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Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit – Feststellung Leistungsminderung

Landessozialgericht Sachsen-Anhalt – Az.: L 1 R 172/20 – Urteil vom 26.08.2022

Die Berufung wird zurückgewiesen.

Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist die Bewilligung von Rente wegen voller Erwerbsminderung nach dem Sechsten Buch Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Rentenversicherung (SGB VI) ab 1. November 2015 streitig.

Der am … 1967 geborene Kläger absolvierte nach Abschluss der zehnten Schulklasse von 1984 bis 1986 eine Lehre als Baufacharbeiter und von 1996 bis 1998 als Baugeräteführer. Zuletzt war er von März bis Juli 2013 als Baufacharbeiter beschäftigt. Er bezog anschließend Krankengeld und Arbeitslosengeld und seither Grundsicherungsleistungen.

Nach dem Rehabilitationsentlassungsbericht der T. Fachklinik vom 9. April 2014 über die ambulante Rehabilitation vom 20. März bis 9. April 2014 bestünden ein pseudoradikuläres Lumbalsyndrom links bei Osteochondrose und Spondylarthrose und ein chronisches Zervikalsyndrom bei muskulären Dysbalancen. Das Gangbild wurde als zügig und ungestört beschrieben. Der Kläger könne spätestens in 4 Wochen körperlich mittelschwere Tätigkeiten mit weiteren Einschränkungen 6 Stunden täglich und mehr verrichten. Als Baufacharbeiter sei er nicht einsetzbar.

In dem Rentenantrag vom 20. Oktober 2015 machte der Kläger geltend, seit 10 Jahren wegen chronischer Schmerzen, Rücken, Taubheitsgefühl „0 Stunden“ leistungsfähig zu sein.

Die Beklagte zog zunächst von der Fachärztin für Innere Medizin M. Befundunterlagen bei und holte einen Befundbericht von der Fachärztin für Anästhesiologie K. vom 25. November 2015 ein. Dort hatte sich der Kläger von Juli bis Oktober 2013 in Behandlung befunden.

Die Beklagte ließ sodann die Fachärztin für Anästhesiologie und Sozialmedizin E. von ihrem Sozialmedizinischen Dienst (SMD) das Gutachten vom 29. Januar 2016 nach Untersuchung des Klägers am 13. Januar 2016 erstatten. Dieser gab an, wegen Schmerzen könne er keine Wegstrecken mehr zurücklegen. Auto fahre er nur kurze Strecken. Die Gutachterin beschrieb einen guten Allgemein- und Kräftezustand mit sehr gut ausgeprägter Muskulatur der Extremitäten und im Brustbereich, ein flüssiges Gangbild ohne Hilfsmittel und ein flüssiges Be- und Entkleiden im freien Stand. Die oberen und unteren Extremitäten seien frei beweglich und die Muskelkraft vollständig erhalten. Die Lendenwirbelsäule (LWS) sei eingeschränkt beweglich; in allen anderen Abschnitten sei die Wirbelsäule ohne Schmerzangabe frei beweglich. Neurologische Ausfälle lägen nicht vor. Es bestehe eine verminderte Sensibilität des gesamten linken Beins. Die Gutachterin diagnostizierte eine Minderbelastbarkeit der LWS bei Verschleiß und fortbestehender Schmerzsymptomatik sowie eine Minderbelastbarkeit bei Schulter-Arm-Syndrom. Der Kläger könne noch leichte bis mittelschwere körperliche Tätigkeiten im Stehen, Gehen und Sitzen 6 Stunden täglich und mehr verrichten. Zu vermeiden seien häufiges Hocken, Arbeiten in Rumpfvorneige sowie über Kopf, Arbeiten auf Leitern und Gerüsten, mit stetiger Einwirkung von Nässe, Kälte und Zugluft sowie mit stets einseitiger Arbeitshaltung ohne Möglichkeit zum Ausgleich. Nach Einleitung einer suffizienten Schmerztherapie sei der Kläger in der Lage, mindestens 500 m in jeweils 20 Minuten viermal täglich zurückzulegen. Als Baufacharbeiter könne er nicht mehr arbeiten.

Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 20. Januar 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. Juli 2016 den Antrag auf Rente wegen Erwerbsminderung ab. Es bestehe ein Leistungsvermögen im Umfang von mindestens 6 Stunden täglich für leichte bis mittelschwere Arbeiten mit weiteren Funktionseinschränkungen.

