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Psychische Erkrankungen – Bewertung im Schwerbehindertenrecht

SG Aachen – Az.: S 12 SB 529/15 – Urteil vom 20.09.2016

Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 18.02.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.06.2015 verurteilt, den GdB des Klägers ab dem 28.01.2015 mit 50 zu bewerten.

Der Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers dem Grunde nach.

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist die Höhe des dem Kläger zustehenden Grades der Behinderung (GdB) streitig.

Mit Bescheid vom 26.09.1984 stellte die Bundesbahn-Ausführungsbehörde für Unfallversicherung bei dem am 00.00.0000 geborenen Kläger eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 20 v.H. fest. Diese Feststellung vollzog das Versorgungsamt B. mit Bescheid vom 19.10.1984 nach.

Mit Bescheid vom 23.02.2011 lehnte der Beklagte die Feststellung eines höheren GdB als 20 beim Kläger ab. Der hiergegen eingelegte Widerspruch blieb erfolglos.

Am 28.01.2015 stellte der Kläger erneut einen Antrag auf Feststellung eines höheren GdB. Er fügte diesem Antrag Entlassungsberichte der Vorsorge- und Rehabilitationsfachklinik I. über einen Aufenthalt in der Zeit vom 05.03.2014 bis 26.03.2014, der Privatklinik F. über einen Aufenthalt in der Zeit vom 25.05.2014 bis 06.07.2014 und der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Klinik X. über einen Aufenthalt in der Zeit vom 15.09.2014 bis 25.10.2014 bei. Der Bericht der Klinik I. gab als Diagnosen ein Burn-Out-Syndrom, ein Handgelenk-Syndrom, ein Schulter-Arm-Syndrom, eine Schluckstörung (Dysphagie), eine familiäre Belastungssituation sowie ein Restless-legs-Syndrom an. Die Privatklinik F. beschrieb eine schwere depressive Episode, ein Erschöpfungssyndrom, eine Hypertonie, einen Morbus Dupuytren rechts bei Zustand nach zweimaliger Operation und weiterbestehenden Beschwerden sowie ein posttraumatisches Schmerzsyndrom des rechten Ellenbogen und der rechten Schulter sowie des rechten Knies nach Unfällen. Auch die Ärzte der Klinik X. diagnostizierten eine schwere depressive Episode ohne psychotische Symptome.

Der ärztliche Dienst des Beklagten wertete die Unterlagen durch Frau Dr. H. aus. Diese kam zu der Einschätzung der GdB des Klägers sei, bei bestehendem BG-Leiden (Einzel-GdB 20), Funktionseinschränkungen der unteren Gliedmaße (Einzel-GdB 10) einer Herzleistungsminderung mit Bluthochdruck (Einzel-GdB 10), einer seelischen Beeinträchtigung (Einzel-GdB 30) und einer Funktionsbeeinträchtigung der oberen Gliedmaße (BG-unabhängig – Einzel-GdB 10) mit 40 zu bewerten.

Mit Bescheid vom 18.02.2015 stellte der Beklagte daraufhin aufgrund der benannten Funktionsbeeinträchtigungen einen GdB von 40 fest.

Hiergegen legte der Kläger am 16.03.2015 Widerspruch ein, mit dem er die Feststellung eines GdB von 50 begehrte. Zur Begründung verwies er darauf, dass die psychische Beeinträchtigung zu gering bewertet worden sei.

Nach erneuter Stellungnahme durch den ärztlichen Dienst des Beklagten wies die Bezirksregierung Münster mit Widerspruchsbescheid vom 10.06.2015 den Widerspruch als unbegründet zurück.

Am 29.06.2015 hat der Kläger, vertreten durch seine Prozessbevollmächtigte, Klage erhoben, die mit Schriftsatz vom 09.11.2015 insbesondere mit der psychischen Verfassung des Klägers begründet wurde. Der Kläger sei seit 2014 arbeitsunfähig und nach den Feststellungen behandelnder Ärzte „völlig aus der Bahn geworfen“.

Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung von Befundberichten des behandelnden Allgemeinmediziners Dr. I., des Orthopäden N., der Psychiaterin Dr. I-C. sowie einer Entlassungsberichts der Akutklinik V. über einen Aufenthalt des Klägers vom 17.02.2015 bis 12.05.2015. Darüber hinaus hat es ein fachorthopädisches Gutachten des Dr. E. sowie ein nervenärztliches Gutachten des Neurologen und Psychiaters Dr. E. eingeholt.

