Landessozialgericht Rheinland-Pfalz – Az.: L 6 R 245/16 – Urteil vom 08.08.2017
1. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Mainz vom 15.02.2016 wird zurückgewiesen.
2. Außergerichtliche Kosten des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung.
Der 1961 geborene Kläger hat eine 1976 begonnene Berufsausbildung als Bäcker nicht abgeschlossen, war als Bauhelfer, Lkw-Beifahrer und Lagerarbeiter bis 1991 und nach Zeiten der Arbeitslosigkeit bis 2004 in einem Getränkemarkt und einer Tankstelle beschäftigt. Er bezieht Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II).
Anträge des Klägers auf Zuerkennung einer Rente wegen Erwerbsminderung aus den Jahren 2005 und 2008 hatten keinen Erfolg (Rechtsstreit vor dem Sozialgericht (SG) Mainz S 13 R 564/09).
Auf einen erneuten Antrag vom Mai 2012 zog die Beklagte einen Befundbericht bei der Ärztin B. W. bei und veranlasste ein Gutachten vom 17.10.2012 durch den Facharzt für Chirurgie P . Dieser stellte folgende Diagnosen: „Chronische Zervikobrachialgie bei multisegmentalen Bandscheibenprotrusionen und Osteochondrosen C6 bis C7 mit mäßiggradiger Bewegungseinschränkung ohne radikuläre Kompressionssymptomatik; Chronische Lumbago bei multisegmentaler Bandscheibenprotrusion L2 bis S1 mit endgradiger Bewegungseinschränkung ohne radikuläre Kompressionssymptomatik; Posttraumatische OSG-Arthrose rechts bei Zustand nach konservativ behandelter Außenbandruptur rechts (privater Unfall) mit leichter Beeinträchtigung der Gehfähigkeit, ohne Bewegungseinschränkung“. Er erachtete den Kläger für in der Lage, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt leichte bis gelegentlich mittelschwere Arbeiten vollschichtig zu verrichten. Daraufhin lehnte die Beklagte den Antrag durch Bescheid vom 26.10.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07.05.2013 ab.
Der Kläger hat am 07.06.2013 Klage bei dem SG erhoben. Das SG hat Befundberichte bei Dr. v. N., Dr. B., Dr. A. W. und bei der Ärztin B. W. beigezogen.
Außerdem hat das SG bei Dr. L. ein fachinternistisches Gutachten vom 17.03.2014 eingeholt. Er hat an sozialmedizinisch relevanten Diagnosen ein Wirbelsäulensyndrom mit Schmerzen an der Wirbelsäule bei Verschleiß, eine Arthralgie des rechten Sprunggelenks mit Schmerzen bei Verschleiß und verletzungsbedingter Lockerung von Bändern sowie eine chronische Bronchitis mit Lungenemphysem festgestellt und ausgeführt, dass es diese Gesundheitsstörungen dem Kläger ermöglichten, noch leichte bis mittelschwere Arbeiten vollschichtig auszuführen.
Das SG hat die Klage durch Urteil vom 15.02.2016 abgewiesen. Der Kläger habe keinen Anspruch auf die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente, da weder die Voraussetzungen einer vollen noch einer teilweisen Erwerbsminderung vorlägen. Er sei noch in der Lage, leichte bis mittelschwere Tätigkeiten wenigstens 6 Stunden täglich auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu verrichten. Hierbei hat sich das SG auf das Gutachten des Dr. L. gestützt.
Gegen das ihm am 09.05.2016 zugestellte Urteil hat der Kläger am 09.06.2016 Berufung eingelegt. Er macht geltend, dass er überhaupt keine Arbeiten von wirtschaftlichem Wert mehr verrichten könne. Dies ergebe sich aus den Attesten seiner behandelnden Ärzte und aus den vorliegenden Arztberichten. Es sei eine Summierung von ungewöhnlichen Leistungseinschränkungen gegeben und es bestehe das Risiko einer häufigen Arbeitsunfähigkeit. Notwendig sei die Einholung eines Zusammenhangsgutachtens. Der Kläger hat ein Attest des Dr. J. vom 09.03.2017, einen radiologischen Bericht des Dr. W. vom 10.03.2017 sowie einen Bericht des PD Dr. H. aus dem Klinikum W. vom 28.03.2017 vorgelegt.
Der Kläger beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Mainz vom 15.02.2016 sowie den Bescheid der Beklagten vom 26.10.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07.05.2013 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm eine Rente wegen Erwerbsminderung ab Antragstellung zu gewähren.
Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Sie erachtet die angefochtene Entscheidung für zutreffend und bezieht sich auf eine Stellungnahme der Beratungsärztin S. vom 26.07.2016.