Hiergegen hat sich der Kläger mit der am 5. August 2016 beim Sozialgericht Magdeburg erhobenen Klage gewandt und am 20. Januar 2017 ausgeführt, wegen der Schmerzzustände könne er keinerlei Tätigkeiten von wirtschaftlichem Wert mehr verrichten.

Das Sozialgericht hat Befundberichte der behandelnden Ärzte eingeholt. Die Fachärztin für Orthopädie S. hat am 15. Juli 2017 angegeben, den Kläger zuletzt im Oktober 2013 behandelt zu haben. Der Facharzt für Orthopädie E. hat am 27. Juli 2017 ein mindestens sechs- bzw. achtstündiges tägliches Leistungsvermögen mit Pausen angenommen. Die Hausärztin M. hat am 18. Juli 2017 eingeschätzt, den Beruf als Bauarbeiter könne der Kläger nicht mehr ausüben; zudem sei er wegeunfähig.

Der Kläger ist vom 26. bis 30. April 2018 stationär wegen einer Fraktur des linken oberen Sprunggelenks behandelt worden. Der Facharzt für Chirurgie B. hat am 22. Juni 2018 eine Belastung des linken Beins erlaubt und am 24. Juni 2019 eine 100%ige Konsolidierung festgestellt.

Sodann hat auf Antrag des Klägers nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) die Fachärztin für Orthopädie K. das Gutachten vom 24. Juli 2019 nach dessen Untersuchung am selben Tag erstattet. Der Kläger hat angegeben, er könne weniger als eine halbe Stunde zu Fuß gehen. Er benutze seit Jahren Unterarmgehstützen außer Haus und im Garten. Die Gutachterin hat den Kläger als beschwerdefixiert beschrieben. Das Gangbild sei an zwei Unterarmstützen sicher und flüssig, ohne Unterarmgehstützen hinke er nicht. Hinweise auf ein neurologisches Defizit lägen nicht vor. Die Gutachterin hat folgende Diagnosen gestellt: Chronisches lumbales Pseudoradikulärsyndrom links bei beginnenden degenerativen Veränderungen der LWS besonders im Segment L 2/3, Synovialitis rechts bei Koxarthrose rechts mehr als links, rezidivierende belastungsabhängige Gonalgie bei retropatellar führender Valgusgonarthrose rechts mehr als links, chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren, knöchern konsolidierte, osteosynthetisch versorgte Sprunggelenkfraktur links. Die Intensität der durch die Rückenschmerzen verursachten Störungen und die starke Beeinträchtigung der Gehfähigkeit überstiegen das erwartbare Ausmaß der Untersuchungsbefunde deutlich. Es bestünden Aggravationstendenzen und ein demonstratives Verhalten. So habe der Kläger die ihm runtergefallenen Tabletten demonstrativ nicht aufgehoben, obwohl ihm dies anhand der Messwerte gut hätte gelingen müssen. Auch die Nutzung der Unterarmstützen sei eher nicht nachvollziehbar. Der Kläger könne noch körperlich leichte Arbeiten überwiegend im Sitzen mit gelegentlichem Haltungswechsel zum Gehen und Stehen mindestens 6 Stunden täglich verrichten. Mittelschwere Arbeiten seien wegen der Coxarthrose rechts mehr als links nunmehr auszuschließen. Er könne nur noch in geschlossenen Räumen arbeiten; Arbeiten im Akkord und mit besonderer Beanspruchung der Wirbelsäule und der Beine seien ausgeschlossen. Die Leistungsfähigkeit genüge einfachen bis durchschnittlichen Anforderungen an das Sehen, Schreiben sowie die mnestischen und kognitiven Fähigkeiten. Vermehrte Arbeitspausen sei nicht erforderlich. Der Kläger könne viermal täglich 500 m zu Fuß zurücklegen. Er könne selbstständig ein Kraftfahrzeug führen.

Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 12. Juni 2020 abgewiesen. Der Kläger sei nicht erwerbsgemindert und auch nicht in der Wegefähigkeit wesentlich eingeschränkt.

Gegen das ihm am 29. Juni 2020 zugestellte Urteil hat der Kläger am 24. Juli 2020 Berufung beim Landessozialgericht Sachsen-Anhalt eingelegt. Die Schmerzsymptomatik ließe eine nur noch 2-stündige Leistungserbringung zu. Die prognostische Notwendigkeit einer Hüft-TEP erlaube schon jetzt keine berufliche Tätigkeit von 6 Stunden täglich und mehr. Die Unterarmstützen seien von der Hausärztin verordnet worden; insoweit liege keine Aggravation vor.

