werden die Einzelwerte jedoch nicht einfach addiert (§ 152 Abs. 3 SGB IX). Man geht vom höchsten Einzelwert aus – hier die 50 für das Post-Covid-Syndrom – und prüft, ob die weiteren Beeinträchtigungen das Gesamtleiden so stark erhöhen, dass eine Anhebung des Gesamtwertes gerechtfertigt ist. Ein Teil-GdB von 10 führt dabei in der Regel nicht zu einer Erhöhung. Daher blieb es beim Gesamt-GdB von 50.
Warum überzeugten die Argumente der Behörde das Gericht nicht?
Die Analyse des Urteils ist erst vollständig, wenn man die Argumente der unterlegenen Seite betrachtet und versteht, warum das Gericht ihnen nicht folgte.
Argument 1: Das Fehlen „harter“ organischer Beweise
Dies war das Kernargument der Behörde: Unauffällige Befunde bei Neurologe, HNO-Arzt sowie Herz- und Lungenuntersuchungen würden gegen eine schwere Beeinträchtigung sprechen. Das Gericht wies diese Sichtweise entschieden zurück. Es betonte, dass gerade beim Post-Covid-Syndrom die subjektiven Beeinträchtigungen und die Alltagsfolgen oft gravierender sind als das, was neuropsychologische Tests oder bildgebende Verfahren zeigen können. Das vom Gericht bestellte Gutachten, das nach eingehender Untersuchung eben doch eine organisch begründete Störung feststellte, wog für die Richter schwerer als das Fehlen spezifischer pathologischer Messwerte.
Argument 2: Zu wenig Therapie und nur eine Reha-Maßnahme
Die Behörde führte an, dass der Kläger bisher nur eine stationäre Reha-Maßnahme durchlaufen habe und keine medikamentöse Therapie erhalte. Auch dieses Argument verfing nicht. Das Gericht stellte klar, dass der entscheidende Maßstab die tatsächlich vorhandene Funktionsbeeinträchtigung ist. Die Tatsache, dass die Beschwerden trotz Reha, Ergotherapie und Psychotherapie fortbestanden und von allen behandelnden Ärzten sowie dem Gutachter bestätigt wurden, war für das Gericht ausschlaggebend.
Argument 3: Die Rolle der beruflichen Situation
Die Behörde argumentierte, dass der Verlust des Arbeitsplatzes für die Bemessung des GdB keine Rolle spiele. Im Grundsatz stimmte das Gericht dem zu: Der GdB bemisst die Teilhabeeinschränkungen im gesamten Leben, nicht nur im Beruf (VG Teil A Nr. 2 a). Allerdings sahen die Richter die Aufgabe der beruflichen Tätigkeit hier als ein starkes Indiz, das die Schwere der sonstigen Einschränkungen bestätigt. Der Verlust der Arbeit war eine direkte Folge der im Gutachten beschriebenen Symptome wie der nahezu aufgehobenen Tagesstruktur und der massiven Überforderung, was die Einstufung als schwere Störung stützte.
Was bedeutet dieses Urteil für Sie als Betroffene von Post-Covid?
Das Urteil des Sozialgerichts Speyer ist ein wichtiges Signal für Menschen, die mit den oft unsichtbaren Folgen einer Covid-19-Infektion kämpfen. Es zeigt, dass eine Schwerbehinderung auch dann anerkannt werden kann, wenn klassische organische Befunde unauffällig sind.
Checkliste: Ihr Weg zur Anerkennung des GdB bei Post-Covid
Basierend auf den Erkenntnissen aus diesem Urteil können Sie folgende Schritte unternehmen, um Ihre Ansprüche bestmöglich zu untermauern:
- Suchen Sie frühzeitig ärztliche Hilfe: Lassen Sie alle Symptome – auch die scheinbar diffusen wie Fatigue oder „Brain Fog“ – ärztlich dokumentieren. Ein Hausarzt ist die erste Anlaufstelle.
- Sammeln Sie lückenlos alle Befunde: Jeder Arztbrief, jeder Entlassungsbericht aus Reha oder Krankenhaus und jede therapeutische Stellungnahme ist ein wichtiger Baustein. Führen Sie ein Beschwerdetagebuch, um den Verlauf und die Auswirkungen auf Ihren Alltag festzuhalten.