Der Senat hat im Wege der Beweisaufnahme ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten des Dr. N. vom 03.02.2017 mit ergänzender Stellungnahme vom 12.04.2017 veranlasst. Der Sachverständige hat folgende Diagnosen erhoben: „Degeneratives Zervikal- und Lumbalsyndrom ohne Wurzelreiz- oder -ausfallssymptome; Psychische und Verhaltensstörungen durch Alkohol: Schädlicher Gebrauch; Episodischer Spannungskopfschmerz. “Er hat den Kläger für fähig angesehen, körperlich leichte bis in Spitzen mittelschwere Tätigkeiten mit qualitativen Leistungseinschränkungen vollschichtig zu verrichten. Seine Wegefähigkeit sei nicht eingeschränkt.
Zur Ergänzung des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, der Archivakte des Sozialgerichts Mainz S 13 R 564/09 sowie der Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen. Er war Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Beratung.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung des Klägers ist unbegründet. Ihm steht kein Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung zu. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Bescheid der Beklagten vom 26.10.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07.05.2013 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.
Das SG hat im Urteil vom 15.02.2016 die Voraussetzungen des § 43 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) für die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente benannt und unter nicht zu beanstandender Heranziehung des eingeholten Gutachtens des Dr. L. vom 17.03.2014 ausgeführt, dass der Kläger noch in der Lage ist, leichte bis mittelschwere Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt für täglich wenigstens 6 Stunden zu verrichten. Auch hat sich das SG korrekt mit dem Befundbericht der Ärztin W. auseinandergesetzt und dargelegt, dass sich hieraus keine andere Beurteilung ergibt. Außerdem hat das SG zutreffend die Voraussetzungen einer Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit nach § 240 Abs. 1 SGB VI für nicht gegeben erachtet. Zur Vermeidung von Wiederholungen sieht der Senat insoweit von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab und weist die Berufung aus den zutreffenden Gründen der angefochtenen Entscheidung als unbegründet zurück (§ 153 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG).
Aus dem Vortrag des Klägers und aus den Ermittlungen im Berufungsverfahren hat sich nichts anderes ergeben.
Zur Abklärung der bei dem Kläger bestehenden Schmerzsymptomatik aufgrund der Wirbelsäulenbeschwerden und der Arthrose des rechten Sprunggelenks hat der Senat ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten bei Dr. N. veranlasst. Der Sachverständige hat die Beschwerdeangaben des Klägers gewürdigt und im körperlich-neurologischen Untersuchungsbefund einen guten Allgemein- und reduzierten Ernährungszustand des Klägers aufgefunden. Bei der Untersuchung der Motorik, der Sensibilität, der Hirnnerven, der Koordination und der Muskeleigenreflexe wurde ein unauffälliger Zustand festgestellt und keine Hinweise für eine Affektion der zentralen oder peripheren neurologischen Strukturen für gegeben gesehen. Er erachtete die bekundeten lumbalen und zervikalen Rückenschmerzen als Ausdruck eines degenerativ bedingten Zervikal- und Lumbalsyndroms, wobei sich Wurzelreiz- oder Ausfallsymptome nicht feststellen ließen. Insoweit hat der Sachverständige die Übereinstimmung mit dem orthopädischen Gutachten des Dr. T. vom 31.03.2011 (eingeholt im Rechtsstreit S 13 R 564/09) hervorgehoben. Weiter hat er dargelegt, dass sich die geschilderten Beschwerden in adäquater Art und Weise durch die körperlichen Erkrankungen erklären ließen und dass Hinweise für eine Störung der zentralen Schmerzverarbeitung, beispielsweise im Sinne einer anhaltend somatoformen Schmerzstörung, nicht aufzufinden seien. Auf neurologischem Fachgebiet bestehe ein episodischer Spannungskopfschmerz, allerdings ohne behinderungsrelevante Auswirkungen. Auf psychiatrischem Fachgebiet konnte der Sachverständige keine Einschränkungen feststellen. Der psychopathologische Untersuchungsbefund war komplett unauffällig, insbesondere fanden sich keine Hinweise für das Vorliegen einer affektiven Erkrankung, einer Persönlichkeitsstörung oder einer hirnorganischen Wesensänderung. Auch eine Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung war nicht zu diagnostizieren. Eine Suchterkrankung bzw. ein Alkoholabhängigkeitssyndrom vermochte der Sachverständige nicht festzustellen, wies jedoch – bei unauffälligen Laborwerten aus dem Jahr 2015 – auf einen Alkoholmissbrauch hin. Die Fähigkeit des Klägers, einer regelmäßigen Arbeitstätigkeit nachzugehen, ist nach den Ausführungen des Sachverständigen nicht beeinträchtigt. Er ist im Alltagsleben durchaus aktiv und selbständig, er führt ein Kleinkraftrad, versorgt seinen Schrebergarten, kümmert sich um die betagte Mutter, pflegt soziale Kontakte und führt Einkäufe bzw. Haushaltsarbeiten durch. Auch zur Überzeugung des Senats ist nicht ersichtlich, inwiefern die Schmerzsymptomatik den Kläger an der Aufnahme einer zumindest leichten Arbeit für mehr als 6 Stunden täglich hindern könnte. Seine Wegefähigkeit ist angesichts der Ergebnisse der motorischen Untersuchung durch den Sachverständigen auch durch die Arthrose im rechten Sprunggelenk nicht beeinträchtigt.