Der Kläger beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Magdeburg vom 12. Juni 2020 und den Bescheid der Beklagten vom 20. Januar 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. Juli 2016 aufzuheben, die Beklagte und Berufungsbeklagte zu verurteilen, ihm Rente wegen voller Erwerbsminderung, hilfsweise Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit, unter Beachtung der Rechtsauffassung des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt entsprechend den Maßgaben der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil und ihren Bescheid für zutreffend. Sie hat ergänzend auf die Stellungnahme des SMD vom 28. Oktober 2020 verwiesen.

Der Senat hat Befundberichte der Hausärztin M. vom 17. November 2020 und der Fachärztin für Orthopädie S. vom 20. November 2020 eingeholt. Frau M. hat eine deutliche Verschlechterung der Gesamtsymptomatik nach der Sprunggelenksfraktur links mit einem Lymphödem im linken Bein beschrieben. Der Kläger werde mit dem Auto vor die Praxis gefahren und laufe wenige Schritte ohne Stützen bei deutlichem Schonhinken. S. hat zusätzliche Schultergelenksbeschwerden rechts seit 2020 mitgeteilt. Aus den Befunden des linken Sprunggelenks ließe sich nicht die Notwendigkeit von Unterarmstützen ableiten.

Sodann ist auf Antrag des Klägers nach § 109 SGG das schmerzmedizinische Gutachten der Fachärztin für Anästhesiologie, spezielle Schmerztherapie F. vom 15. Juni 2021 nach Untersuchung des Klägers am 9. April 2021 eingeholt worden. Der Kläger hat angegeben, sich wegen der chronischen Dauerschmerzen in seiner Wohnung meistens sitzend oder liegend aufzuhalten. Er verlasse das Haus nur zu unausweichlichen Gelegenheiten und fahre nur einmal die Woche mit dem Auto einkaufen. Das Gangbild ohne Gehhilfe hat die Gutachterin als unauffällig beschreiben. Es bestehe eine im Wesentlichen uneingeschränkte passive und mit etwas mehr Einschränkungen auch aktive Beweglichkeit des Skelettapparats. Die Muskelkraft der Extremitäten sei vollständig erhalten. Reflexe und Sensibilität seien ungestört. Die chronische eigenständige Schmerzkrankheit müsse nicht zwangsläufig mit apparativen oder klinischen Untersuchungsbefunden korrelieren. Die Gutachterin hat folgende Diagnosen genannt: Chronische Schmerzstörung mit psychischen und somatischen Faktoren, andauernde Persönlichkeitsänderung bei chronischem Schmerzsyndrom, nicht radikulär ausstrahlender lumbosakraler Rückenschmerz bei degenerativen WS-Veränderungen L3-L5, Muskeldysfunktion: mehrere Lokalisationen, Belastungsschmerz bei Gonarthrose beider Kniegelenke. Aus schmerztherapeutischer Sicht könne der Kläger jegliche dauerhafte, auf Wiederholung und Regelmäßigkeit ausgelegte körperliche Arbeit über 60 Minuten nicht bewältigen. Ausgeschlossen seien Arbeiten unter Zeitdruck, im Akkord, in Wechselschicht, Nachtarbeit, Arbeit in Zwangshaltung und mit überwiegend einseitigen Körperhaltungen, mit Hilfsmitteln zur Höhenarbeit, mit schweren technischen Geräten, bei Kälte, Nässe, Temperaturschwankungen, Hitze, Zugluft, Lärm. Die Chronifizierungsprozesse beeinträchtigten die kognitive Leistungsfähigkeit, das Reaktionsvermögen und die Aufmerksamkeit. Die geistige Leistungsfähigkeit sei nachhaltig und schwerwiegend reduziert. Ungelernte Tätigkeiten könnten nicht zuverlässig und dauerhaft durchgeführt werden. Die der Art nach zumutbaren Tätigkeiten könne der Kläger seit mindestens 2015 nicht mehr 6 Stunden täglich ausüben. Er könne nur für kürzere Strecken ein Kfz führen und nicht ohne Anstrengung und ohne Pausen viermal täglich mehr als 500 m zu Fuß in längstens 20 Minuten zurücklegen; Gehilfen würden die Beschwerden nicht lindern. Dringend geboten sei eine interdisziplinare multiprofessionelle Schmerztherapie. Zu Beginn könne eine multimodale stationäre Therapie erfolgen, die im Verlauf gegebenenfalls ambulant fortgesetzt werden müsse. Ziel sei zunächst eine bessere Schmerzkontrolle und allenfalls langfristig eine Schmerzfreiheit.