- Konsultieren Sie Spezialisten: Suchen Sie gezielt Fachärzte oder spezialisierte Ambulanzen auf (z. B. Long-Covid-Ambulanz, Neurologe, Kardiologe, Psychotherapeut). Fachärztliche Berichte haben oft ein höheres Gewicht.
- Beschreiben Sie die Auswirkungen konkret: Im Antrag und im Gespräch mit Gutachtern ist es entscheidend, nicht nur Diagnosen aufzuzählen. Beschreiben Sie detailliert, wie sich die Symptome auf Ihren Alltag auswirken: Können Sie noch einkaufen? Ihren Haushalt führen? Soziale Kontakte pflegen? Einer Arbeit nachgehen?
- Lassen Sie sich nicht entmutigen: Eine Ablehnung oder eine zu niedrige Einstufung durch die Behörde ist kein Endpunkt. Das Urteil zeigt, dass der Widerspruch und notfalls die Klage vor dem Sozialgericht erfolgreich sein können.
- Verweisen Sie auf die Rechtsprechung: Im Widerspruchs- oder Klageverfahren kann der Hinweis auf die richterliche Praxis, das Post-Covid-Syndrom analog zum Chronischen Fatigue-Syndrom zu bewerten, Ihre Argumentation stärken.
- Fokussieren Sie auf die Funktionsstörung: Der Schlüssel zum Erfolg liegt darin, die Schwere der funktionellen Einschränkungen nachzuweisen, auch wenn „harte“ organische Beweise fehlen. Die Gesamtschau aus ärztlichen Berichten, therapeutischen Einschätzungen und Ihrer glaubhaften Schilderung ist entscheidend.
Die Urteilslogik
Das Sozialgericht Speyer stellt klar, dass gravierende, funktionelle Einschränkungen, die durch das Post-Covid-Syndrom verursacht werden, auch ohne eindeutige organische Korrelate die Anerkennung als schwerbehinderter Mensch rechtfertigen.
- Subjektive Funktion geht vor Messbarkeit: Die Feststellung eines hohen Grades der Behinderung hängt maßgeblich von der Schwere der funktionellen Einschränkungen im Alltag ab; das Fehlen objektiv messbarer organischer Schäden schließt die Anerkennung einer schweren Störung nicht aus.
- Analoge Bewertung bei neuen Syndromen: Existiert kein spezifischer GdB-Maßstab, bewerten Sozialgerichte das Post-Covid-Syndrom anhand der funktionell ähnlichsten anerkannten Leiden, wie schweren psychischen Störungen oder dem Chronischen Fatigue-Syndrom (CFS).
- Konsistente Dokumentation überzeugt: Gerichte stützen die Schwere der Beeinträchtigung auf die Gesamtschau konsistenter ärztlicher Berichte, therapeutischer Stellungnahmen und der glaubhaften Schilderung von Alltagseinschränkungen, welche die Notwendigkeit sozialer Anpassung belegen.
Für die Bewertung unsichtbarer Krankheitsbilder ist die erhebliche Einschränkung der sozialen Teilhabe das primäre Kriterium, welches die tatsächliche Schwere des Leidens bestimmt.
Benötigen Sie Hilfe?
Kämpfen Sie ebenfalls um die Anerkennung von GdB 50 für Long-Covid-Symptome? Kontaktieren Sie uns für eine vertrauliche erste Einschätzung Ihrer Ansprüche.
Experten Kommentar
Wer an Post-Covid leidet, weiß, dass die größten Probleme nicht auf Röntgenbildern oder im Blutbild zu finden sind. Dieses Urteil ist ein klares Signal an die Behörden, dass sie nicht länger nur nach „harten“ organischen Befunden fragen dürfen, wenn es um die Schwerbehinderung geht. Das Sozialgericht Speyer hat konsequent entschieden: Die massive Einschränkung der Lebensführung und der kognitiven Fähigkeiten ist der ausschlaggebende Beweis für GdB 50. Die strategische Konsequenz ist, dass Betroffene die funktionellen Folgen und die dadurch verlorene Tagesstruktur lückenlos dokumentieren müssen, um diesen entscheidenden Nachweis zu führen.
