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Rente wegen voller Erwerbsminderung bei psychischer Erkrankung

SG Duisburg – Az.: S 10 R 441/14 – Urteil vom 19.01.2017

Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 26.09.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.04.2014 verurteilt, dem Kläger unter Zugrundelegung einer am 08.04.2013 eingetretenen vollen Erwerbsminderung auf Zeit Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Zeit vom 01.11.2013 bis zum 31.10.2019 nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.

Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers.

Tatbestand

Im Streit ist die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung.

Der am 12.02.19xx in der Türkei geborene Kläger absolvierte keine Berufsausbildung und lebt seit 1991 in der Bundesrepublik Deutschland. Er übte langjährig eine selbständige Tätigkeit im Textilhandel aus. Der Kläger war zuletzt von Dezember 2011 bis September 2012 bei einem Paketdienst als Fahrer versicherungspflichtig tätig.

Der Kläger stellte am 08.04.2013 bei der Beklagten einen Antrag auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung. Zuvor war der Kläger im Rahmen eines stationären Krankenhausaufenthaltes im Johanniter Krankenhaus R. vom 06.02. bis zum 19.02.2013 bei Kammerflimmern reanimiert worden. Da im weiteren Verlauf des stationären Aufenthaltes insgesamt 6-mal Herzrhythmusstörungen auftraten und terminiert werden mussten, wurde am 13.02.2016 die Implantation eines ICD-Defibrillators durchgeführt. Die Beklagte veranlasste eine Begutachtung durch den Internisten Dr. G., der aufgrund einer am 23.09.2013 durchgeführten Untersuchung zu dem Ergebnis kam, dass bei dem Kläger vermutlich ein sogenanntes Brugada-Syndrom vorliegen würde und das Kammerflimmern offenbar unter dem Zusammenwirken von Fieber und dem eingenommenen Antidepressivum Citalopram ausgelöst worden sei. Durch den ICD-Schrittmacher und die Beendigung der Psychopharmakatherapie sei das Kammerflimmern ausreichend behandelt, so dass keine Rentenrelevanz bestünde. Darüber hinaus liege bei dem Kläger eine wiederkehrende Depression, der Verdacht auf einen Bandscheibenvorfall im Bereich der Lendenwirbelsäule und ein HWS-Syndrom vor. Unter Wertung aller Angaben und vorliegenden Befunde sei es dem Kläger möglich, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes täglich 6 Stunden und mehr körperlich leichte bis gelegentlich mittelschwere Tätigkeiten auszuüben. Tätigkeiten, die mit häufigem Bücken, Ersteigen von Treppen, Leitern und Gerüsten, Heben und Tragen von Lasten, Gang- und Standsicherheit, Zwangshaltungen, besonderem Konzentrations- und Reaktionsvermögen sowie mit Verantwortung für Personen und Maschinen einhergingen, seien dem Kläger nicht mehr zumutbar. Auf der Grundlage dieser sozialmedizinischen Leistungsbeurteilung lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 26.09.2013 die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung ab, weil der Kläger nach der medizinischen Beurteilung noch mindestens 6 Stunden täglich unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes erwerbstätig sein könne.

Gegen diesen Bescheid erhob der Kläger am 22.10.2013 Widerspruch und bezog sich zur Begründung auf einen Befundbericht des Radiologen Dr. W.-S. vom 02.10.2013. Daraufhin veranlasste die Beklagte eine orthopädische Begutachtung durch Dr. W., der auf der Grundlage einer am 12.02.2014 durchgeführten Untersuchung feststellte, dass bei dem Kläger Lumboischialgien bei statischen und degenerativen Lendenwirbelsäulenveränderungen und computertomographisch nachgewiesenem Bandscheibenvorfall L 5 / S 1 sowie Cervikalsyndrome bei statischen HWS-Veränderungen vorlägen und der Kläger aus orthopädisch-rheumatologischer Sicht körperlich leichte und gelegentlich mittelschwere Tätigkeiten in wechselnden Körperpositionen vollschichtig ausüben könne. Die Beklagte wies den Widerspruch mit Bescheid vom 08.04.2014 mit der Begründung zurück, nach den ergänzend durchgeführten medizinischen Feststellungen lägen keine volle und keine teilweise Erwerbsminderung des Klägers vor, da das Leistungsvermögen ausreiche, mindestens 6 Stunden täglich unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes erwerbstätig zu sein. Dabei komme es in rechtlicher Hinsicht nicht darauf an, ob der Kläger einen seinem Leistungsvermögen entsprechenden Arbeitsplatz inne habe bzw. ob ihm von der Bundesagentur für Arbeit ein entsprechender Arbeitsplatz vermittelt werden könne.