Daraufhin hat die Beklagte mit Bescheid vom 25. November 2021 dem Kläger eine stationäre Leistung zur medizinischen Rehabilitation für die Dauer von fünf Wochen im Schmerztherapiezentrum RV Bad M. bewilligt. Sie hat mitgeteilt, dass der Kläger am 8. Mai 2022 in der Rehabilitationsklinik abgesagt habe.

Nach richterlichem Hinweis vom 10. Mai 2022 auf die Mitwirkungspflichten den Grundsatz der objektiven Beweislast hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers am 31. Mai 2022 erklärt: Der Kläger werde an der Rehabilitationsmaßnahme nicht teilnehmen. Das Verfahren laufe seit 2015 und es seien umfangreiche Begutachtungen erfolgt. Die Maßnahme habe nur den Zweck, das Verfahren weiter hinzuziehen. Dessen Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit sei erheblich deformiert worden.

Die Beteiligten haben sich mit Erklärungen vom 31. Mai und 24. Juni 2022 mit einer Entscheidung des Rechtsstreits ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen, die Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen sind.

Entscheidungsgründe

I.

Der Senat konnte den Rechtsstreit entscheiden, ohne eine mündliche Verhandlung durchzuführen, da sich die Beteiligten übereinstimmend hiermit einverstanden erklärt haben (§§ 154 Abs. 1, 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz [SGG]).

Die Berufung ist gemäß § 143 SGG statthaft und auch nach § 144 Abs. 1 SGG zulässig, soweit der Kläger Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung ab 1. November 2015 begehrt.

Hinsichtlich der hilfsweise begehrten Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit ist die Berufung unzulässig, da der Kläger die Klage vor dem Sozialgericht Magdeburg am 12. Juni 2020 insoweit zurückgenommen hat.

II.

Die Berufung ist unbegründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung.

1.

Nach § 43 Abs. 1, Abs. 2 SGB VI haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Bewilligung von Rente wegen teilweiser oder voller Erwerbsminderung, wenn sie teilweise oder voll erwerbsgemindert sind, in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben. Nach § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI sind teilweise erwerbsgemindert Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Nach § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI sind voll erwerbsgemindert Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Erwerbsgemindert ist nach § 43 Abs. 3 SGB VI nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen. Einen Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung hat auch, wer auf nicht absehbare Zeit außerstande ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein, unter den Voraussetzungen einer sog. Arbeitsmarktrente (vgl. Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 19. Oktober 2011, B 13 R 78/09 R).

2.

Der Senat konnte sich nicht davon überzeugen, dass der Kläger voll oder teilweise erwerbsgemindert ist.

a.

Die Feststellung des Leistungsfalls einer Erwerbsminderung unterliegt den Grundsätzen der objektiven Beweislast. Danach trägt derjenige die Folgen der Nichterweislichkeit einer Tatsache, der daraus ein Recht oder einen rechtlichen Vorteil herleiten will (vgl. Bundessozialgericht [BSG], BSGE 19, S. 52, 53). Dies ist im vorliegenden Fall der Kläger, der einen Anspruch gegen die Beklagte auf Bewilligung von Rente wegen voller Erwerbsminderung geltend macht.

Der Grundsatz der objektiven Beweislast greift dann ein, wenn das Gericht trotz aller Bemühungen den Sachverhalt nicht weiter aufklären kann (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Auflage, § 118 Rdnr. 6). Das Gericht erforscht den Sachverhalt von Amts wegen; die Beteiligten sind hierzu mit heranzuziehen (§ 103 S. 1 SGG). Eine Mitwirkungspflicht der Beteiligten – hier des Klägers – besteht immer dann, wenn das Gericht den Sachverhalt anderenfalls nicht oder nicht vollständig selbst erforschen kann (BSG, SozR 1500, § 103 Nr. 27). Die Grenzen der zumutbaren Mitwirkung ergeben sich aus § 65 Abs. 2 Erstes Buch Sozialgesetzbuch – Allgemeiner Teil (SGB I).

Nichts Anderes gilt, wenn im laufenden Rechtsstreit der Leistungsträger eine stationäre Rehabilitationsmaßnahme anbietet. Denn auch diesem gegenüber bestehen Mitwirkungspflichten des Versicherten. Nach § 63 SGB I soll, wer wegen Krankheit oder Behinderung Sozialleistungen beantragt oder erhält, sich auf Verlangen des zuständigen Leistungsträgers einer Heilbehandlung unterziehen, wenn zu erwarten ist, dass sie eine Besserung seines Gesundheitszustands herbeiführen oder eine Verschlechterung verhindern wird.