Häufig gestellte Fragen (FAQ)
Wann bekomme ich GdB 50 für Long Covid, obwohl mir „harte“ organische Beweise fehlen?
Der Grad der Behinderung (GdB) 50 wird primär durch die Schwere der funktionellen Einschränkungen festgestellt und nicht durch das Vorhandensein rein organischer Befunde. Das Sozialgericht Speyer entschied, dass die Glaubhaftigkeit der Alltagsfolgen wichtiger ist als das Fehlen „harter“ Korrelate. Der Schlüssel liegt darin, dass ein Gutachter die psychischen und kognitiven Symptome als organisch-psychische Folgeerkrankung der Virusinfektion einordnet.
Die Behörde kann fehlende organische Messwerte nicht als alleiniges Ausschlusskriterium für eine Schwerbehinderung verwenden, wenn die Beeinträchtigung objektiv gravierend ist. Die juristische Bewertung erfolgt im Funktionssystem Gehirn/Psyche, da kognitive Defizite und Fatigue im Vordergrund stehen. Gemäß den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen (VG Teil B Nr. 3.7) muss die Symptomatik die Schwelle einer „schweren Störung mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten“ erreichen.
Der Nachweis der Alltagsfolgen ersetzt demnach die fehlenden medizinischen Messwerte. Verlieren Sie beispielsweise durch lähmende Erschöpfung oder „Brain Fog“ die Arbeitsfähigkeit oder die gesamte Tagesstruktur, belegt dies die massive Schwere der Störung. Das Gericht Speyer wies das Argument der Behörde zurück, weil das gerichtlich bestellte Gutachten die glaubhaft geschilderte Überforderung bei einfachen Alltagsaufgaben bestätigte.
Beginnen Sie sofort mit einem detaillierten, wöchentlichen Beschwerdetagebuch, um die Dauer und den Grad der Überforderung bei grundlegenden Alltagsaufgaben präzise zu protokollieren.
Wird mein Post-Covid-Syndrom zur GdB-Einstufung mit dem Chronischen Fatigue-Syndrom (CFS) verglichen?
Ja, die Bewertung Ihres Post-Covid-Syndroms erfolgt derzeit primär durch einen juristischen Analogieschluss. Da Long Covid noch keinen spezifischen Eintrag in der Versorgungsmedizin-Verordnung hat, müssen Gerichte und Gutachter auf Krankheitsbilder zurückgreifen, deren funktionelle Auswirkungen ähnlich sind. Das Chronische Fatigue-Syndrom (CFS) dient hierbei als wichtigster Vergleichsmaßstab, um eine faire Einstufung zu ermöglichen.
Die Versorgungsmedizinischen Grundsätze (VG) bilden die rechtliche Grundlage für GdB-Feststellungen in Deutschland. Weil Post-Covid ein noch relativ neues Krankheitsbild ist, ist die Anwendung des Analogieschlusses zwingend erforderlich. Das Sozialgericht Speyer zog in seinem Urteil exemplarisch die Bewertungsmaßstäbe für das Chronische Fatigue-Syndrom (VG Teil B Nr. 18.4) heran. Ergänzend wenden die Sachverständigen die Kriterien für Störungen des Funktionssystems „Gehirn einschließlich Psyche“ (VG Teil B Nr. 3.7) an, da kognitive und emotionale Defizite oft im Vordergrund stehen.
Für die Behörden ist entscheidend, dass die funktionellen Auswirkungen der Post-Covid-Symptome dem Beschwerdebild CFS so stark ähneln, dass die gleichen GdB-Tabellenwerte greifen. Insbesondere die massive geistige Erschöpfbarkeit, Konzentrationsstörungen und depressive Symptomatiken können zur Erreichung eines GdB von 50 führen. Dieser Wert wird erreicht, wenn eine „schwere Störung mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten“ im Funktionssystem Psyche vorliegt.
Konsultieren Sie die Versorgungsmedizinischen Grundsätze (VG Teil B Nr. 3.7) und unterstreichen Sie die dort beschriebenen Kriterien für mittelgradige soziale Anpassungsschwierigkeiten, um zu belegen, dass Ihr Zustand diese Schwelle überschreitet.