Im Rahmen der mündlichen Verhandlung hat der Kläger, vertreten durch seinen Prozessbevollmächtigten, beantragt,

den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 18.02.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.06.2015 zu verurteilen, den GdB des Klägers ab Antragstellung mit 50 zu bewerten.

Der Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.

Zur Begründung hat der Beklagte ausgeführt, er könne sich mit der sozialmedizinischen Einordnung und Bewertung der beim Kläger vorliegenden seelischen Beeinträchtigung durch den Gutachter Dr. E., der einen GdB von 50 vorgeschlagen hatte, nicht einverstanden erklären.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie die beigezogene Verwaltungsakte des Beklagten, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Psychische Erkrankungen - Bewertung im Schwerbehindertenrecht
(Symbolfoto: Chinnapong/Shutterstock.com)

Die zulässige Klage ist begründet. Der Kläger ist durch die angefochtenen Bescheide im Sinne des § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beschwert, da diese rechtswidrig sind. Ihm steht derzeit ein GdB von 50 zu.

Nach § 2 SGB IX sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion oder geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht und daher ihre Teilhabe am Leben der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Gemäß § 69 Abs. 1 Satz 4 SGB IX werden die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft als Grad der Behinderung nach 10er Graden abgestuft dargestellt. Bei dem Vorliegen mehrerer Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft wird nach § 69 Abs. 3 SGB IX der GdB nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt.

Die Bemessung des Gesamt-GdB hat dabei in mehreren Schritten zu erfolgen und ist tatrichterliche Aufgabe (Bundessozialgericht – BSG – Beschluss vom 09.12.2010 – B 9 SB 35/10 B = juris Rn. 5 m.w.N.; Landessozialgericht – LSG – Nordrhein-Westfalen Urteil vom 29.06.2012 – L 13 SB 127/11 = juris Rn. 32).

Zunächst sind unter Heranziehung ärztlichen Fachwissens die einzelnen, nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen im Sinn von regelwidrigen, von der Norm abweichenden Zuständen gemäß § 2 Abs. 1 SGB IX und die daraus ableitenden Teilhabebeeinträchtigungen festzustellen. Sodann sind diese den in den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen genannten Funktionssystemen zuzuordnen und mit einem Einzel-GdB zu bewerten. Schließlich ist unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen in einer Gesamtschau der Gesamt-GdB zu bilden (BSG Urteil vom 30.09.2009 – B 9 SB 4/08 R = juris Rn. 18 m.w.N.; LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 29.06.2012 – L 13 SB 127/11 = juris Rn. 32).

Nach Teil A Ziffer 3 der Anlage zu § 2 der aufgrund § 30 Abs. 17 Bundesversorgungsgesetzes (BVG) erlassenen Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 BVG (BGBl. I 2008, S. 2412 – Versorgungsmedizin-Verordnung) vom 10.12.2008 (Versorgungsmedizinische Grundsätze), die wegen § 69 Abs. 1, Satz 4 SGB IX auch im Schwerbehindertenrecht zur Anwendung kommt, sind zur Ermittlung des Gesamtgrades der Behinderung rechnerische Methoden, insbesondere eine Addition der Einzelgrade der Behinderung, nicht zulässig. Vielmehr ist bei der Beurteilung des Gesamtgrades der Behinderung in der Regel von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzelgrad der Behinderung bedingt und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten Grad der Behinderung 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Hierbei ist gemäß Teil A Ziffer 3 lit. d) ee) der Versorgungsmedizinischen Grundsätze zu beachten, dass leichtere Gesundheitsstörungen mit einem Einzelgrad der Behinderung von 10 nicht zu einer Erhöhung des Gesamtgrades der Behinderung führen, selbst wenn mehrere dieser leichteren Behinderungen kumulativ nebeneinander vorliegen. Auch bei Leiden mit einem Einzelgrad der Behinderung von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine Zunahme des Gesamtausmaßes der Behinderung zu schließen.

Schließlich sind bei der Festlegung des Gesamt-GdB zudem die Auswirkungen im konkreten Fall mit denjenigen zu vergleichen, für die in den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen feste GdB-Werte angegeben sind (BSG Urteil vom 02.12.2010 – B 9 SB 4/10 R = juris Rn. 25; vgl. auch Teil A Ziffer 3 lit. b) Versorgungsmedizinische Grundsätze).