Lehnt ein Versicherter jedoch eine ihm zumutbare Begutachtung oder Heilbehandlung ab, so hat er die prozessrechtlichen Folgen seines Verhaltens zu tragen. Dies gilt aber nicht, wenn das Gericht sich vom Vorliegen des Leistungsfalls der Erwerbsminderung durch Würdigung der bisher eingeholten Gutachten überzeugen kann (BSG, Urteil vom 18. Juni 2014, B 3 P 7/13 R).

b.

Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe ist das tägliche Leistungsvermögen des Klägers seit November 2015 nicht nachweislich auf unter 3 Stunden bzw. unter 6 Stunden gemindert. Denn der Nachweis im Sinne des erforderlichen Vollbeweises, also der vollen richterlichen Überzeugung, ist hier bisher nicht erbracht. Die Nichterweislichkeit der Anspruchsvoraussetzungen geht nach dem Grundsatz der objektiven Beweislast zu Lasten des Klägers.

Anhand der bisherigen Beweisaufnahme ist nicht mit der erforderlichen an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststellbar, dass die Voraussetzungen für eine Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung seit November 2015 vorliegen.

a.a.

Bei dem Kläger liegen nach dem bisherigen Stand der Beweisaufnahme folgenden Gesundheitsstörungen vor, die seine Erwerbsfähigkeit beeinflussen:

  • Minderbelastbarkeit der LWS bei Verschleiß und fortbestehender Schmerzsymptomatik sowie eine Minderbelastbarkeit bei Schulter-Arm-Syndrom.
  • Chronisches lumbales Pseudoradikulärsyndrom links bei beginnenden degenerativen Veränderungen der LWS besonders im Segment L 2/3.
  • Synovialitis rechts bei Koxarthrose rechts mehr als links.
  • Rezidivierende belastungsabhängige Gonalgie bei retropatellar führender Valgusgonarthrose rechts mehr als links.
  • Chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren.
  • Knöchern konsolidierte, osteosynthetisch versorgte Sprunggelenkfraktur links.
  • Verdacht auf andauernde Persönlichkeitsänderung bei chronischem Schmerzsyndrom.

b.b.

Mit diesem Leistungsvermögen kann der Kläger nach den Gutachten der Frau K. vom 24. Juli 2019 und der Frau E. vom 22. Januar 2016 noch folgende Tätigkeiten ausüben:

Er kann noch leichte körperliche Tätigkeiten überwiegend im Sitzen mit gelegentlichem Haltungswechsel zum Gehen und Stehen 6 Stunden täglich und mehr verrichten. Zu vermeiden sind häufiges Hocken, Arbeiten in Rumpfvorneige sowie über Kopf, Arbeiten auf Leitern und Gerüsten, mit stetiger Einwirkung von Nässe, Kälte und Zugluft sowie mit stets einseitiger Arbeitshaltung ohne Möglichkeit zum Ausgleich. Er kann nur noch in geschlossenen Räumen arbeiten; Arbeiten im Akkord und mit besonderer Beanspruchung der Wirbelsäule und der Beine sind ausgeschlossen. Die Leistungsfähigkeit genügt einfachen bis durchschnittlichen Anforderungen an das Sehen, Schreiben sowie die mnestischen und kognitiven Fähigkeiten. Vermehrte Arbeitspausen sind nicht erforderlich.

c.c.

Eine relevante und dauerhafte Verschlechterung des Gesundheitszustands und der Körperfunktionen gegenüber dem Jahr 2015 ist nicht nachweisbar. Die Fraktur des linken Sprunggelenks im April 2018 erlaubte schon im Juni 2018 die volle Belastung des Fußes; spätestens im Juni 2019 war der Bruch vollständig konsolidiert. Neurologische Ausfälle, Sensibilitätsstörungen oder eine radikuläre Symptomatik ausgehend von der Wirbelsäule liegen weiterhin nicht vor. Es bestehen auch unverändert keine Kraftminderung in den oberen und unteren Extremitäten oder mehr als unwesentliche Beweglichkeitseinschränkung des Skelettapparates.