Welche ärztlichen Unterlagen und Gutachten brauche ich, um meine funktionellen Einschränkungen zu beweisen?
Die Beweisführung bei Long Covid erfordert eine lückenlose Gesamtschau aller medizinischen Dokumente über den gesamten Krankheitsverlauf. Ein einzelner Befund reicht dabei selten aus, da die Behörde oft auf fehlende organische Schäden verweist. Das Ziel ist, durch Konsistenz zu zeigen, dass Ihre kognitive und physische Dysfunktion anhaltend und gravierend ist. Sammeln Sie alle Berichte von verschiedenen Fachärzten und Reha-Einrichtungen, die Ihr Leiden über Monate hinweg konsistent belegen.
Sammeln Sie alle Arztbriefe, Entlassungsberichte aus Kliniken und Reha-Einrichtungen, die ein detailliertes Bild Ihrer Einschränkungen zeichnen. Besonders hohes Gewicht haben die Stellungnahmen von Spezialisten wie Neurologen, Psychiatern oder Long-Covid-Nachsorgeambulanzen. Diese Fachärzte müssen die ausgeprägten Konzentrationsstörungen und die kognitive Dysfunktion fachärztlich bestätigen, um das Funktionssystem „Gehirn einschließlich Psyche“ zu belegen.
Im Klageverfahren vor dem Sozialgericht kann ein unabhängiges, gerichtlich beauftragtes Gutachten zum entscheidenden Puzzleteil werden. Im Musterfall Speyer gab ein neurologisches Gutachten den Ausschlag. Dieses attestierte eine organisch-psychische Folgeerkrankung der Virusinfektion. Nur durch eine solche gutachterliche Einordnung, welche die Störung direkt auf die körperliche Ursache zurückführt, können Sie das Argument des fehlenden organischen Befunds wirksam aushebeln.
Erstellen Sie sofort eine chronologische Liste aller Konsultationen und notieren Sie, welche Berichte explizit Konzentrationsstörungen und reduzierte Belastbarkeit attestieren.
Was muss ich tun, wenn die Behörde meinen GdB-Antrag bei Long Covid ablehnt oder nur GdB 30 feststellt?
Die Ablehnung Ihres GdB-Antrags oder die Feststellung von nur GdB 30 ist kein endgültiger Bescheid. Sie müssen fristgerecht Widerspruch einlegen, um das Verfahren offen zu halten und die Entscheidung überprüfen zu lassen. Sollte die Behörde den Widerspruch ablehnen, eröffnet erst die Klage vor dem Sozialgericht die beste Chance auf eine Neubewertung. Dieser Rechtsweg zwingt die Verwaltung zur vertieften Auseinandersetzung mit Ihrem Fall.
Die anfängliche versorgungsärztliche Einschätzung der Behörde erfolgt oft rein nach Aktenlage und ist tendenziell konservativ. Ein juristischer Erfolg stellt sich häufig erst im gerichtlichen Verfahren ein. Vor dem Sozialgericht erhalten Sie in der Regel die Möglichkeit, ein neues, unabhängiges Gutachten zu erhalten. Dieses von den Richtern beauftragte Sachverständigengutachten untersucht Ihre aktuelle Verfassung und besitzt ein deutlich höheres Gewicht als die ursprüngliche Prüfung der Verwaltung.
Argumentieren Sie im Widerspruch strategisch gegen die standardmäßigen Ablehnungsgründe, wie sie die Behörde oft nutzt. Betonen Sie, dass die Schwere der funktionellen Einschränkungen das Fehlen „harter“ organischer Korrelate übertrifft. Nachweise über den Verlust Ihres Arbeitsplatzes als Teamleiter oder die Anerkennung einer befristeten Erwerbsminderungsrente stützen Ihre Argumentation, da sie die massiven Alltagsfolgen Ihrer Long-Covid-Symptome belegen.
Prüfen Sie sofort die einmonatige Widerspruchsfrist auf dem Bescheid und kündigen Sie den Widerspruch formal bei der Behörde an.
Was kann ich aus dem Urteil des Sozialgerichts Speyer im Widerspruchsverfahren nutzen?