Die anspruchsbegründenden Tatsachen sind, dies gilt nach allgemeinen Grundsätzen des sozialgerichtlichen Verfahrens auch im Schwerbehindertenrecht grundsätzlich im Vollbeweis, d.h. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nachzuweisen (vgl. BSG Urteil vom 15.12.1999 – B 9 VS 2/98 R = juris Rn. 14; Bayerisches LSG Urteil vom 18.06.2013 – L 15 BL 6/10 = juris Rn. 67 ff.; Bayerisches LSG Urteil vom 05.02.2013 – L 15 SB 23/10= juris). Für diesen Beweisgrad ist es zwar nicht notwendig, dass die erforderlichen Tatsachen mit absoluter Gewissheit feststehen. Ausreichend, aber auch erforderlich ist indessen ein so hoher Grad der Wahrscheinlichkeit, dass bei Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens kein vernünftiger, den Sachverhalt überschauender Mensch mehr am Vorliegen der Tatsachen zweifelt (vgl. BSG, Urteil vom 28.06.2000 – B 9 VG 3/99 R = juris Rn. 11), d.h. dass die Wahrscheinlichkeit an Sicherheit grenzt (vgl. BSG, Urteil vom 05.05.1993 – 9/9a RV 1/92 = juris Rn. 14). Lässt sich der Vollbeweis nicht führen, geht die Nichterweislichkeit einer Tatsache zu Lasten dessen, der sich zur Begründung seines Anspruchs oder rechtlichen Handelns auf ihr Vorliegen stützen.

Im vorliegenden Fall steht zur Überzeugung der Kammer fest, dass die bei dem Kläger vorliegenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen die Feststellung eines GdB von 50 rechtfertigen.

Der Kläger leidet zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung im Wesentlichen unter

1. Rezidivierender depressiven Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode (F 33.1) 2. Funktionseinschränkungen der Wirbelsäule 3. Funktionseinschränkung der rechten Schulter 4. Funktionseinschränkung des rechten Ellenbogengelenks 5. Operativ behandelte vermehrte Hohlhandverschwartung rechts 6. Funktionseinschränkung des rechten Kniegelenks 7. Funktionseinschränkung beider Großzehengrundgelenke

Das Vorliegen dieser Gesundheitsbeeinträchtigungen steht nach Auffassung der Kammer aufgrund der im Verwaltungs- und Klageverfahren eingeholten Befund- und Arztberichte, des Gutachtens des Dr. E. sowie des Gutachten des Dr. E. fest. Die Gutachten beruhen auf umfangreichen Untersuchungen erfahrener Gutachter, die unter Einsatz von diversen Hilfsmitteln durchgeführt worden sind. Die Kammer hat keinen Anlass an der Richtigkeit der in den Gutachten erhobenen medizinischen Befunde und gestellten Diagnosen zu zweifeln. Die Beteiligten haben auch keine substantiierten Einwände gegen die medizinischen Feststellungen erhoben. Zwischen dem Gutachter Dr. E. und dem Beklagten ist freilich bis zuletzt die Einordnung der psychischen Erkrankung in die Versorgungsmedizinischen Grundsätze umstritten geblieben. Während der Gutachter für eine Subsumtion unter Teil B Ziffer 3.6 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze plädiert, vertritt der Beklagt die Ansicht der Bewertungsmaßstab sei Teil B Ziffer 3.7 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze zu entnehmen.

Diese Differenzen spiegeln nach Auffassung der Kammer ein grundsätzliches Problem der Auslegung der Versorgungsmedizinischen Grundsätze in diesem Punkt wieder.

Dr. E. verweist bei seiner Argumentation auf die psychiatrische Nomenklatur. Er weist darauf hin, dass – mit der Einführung der Klassifikation nach ICD 10 (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) – sich der Begriff der affektiven Störung, oder auch affektiven Psychose, für depressive und auch für manische Störungen durchgesetzt hat (vgl. dazu Wehling, Klinische Pharmakologie, 2. Aufl. 2011, S. 474 ff.; Payk/Brüne, Checkliste Psychiatrie und Psychotherapie, 6. Aufl. 2013, S. 203 ff.; Berger, Psychische Erkrankungen. Klinik und Therapie, 2014, S. 159 ff.; Möller/Laux/Kapfhammer, Psychiatrie und Psychotherapie, 2007, Bd. 2, S. 392 ff.; Tölle/Windgassen, Psychiatrie, 16. Aufl. 2012, S. 237 ff.). Den Begriff der affektiven Psychose verwenden indes auch die Versorgungsmedizinischen Grundsätze in Teil B Ziffer 3.6 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze. Dort heißt es u.a.