Der Senat macht sich in vollem Umfang die ausführlichen und nachvollziehbaren Darlegungen des Sachverständigen Dr. N. zu Eigen und weist darauf hin, dass sowohl dieser Sachverständige, als auch der Gutachter Dr. L die vorliegenden Arztberichte, Befundberichte und Atteste der behandelnden Ärzte des Klägers bei der Leistungseinschätzung berücksichtigt hat. Der Senat vermag den Arztberichten keine Gesichtspunkte zu entnehmen, die eine weitergehendere Leistungseinschränkung bzw. einen weiteren Ermittlungsbedarf begründen könnten. Es liegen Gutachten auf chirurgischem, internistischem und neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet vor, die die Leistungseinschränkungen des Klägers eingehend und vollständig aufgezeigt haben. Zweifel an der Sachkunde oder Sachlichkeit der Sachverständigen sind nicht ersichtlich. Wesentliche Änderungen im Gesundheitszustand des Klägers sind nicht eingetreten. Hinzuweisen ist auch darauf, dass sich die derzeitige Leistungseinschätzung in die Beurteilung der Vorgutachter Dr. B. vom 08.09.2010 und Dr. T. vom 31.03.2011 (beide Gutachten eingeholt im Rechtsstreit S 13 R 564/09) sowie des Chirurgen P vom 17.10.2012 einfügt. Der Einholung eines weiteren Gutachtens bedarf es nicht. Auch aus den im Berufungsverfahren vom Kläger vorgelegten Arztberichten ergibt sich nichts anderes. Dr. N. hat in seiner ergänzenden Stellungnahme darauf hingewiesen, dass sich an den Händen des Klägers kein sicherer Hinweis für eine Bouchard-Arthrose ergeben hat und lediglich beginnende arthrotische Veränderungen der beiden Handgelenke beschrieben worden sind. Die vorgesehene Operation einer Leistenhernie bedingt keine dauerhaften quantitativen Leistungseinschränkungen.
Nach den Darlegungen der Sachverständigen Dr. L. und Dr. N. sind dem Kläger noch leichte bis in Spitzen mittelschwere Arbeiten, überwiegend in wechselnden Körperhaltungen, ohne Zwangshaltungen wie ständiges Bücken oder Knien, ohne Heben und Tragen von Lasten bis 20 kg, ohne permanentes Arbeiten über Kopf und auf Leitern und Gerüsten zumutbar. Die Tätigkeiten sollten überwiegend im Sitzen bzw. mit der Möglichkeit eines Wechsels zwischen Stehen, Gehen und Sitzen ausgeübt werden, wobei permanente Arbeiten im Freien, unter ständiger Exposition von Kälte, Nässe, Zugluft und Temperaturschwankungen zu vermeiden sind.
Der Kläger kann auch angesichts dieser qualitativen Leistungseinschränkungen zur Überzeugung des Senats noch eine Vielzahl von Tätigkeiten ausüben, die in ungelernten Tätigkeiten üblicherweise gefordert werden (z.B. Zureichen, Abnehmen, Transportieren, Reinigen, Bedienen von Maschinen, Kleben, Sortieren, Verpacken, Zusammensetzen von Teilen usw.). Es bestehen daher keine ernsten Zweifel an seiner Einsatzfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Im Übrigen begründen die diagnostizierten Gesundheitsstörungen keine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen – notwendig also eine Mehrheit von wenigstens zwei – oder bedingen eine schwere spezifische Leistungsbehinderung. Insbesondere die Art und die Schwere der bestehenden qualitativen Leistungseinschränkungen lassen diesbezüglich zur Überzeugung des Senats nichts erkennen. Dass dem Kläger die Umstellungs- und Anpassungsfähigkeit im Hinblick auf die Ausübung solcher Arbeiten fehlen könnte, ist nicht ersichtlich und geht insbesondere nicht aus dem Gutachten des Dr. N. hervor.
Soweit der Kläger ernsthafte Zweifel an seiner Einsetzbarkeit in einem Betrieb unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes im Hinblick auf Lage, Verteilung, Umfang und Vorhersehbarkeit von zu erwartenden Zeiten krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit ableitet und deshalb eine Verweisungstätigkeit für geboten erachtet (vgl. BSG, Beschluss vom 31.10.2012 – B 13 R 107/12 B -, juris Rn. 13ff.), vermag der Senat diesbezüglich solche Bedenken nicht festzustellen. Die qualitativen Leistungseinschränkungen beim Kläger sind nicht derart gelagert, dass im Rahmen der genannten Arbeitsfelder häufige, zeitlich nicht genau festliegende, mit einer vollständigen Leistungsunfähigkeit verbundene Arbeitsunfähigkeitszeiten zu erwarten sind. Unerheblich hierfür ist, dass eventuell die behandelnden Ärzte ihn für dauerhaft arbeitsunfähig erachten (vgl. Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Urteil vom 13.01.2015 – L 7 R 103/13 -, juris Rn. 35).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Revisionszulassungsgründe nach § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG liegen nicht vor.