Ja, Sie sollten das Urteil des Sozialgerichts Speyer unbedingt als strategische Argumentationshilfe verwenden. Die Entscheidung (Az: S 12 SB 318/23) belegt die richterliche Praxis, das Post-Covid-Syndrom analog zu schweren psychischen Störungen zu bewerten. Sie können die Behörde damit auffordern, die Funktionsstörungen frühzeitig neu zu bewerten und die Notwendigkeit einer langwierigen Klage zu vermeiden. Das Urteil ist ein starkes Indiz für die richterliche Sichtweise.
Der zentrale Nutzen liegt in der Bestätigung, dass Sozialgerichte das Fehlen „harter“ organischer Befunde nicht als Ausschlusskriterium für eine Schwerbehinderung akzeptieren. Die Richter nahmen stattdessen eine sorgfältige Gesamtschau der funktionellen Einschränkungen vor, wie der Arbeitsunfähigkeit und den kognitiven Defiziten. Diese Vorgehensweise demonstriert, dass eine Einstufung als GdB 50 realistisch ist. Voraussetzung ist, dass die Symptome die Kriterien für mittelgradige soziale Anpassungsschwierigkeiten erreichen.
Obwohl es sich nicht um ein bundesweit bindendes Musterurteil handelt, signalisiert der Verweis auf das Urteil Ihre Klagebereitschaft. Nutzen Sie das Aktenzeichen gezielt, um die notwendige Analogie zum Chronischen Fatigue-Syndrom (CFS) oder schweren psychischen Störungen zu stärken. Diese Rechtsprechungsübersicht erhöht den Druck auf den versorgungsärztlichen Dienst zur Neubewertung. Die Behörde erkennt durch diesen Hinweis, dass die Erfolgsaussichten in einem möglichen Klageverfahren deutlich gestiegen sind.
Fügen Sie sofort einen Absatz in Ihre Widerspruchsbegründung ein, der das Urteil und seine Begründung zur Bewertung funktioneller Störungen zitiert.
Hinweis: Bitte beachten Sie, dass die Beantwortung der FAQ Fragen keine individuelle Rechtsberatung darstellt und ersetzen kann. Alle Angaben im gesamten Artikel sind ohne Gewähr. Haben Sie einen ähnlichen Fall und konkrete Fragen oder Anliegen? Zögern Sie nicht, uns zu kontaktieren. Wir klären Ihre individuelle Situation und die aktuelle Rechtslage.
Glossar – Fachbegriffe kurz erklärt
Analogieschluss
Wenn im Gesetz eine Regelung oder ein Bewertungsmaßstab für einen neuartigen Sachverhalt fehlt, ist der Analogieschluss die juristische Methode, bei der Gerichte auf die Kriterien eines ähnlichen, bereits geregelten Falls zurückgreifen. Das Gesetz verfolgt damit das Ziel, Gerechtigkeitslücken zu schließen, damit Bürger auch bei modernen oder neuen Problemen, wie beispielsweise dem Post-Covid-Syndrom, eine faire rechtliche Bewertung erhalten.
Beispiel: Da das Krankheitsbild Long Covid noch keinen spezifischen Eintrag besitzt, zog das Sozialgericht Speyer den Analogieschluss, um die Symptome des Klägers mit den Bewertungskriterien des Chronischen Fatigue-Syndroms zu vergleichen.
Funktionssystem
Ein Funktionssystem ist ein juristisches Ordnungsinstrument in der Sozialmedizin, das alle Beeinträchtigungen eines Menschen nach Körperteilen oder deren primären Aufgaben bündelt, beispielsweise das System „Gehirn einschließlich Psyche“. Die Versorgungsmedizinischen Grundsätze nutzen diese Kategorisierung, um sicherzustellen, dass nicht die Diagnose, sondern die tatsächliche Auswirkung der Schädigung auf die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben messbar und vergleichbar wird.
Beispiel: Das Gericht ordnete die kognitiven Defizite, die starke Fatigue und die Wortfindungsstörungen des Klägers dem Funktionssystem „Gehirn einschließlich Psyche“ zu, weil diese Beeinträchtigungen dort am schwersten ins Gewicht fielen.