„Affektive Psychose mit relativ kurz andauernden, aber häufig wiederkehrenden Phasen bei 1 bis 2 Phasen im Jahr von mehrwöchiger Dauer je nach Art und Ausprägung GdB 30 – 50, bei häufigeren Phasen von mehrwöchiger Dauer GdB 60 – 100

Nach dem Abklingen lang dauernder psychotischer Episoden ist eine Heilungsbewährung von zwei Jahren abzuwarten.

GdS während dieser Zeit, wenn bereits mehrere manische oder manische und depressive Phasen vorangegangen sind GdB 50 sonst GdB 30

Eine Heilungsbewährung braucht nicht abgewartet zu werden, wenn eine monopolar verlaufene depressive Phase vorgelegen hat, die als erste Krankheitsphase oder erst mehr als zehn Jahre nach einer früheren Krankheitsphase aufgetreten ist.“

Die Auffassung, die Depression, bei der er sich nach der fachpsychiatrischen Einteilung um eine affektive Störung bzw. affektive Psychose handelt (vgl. auch ICD 10 F 32 – unter der Rubrik affektive Störungen), unter Teil B Ziffer 3.6 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze zu fassen, ist damit durchaus stringent. Demnach ist für die Beurteilung des GdB insbesondere auf Anzahl, Dauer und Intensität der depressiven Phasen abzustellen.

Auf der anderen Seite werden indes teilweise Depressionen auch unter Anwendung von Teil B Ziffer 3.7 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze bewertet (vgl. etwa Bayerisches LSG Urteil vom 28.07.2011 – L 15 SB 24/07 = juris Rn. 68 – ohne nähere Begründung). Jedenfalls, so wird vertreten, sei für chronische Verlaufsformen depressiver Störungen dann auf Teil B 3.7 abzustellen sei, wenn es sich nicht um einen eindeutig rezidivierenden Verlauf mit zwischenzeitlicher Remission und einen Verlauf ohne psychotische Symptome handele (Steffens, in: Nieder/Losch/Thomann, Behinderungen zutreffend einschätzen und begutachten, B 3, S. 88). Maßgebliches Kriterium bei ist dann in des die Frage der Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit und die Frage nach dem Vorliegen und dem Grad sozialer Anpassungsschwierigkeiten.

Nach Auffassung der Kammer stehen Teil B Ziffer 3.6 und Teil B Ziffer 3.7 ohnehin in engem Zusammenhang. Dies wird schon dadurch deutlich, dass nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zur Auslegung der Begriffe „mittelgradige“ und „schwere“ soziale Anpassungsschwierigkeiten die vom ärztlichen Sachverständigenbeirat am Beispiel des „schizophrenen Residualzustandes“ entwickelten Abgrenzungskriterien herangezogen werden können (vgl. BSG, Urteil vom 23. April 2009 – B 9 VG 1/08 R = juris Rn. 43. juris unter Bezugnahme auf die Beschlüsse des ärztlichen Sachverständigenbeirats vom 18./19. März 1998 und vom 8./9. November 2000; so unlängst auch LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 06.02.2013 – L 11 SB 245/10 = juris Rn. 45 ff; vgl. auch Wendler/Schillings, Versorgungsmedizinische Grundsätze, Teil B Ziffer 3.7; Steffens, in: Nieder/Losch/Thomann, Behinderungen zutreffend einschätzen und begutachten, B 3, S. 86 ff.). Danach werden leichte soziale Anpassungsschwierigkeiten angenommen, wenn z.B. Berufstätigkeit trotz Kontaktschwäche und/oder Vitalitätseinbuße auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch ohne wesentliche Beeinträchtigung möglich ist (wesentliche Beeinträchtigung nur in besonderen Berufen, z. B. Lehrer, Manager) und keine wesentliche Beeinträchtigung der familiären Situation oder bei Freundschaften, d. h. keine krankheitsbedingten wesentlichen Eheprobleme bestehen. Mittelgradige soziale Anpassungsschwierigkeiten werden angenommen bei einer in den meisten Berufen sich auswirkenden psychischen Veränderung, die zwar eine weitere Tätigkeit grundsätzlich noch erlaubt, jedoch eine verminderte Einsatzfähigkeit bedingt, die auch eine berufliche Gefährdung einschließt; als weiteres Kriterium werden erhebliche familiäre Probleme durch Kontaktverlust und affektive Nivellierung genannt, aber noch keine Isolierung, noch kein sozialer Rückzug in einem Umfang, der z. B. eine vorher intakte Ehe stark gefährden könnte. Schließlich liegen nach dieser Einstufung schwere soziale Anpassungsschwierigkeiten dann vor, wenn die weitere berufliche Tätigkeit sehr stark gefährdet oder ausgeschlossen ist; als weiteres Kriterium werden schwerwiegende Probleme in der Familie oder im Freundes- oder Bekanntenkreis bis zur Trennung von der Familie, vom Partner oder Bekanntenkreis benannt. Eine weitere Konkretisierung und Spezifizierung kann freilich darüber hinaus anhand der Vorgaben des ICF (International Classification of Functioning, Disability and Health) aus dem Jahr 2005 erfolgen, welche die Alltagtauglichkeit ausdifferenzierter beschreiben, als dies durch die oben genannten Beschlüsse des Sachverständigenbeirats gewährleistet wird (vgl. hierzu auch Steffens, in: Nieder/Losch/Thomann, Behinderungen zutreffend einschätzen und begutachten, B 3, S 86 ff.).