Die funktionalen Auswirkungen der Schmerzsymptomatik auf das sozialmedizinische körperliche Leistungsvermögen sind in den Gutachten der Frau K. vom 24. Juli 2019 und der Frau E. vom 22. Januar 2016 vollumfänglich dokumentiert worden. Hinweise für eine rentenrelevante schmerzbedingte Einschränkung der geistigen oder psychischen Leistungsfähigkeit einschließlich der Fahrtauglichkeit für Pkw finden sich weder in den Gutachten noch in den Befund- und Behandlungsberichten. In schmerztherapeutischer Behandlung war der Kläger auch letztmals im Oktober 2013 gewesen.

Das Gutachten nach § 109 SGG der F. vom 15. Juni 2021 ist nicht geeignet, den streitigen Leistungsanspruch zu begründen. Ihre Schlussfolgerungen aus den gestellten Diagnosen sind nicht überzeugend. Zum einen hat die Sachverständige ein seit 2015 aufgehobenes Leistungsvermögen angenommen, ohne sich mit den entgegenstehenden o.g. Gutachten und der abweichenden Einschätzung des behandelnden Orthopäden E. auseinanderzusetzen. Zum anderen sind die von ihr festgestellten Funktionseinschränkungen auf orthopädischem Gebiet nicht geeignet, ein aufgehobenes Leistungsvermögen für körperlich leichte Tätigkeiten anzunehmen. Bis auf leichte Beweglichkeitseinschränkungen sind die Befunderhebungen unauffällig gewesen. Auch das Gangbild – ohne Gehilfen – hat sich bei der Untersuchung durch F. als unauffällig erwiesen. Die von ihr angenommenen kognitiven Funktionseinschränkungen basieren nicht auf objektiven Testverfahren oder anderen Befunden. Die geschilderten psychischen Folgeerkrankungen betreffen nicht das Fachgebiet der Sachverständigen und sind von den behandelnden Ärzten auch nicht bestätigt worden. Insbesondere ist daraus keine nachhaltige und schwerwiegend eingeschränkte geistige Leistungsfähigkeit herzuleiten, wie F. meint. Anderenfalls müsste auch die Fähigkeit für das Führen eines Kfz im Straßenverkehr aufgehoben sein.

Es ist somit nach dem bisherigen Stand der Beweiserhebung nicht ersichtlich, dass der Kläger weniger als 6 Stunden täglich körperlich leichte Tätigkeiten mit weiteren qualitativen Einschränkungen verrichten könnte.

d.d.

Der Kläger ist auch nicht nachweislich wegeunfähig. Alle Gutachter haben ein im Wesentlichen unbeeinträchtigtes Gehvermögen bestätigt, auch F.. Für die Notwendigkeit der Benutzung von Unterarmstützen findet sich keine medizinische Begründung. Die behandelnde Orthopädin hat die medizinische Notwendigkeit von Unterarmstützen ausdrücklich verneint.

Nicht nachvollziehbar ist die Einschätzung von F., zum jetzigen Stand wäre die Wegstrecke von 500 m nicht ohne Anstrengung und ohne Pausen möglich. Der Kläger selbst hatte dort angegeben, eine Schmerzzunahme erfolge zum Beispiel „bei längerem Gehen“. Gegenüber Frau K. hat der Kläger geschildert, er könne nicht einmal eine halbe Stunde zu Fuß gehen. Von (mehreren) notwendigen Pausen hat er nichts berichtet. Angesichts der uneingeschränkten Beweglichkeit der unteren Extremitäten dürfte er knapp 2 km auch unterhalb einer halben Stunde zurücklegen dürfen. F. hat auch im Bereich der unteren Extremitäten auch keinerlei Diagnosen erhoben, die eine Einschränkung des Gehvermögens auch nur annähernd plausibel machten.

Darüber hinaus könnte der Kläger zur Kompensation eines aufgehobenen Wegevermögens seinen Pkw benutzen. Er ist nach eigenem Bekunden in der Lage, diesen für Fahrten von bis zu einer Stunde zu nutzen.

e.e.

Die Weigerung des Klägers, die angebotene schmerztherapeutische Rehabilitationsmaßnahme durchzuführen, führt im Rahmen der objektiven Beweislast zu keiner anderen Einschätzung. Ohne Abschlussbericht mit einer dort vorgesehenen Einschätzung des sozialmedizinischen Leistungsvermögens lässt sich zugunsten des Klägers kein Leistungsfall der Erwerbsminderung feststellen.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für eine Zulassung der Revision im Sinne von § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor. Es handelt sich um eine Entscheidung auf gesicherter Rechtsgrundlage, ohne dass der Senat von einer Entscheidung der in § 160 Abs. 2 Nr. 2 SGG genannten Gerichte abweicht.

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