Gesamt-GdB (Gesamtgrad der Behinderung)
Der Gesamt-GdB ist der endgültig festgestellte Wert für die Behinderung eines Menschen und wird juristisch nicht durch die Addition der Einzelwerte verschiedener Leiden gebildet, sondern orientiert sich am schwerwiegendsten Einzelwert. Diese Berechnungsmethode verhindert, dass viele kleine, unwesentliche Beeinträchtigungen automatisch zu einer Schwerbehinderung führen; stattdessen steht die Auswirkung des schwersten Leidens im Vordergrund.
Beispiel: Obwohl das Gericht für die Herzrhythmusstörungen einen Teil-GdB von 10 feststellte, blieb der Gesamt-GdB bei 50, da die Beeinträchtigung der Herzfunktion das Gesamtleiden aus dem Post-Covid-Syndrom nicht erheblich steigerte.
Organische Korrelate
Juristen und Behörden verstehen unter Organischen Korrelaten messbare und objektive körperliche Schäden oder Befunde (etwa auf Röntgenbildern oder im Blutbild), die eine geäußerte Funktionsstörung eindeutig beweisen und begründen können. Die Verwaltung verlangt diese Korrelate oft, um nur Leiden anzuerkennen, die eine klare biologische oder physiologische Ursache haben, ein Ansatz, der bei neurologischen und psychosomatischen Erkrankungen problematisch ist.
Beispiel: Das Sozialgericht wies das Kernargument der Behörde zurück, dass das Fehlen harter organischer Korrelate an Lunge oder Nervensystem automatisch gegen die Annahme einer schweren Long-Covid-Beeinträchtigung spricht.
Somatoforme Störung
Eine Somatoforme Störung ist eine psychische Diagnose, bei der Betroffene anhaltend unter quälenden körperlichen Beschwerden wie Schwindel oder Schmerzen leiden, für die Ärzte trotz intensiver Untersuchung keinen ausreichend erklärbaren organischen Befund finden können. Die Diagnose bestätigt, dass die Beschwerden real sind und behandelt werden müssen, auch wenn die physische Ursache im traditionellen Sinne noch nicht durch bildgebende Verfahren erklärbar ist.
Beispiel: Ein Neurologe diagnostizierte beim Kläger zunächst eine somatoforme Störung, bevor das spätere gerichtlich bestellte Gutachten eine organisch-psychische Folgeerkrankung der Covid-19-Infektion feststellte.
Versorgungsmedizinische Grundsätze (VG)
Die Versorgungsmedizinischen Grundsätze (VG) sind die rechtsverbindliche Anlage zur Versorgungsmedizin-Verordnung und dienen als der bundesweit geltende medizinisch-juristische Katalog für die Bemessung aller Grade der Behinderung. Diese Grundsätze stellen sicher, dass alle Antragsteller in Deutschland nach den gleichen Maßstäben bewertet werden, und dienen Richtern sowie versorgungsärztlichen Diensten als verbindliche Berechnungsgrundlage.
Beispiel: Gemäß den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen (Teil B Nr. 3.7) musste das Gericht feststellen, dass die Symptome des Klägers die Kriterien für eine „schwere Störung mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten“ erfüllten.
Das vorliegende Urteil
SG Speyer – Az.: S 12 SB 318/23 – Urteil vom 03.06.2025
1. Der Beklagte wird unter Abänderung des Bescheides des Beklagten vom 13.02.2023 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.09.2023 verpflichtet, bei dem Kläger einen Gesamtgrad der Behinderung von 50 ab Antragstellung festzustellen.
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Ich bin Dr. Christian Gerd Kotz, Rechtsanwalt und Notar in Kreuztal. Als Fachanwalt für Verkehrs- und Versicherungsrecht vertrete ich Mandant*innen bundesweit. Besondere Leidenschaft gilt dem Sozialrecht: Dort analysiere ich aktuelle Urteile und erkläre praxisnah, wie Betroffene ihre Ansprüche durchsetzen können. Seit 2003 leite ich die Kanzlei Kotz und engagiere mich in mehreren Arbeitsgemeinschaften des Deutschen Anwaltvereins.