Im vorliegenden Fall liegt nach den Feststellungen des Gutachters, denen sich die Kammer anschließt, bei dem Kläger eine eindeutig rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode vor. Hierbei handelt es sich nach ICD 10 F 33 um eine Störung, die durch wiederholte depressive Episoden (F32.-) charakterisiert ist. In der Anamnese finden sich dabei keine unabhängigen Episoden mit gehobener Stimmung und vermehrtem Antrieb (Manie). Kurze Episoden von leicht gehobener Stimmung und Überaktivität (Hypomanie) können allerdings unmittelbar nach einer depressiven Episode, manchmal durch eine antidepressive Behandlung mitbedingt, aufgetreten sein.

Nach Auffassung der Kammer ist dieses Krankheitsbild – es handelt sich um eine langanhaltende rezidivierende Erkrankung – entsprechend den obigen Darlegungen grundsätzlich nach Teil B Ziffer 3.6 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze zu bewerten. Im Hinblick darauf, dass der Kläger ausweislich der auch im Verwaltungsverfahren vorliegenden Befunde durchgängig unter einer leicht bis mittelgradigen chronische depressive Verstimmung litt, mit der Notwendigkeit auch der stationären Behandlung, erscheint der Kammer der vom Gutachter festgestellte GdB von 50 für das Funktionssystem Psyche angemessen. Hierbei wurde auch vergleichend das vom Gutachter beim Kläger festgestellte Sozial- und Aktivitätsniveau berücksichtigt. Der Kläger berichtete glaubhaft über eine Einschränkungen und Schwierigkeiten bei der Strukturierung des Tages und der täglichen Routinen. Mit Stress und Krisensituationen kann der Kläger schlecht umgehen. Er ist auch in der Fähigkeit, Hausarbeiten durchzuhalten und Probleme zielgerichtet zu lösen eingeschränkt. Seit 2014 ist er – mit Ausnahme eines kurzen Versuchs der Wiedereingliederung – arbeitsunfähig. Ein Vergleich mit der oben dargestellten Rechtsprung des Bundesozialgerichts zur Frage der mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeit zeigt nach Auffassung der Kammer das beim Kläger der in Ansatz gebrachte GdB – auch unter Berücksichtigung der Kriterien des Teil B Ziffer 3.7 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze – gerechtfertigt ist.

Weitere gesundheitliche Beeinträchtigungen, die geeignet wären den GdB zu erhöhen sind beim Kläger nicht objektiviert.

Für das Funktionssystem der Wirbelsäule ist der GdB – in Übereinstimmung mit dem fachorthopädischen Gutachter- gemäß Teil B Ziffer 18.9 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze mit höchstens 10 zu bewerten.

Der Kläger hat gegenüber dem Gutachter angegeben, er habe Verspannungen im Nackenbereich und am unteren Rücken, weswegen er einmal in der Woche zur Massage gehe. Im Rahmen der Untersuchung ermittelte Dr. E. die Beweglichkeit der Halswirbelsäule im Vorneigen/Rückneigen mit 40°/0°/40°, Seitenneigen rechts/links 40°/0°/40° und Drehen rechts/links mit 60°/0°/60°. Für die Brust- und Wirbelsäule ermittelte er eine Seitneigung von 25°/0°/25°, eine Drehung von 50°/0/°50° (vgl. zur Neutral-Null- Methode etwa, Wülker (Hrsg.), Orthopädie und Unfallchirurgie, 2. Aufl. 2010, S 3 ff.; Dörfler/Eisenmenger/Wandl/Lippert, Medizinische Gutachten, 2008, S. 72 ff.). Der Finger-Boden-Abstand wurde mit 19 cm ermittelt, das Maß nach Schober mit 9-10-14 cm (vgl. zum Wert nach Schober, Wülker (Hrsg.), Orthopädie und Unfallchirurgie, 2. Aufl. 2010, S. 224). Bei den maximalen Bewegungsausschlägen gab der Kläger Schmerzen an. Der Gutachter konnte auch die muskulären Verspannungen im Schulter-/Nackenbereich sowie neben der Lendenwirbelsäule ertasten. Das linke Ileosakralgelenke erwies sich als druckschmerzhaft. Es finden sich – dies steht für die Kammer aufgrund des einholten orthopädischen Gutachtens unter Berücksichtigung der übrigen vorliegenden Befunde fest – nur geringfügige Bewegungseinschränkungen im Bereich der gesamten Wirbelsäule. Diese insgesamt bestehenden Beeinträchtigungen der Wirbelsäule ziehen keinen höheren GdB als 10 nach sich.

Für die Funktionseinschränkung der oberen Extremitäten ist ein GdB von 20 weiter fortzuführen. Insoweit ist die Feststellung eines MdE von 20 durch die Bundesbahn-Ausführungsbehörde für Unfallversicherung im Jahr 1984 zu berücksichtigen, § 69 Abs. 2 SGB IX. Dass dieser Bescheid keinen Bestand mehr hätte, ist nach Auffassung der Kammer weder aus den Akten ersichtlich noch sonst nachgewiesen.

Diese Bewertung ist freilich, dies steht für die Kammer aufgrund der Darlegungen des Gutachters Dr. E. fest, zu hoch.

Der Kläger gab an, er habe eine Bewegungsminderung an der rechten Schulter und am rechten Ellenbogen. Der rechte Arm sei nicht voll belastbar. Wesentliche Einschränkungen konnte der Gutachter indes nicht objektivieren. Bei der Bestimmung der Umfangmaße der oberen Extremitäten waren wesentliche Abweichungen nicht festzustellen. Die rechte Schulter konnte aktiv bis 110° angehoben werden. Der Gutachter konnte insgesamt folgende Werte der Schulterbeweglichkeit nach Neutral-Null ermitteln. Rotation auswärts/einwärts rechts 30°/0°/90°, links 50°/0°/90°, die Ab- und Adduktion rechts 90°/0°/0° und links 130°/0°/20° und das rückwärts/vorwärts Heben rechts mit 20°/0°/110° und links mit 40°/0°/160°. Das Kapselgelenk war druckempfindlich (vgl. zu den normgerechten Werten Buckup/Buckup, Klinische Tests an Knochen, Gelenken und Muskeln, 5. Aufl. 2012, S. 95). Unter Berücksichtigung dieser Bewegungsausmaße kommt für die Schulter an sich kein höherer GdB als 10 in Betracht. Am rechten Ellenbogen fand sich eine reizlos verheilte Narbe. Hier gelang dem Kläger eine maximale Beugung von 130° bei vollständiger Streckung. Die Supi-/Pronation (Außen- und Innendrehung) wurde mit 90°/0°/90° ermittelt. Der linke Ellenbogen war in allen Ebenen in der Beweglichkeit vollkommen frei. Die vermehrte Hohlhandverschwartung der rechten Hand führte nicht zu wesentlichen Beeinträchtigungen. Der Faustschluss und die Streckung der Langfinger waren vollständig möglich. Die Prüfung der Feinmotorik („Klavierspielen“, „Einschrauben einer Glühbirne“ „Finger-Nase-Zeigeversuch mit geschlossenen Augen“) sowie der Pinzettengriff war beidseits problemlos möglich. Gemäß Teil B Ziffer 18.13 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze ist hierfür insgesamt ein GdB von allenfalls 10 gerechtfertigt.

Für das Funktionssystem der unteren Gliedmaße ist gemäß Teil B Ziffer 18.14 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze ein GdB von ebenfalls höchstens 10 in Ansatz zu bringen. Der Kläger beschrieb, orthopädisch sei das Hauptproblem das rechte Knie. Dieses knicke schon mal weg. Er trage fast immer eine Bandage. Bei Belastungen schwelle das Knie an. Er habe überdies Probleme mit den Bändern am rechten Sprunggelenk. Auch dort nehme er für längere Strecken eine Bandage. Die Beweglichkeit des rechten Kniegelenks wurde in der Streckung/Beugung mit 0°/0°/110° und links mit 0°/0°/140° ermittelt. Die Streckung und Beugung des oberen Sprunggelenks beidseits mit 40°/0°/10°. Das Kniegelenk war bei der Untersuchung nicht geschwollen. Eine Ergussbildung bestand nicht. Rechts fand sich ein deutliches Knacken im Kniescheibenlager. Die Innen- und Außenbandführung war beidseits fest. Das Heben und Senken der Sprunggelenke war beidseits im normalen Umfang möglich. Auch die Verwringungen der unteren Sprunggelenke waren nicht schmerzhaft. Bei beiden Großzehengrundgelenken fand sich eine Bewegungseinschränkung um die Hälfte der Norm. Der Kläger konnte den Zehen- und Hackenstand über eine kurze Wegstrecke problemlos zeigen. Auch der Einbeinstand konnte beidseits länger als 5 Sekunden gezeigt werden, wenngleich etwas unsicher. Die Hüfte war in der Extension/Flexion beidseits mit 0°/0°/130° altersentsprechend normgerecht. Die Feststellung eines höheren GdB als 10 kommt vorliegend beim Kläger keinesfalls in Betracht.

Weitere gesundheitliche Beeinträchtigungen, die Auswirkungen auf die Höhe des Grades der Behinderung haben könnten wurden weder vorgetragen noch sind sie – trotz umfangreicher medizinischer Ermittlungen – ersichtlich.

Auf der Grundlage der genannten Einzel-GdB-Werte ist bei dem Kläger für den maßgeblichen Zeitpunkt nach § 69 Abs. 3 SGB IX in Verbindung mit Teil A Nr. 3 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze ein Gesamt-GdB von 40 zu bilden.

§ 69 Abs. 3 Satz 1 SGB IX schreibt vor, bei Vorliegen mehrerer Teilhabebeeinträchtigungen den Grad der Behinderungen nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festzusetzen. Der maßgebliche Gesamt-GdB ergibt sich dabei aus der Zusammenschau aller Funktionsbeeinträchtigungen. Er ist nicht nach starren Beweisregeln, sondern aufgrund richterlicher Erfahrung unter Hinzuziehung der Sachverständigengutachten sowie der versorgungsmedizinischen Grundsätze in freier richterlicher Beweiswürdigung nach natürlicher, wirklichkeitsorientierter und funktionaler Betrachtungsweise festzustellen (LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 29.06.2012 – L 13 SB 127/11 = juris Rn. 42 unter Bezugnahme auf BSG Urteil vom 11.03.1998 – B 9 SB 9/97 R = juris Rn. 10 m.w.N.). Dabei ist zu berücksichtigen, ob die Auswirkungen der einzelnen Beeinträchtigungen ineinander aufgehen, sich überschneiden, sich verstärken oder beziehungslos nebeneinander stehen (BSG Urteil vom 02.12.2010 – B 9 SB 4/10 R = juris).

Im vorliegenden Fall stehen bei dem Kläger die Auswirkungen der psychischen Beeinträchtigung absolut im Vordergrund. Hieraus ist nach Auffassung der Kammer wie oben ausführlich dargelegt ein GdB von 50 in Ansatz zu bringen. Soweit daneben – formal – weiterhin ein GdB von 20 für das Funktionssystem der oberen Extremitäten festgestellt ist, ist dieser, da er sich wie dargelegt nicht wesentlich auswirkt, nicht weiter erhöhend zu berücksichtigen. Auch die daneben bestehenden Beeinträchtigungen, die allesamt keinen GdB von mehr als 10 bedingen, sind nicht geeignet, den GdB weiter zu erhöhen.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.

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