Gegen diesen Bescheid hat der Kläger am 18.04.2014 Klage erhoben. Er ist der Auffassung, aufgrund der Schwere der rezidivierenden depressiven Störung und der vorliegenden Polymorbidität sei er zur Zeit nicht in der Lage, einer körperlich leichten und geistig einfachen Tätigkeit in einem zeitlichen Umfang von 3 Stunden täglich nachzugehen.

Der Kläger beantragt, die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 26.09.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.04.2014 zu verurteilen, ihm unter Zugrundelegung einer am 08.04.2013 eingetretenen vollen Erwerbsminderung auf Zeit Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Zeit vom 01.11.2013 bis zum 31.10.2019 nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Sie ist der Ansicht, es sei nicht erwiesen, dass der Kläger aufgrund seiner Erkrankungen nicht mehr in der Lage sei, einer Erwerbstätigkeit im zeitlichen Umfang von 6 Stunden täglich nachzugehen. Soweit die psychiatrische Sachverständige Dr. M.-B. und der internistisch-sozialmedizinische Sachverständige Dr. N. festgestellt hätten, aufgrund der psychiatrischen und kardiologischen Gesundheitsstörungen sei die Belastungsfähigkeit des Klägers auf unter 3 Stunden täglich einzuschätzen, sei dies nicht nachvollziehbar. Die körperliche Belastbarkeit von Seiten des Herzens sei bei dem Kläger nicht bedeutsam herabgesetzt. Hinsichtlich der depressiven Erkrankung des Klägers könne eine erhebliche Einschränkung der Leistungsfähigkeit nur dann angenommen werden, wenn die depressive Symptomatik mittelschwer bis schwer ausgeprägt sei und alle Behandlungsmaßnahmen ausgeschöpft seien, was bei dem Kläger nicht der Fall sei.

Das Gericht hat Befundberichte des den Kläger behandelnden Allgemeinmediziners Dr. Baykara, des behandelnden Orthopäden Dr. G. und des behandelnden Psychiaters Dr. C. eingeholt. Hinsichtlich des Gesundheitszustandes und des Leistungsvermögens des Klägers im Erwerbsleben ist ferner Beweis erhoben worden durch Einholung eines psychiatrischen Gutachtens der Dr. M.-B. aufgrund einer Untersuchung vom 18.06.2015 einschließlich einer ergänzenden Stellungnahme vom 20.10.2016, durch Einholung eines orthopädischen Gutachtens des Dr. P. auf der Grundlage einer Untersuchung vom 27.11.2015 und eines internistisch-sozialmedizinischen Gutachtens des Dr. N. nach Durchführung einer Untersuchung vom 06.10.2015. Wegen der Einzelheiten und der Ergebnisse der Begutachtungen wird auf Bl. 54 – 89, 109 – 141, 143 – 176 und 199 – 202 der Gerichtsakte Bezug genommen.

Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte und der den Kläger betreffenden Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Entscheidungsgründe

Die Klage ist zulässig und begründet.

Der angefochtene Bescheid der Beklagten ist rechtswidrig im Sinne des § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG), da der Kläger einen Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung für die Zeit vom 01.11.2013 bis zum 31.10.2019 hat.

Nach § 43 Abs. 1 und Abs. 2 SGB VI haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersrente Anspruch auf Rente wegen teilweiser bzw. voller Erwerbsminderung, wenn sie teilweise bzw. voll erwerbsgemindert sind, in den letzten 5 Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung 3 Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben. Teilweise erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 6 Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 1 S. 2 SGB VI). Volle Erwerbsminderung liegt nach § 43 Abs. 2 S. 2 SGB VI vor, wenn Versicherte wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 3 Stunden täglich erwerbstätig zu sein; dagegen ist nicht erwerbsgemindert, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 6 Stunden täglich erwerbstätig sein kann (§ 43 Abs. 3 SGB VI).

Der Kläger ist voll erwerbsgemindert, da er aufgrund seiner Gesundheitsstörungen gesundheitlich nicht mehr in der Lage ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 3 Stunden täglich erwerbstätig zu sein.

Aufgrund der durchgeführten medizinischen Beweisaufnahme steht zur Überzeugung der Kammer fest, dass die Erkrankungen des Klägers so schwerwiegend sind, dass er auch körperlich leichte und geistig einfache Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes nicht mehr in einem zeitlichen Umfang von 3 Stunden täglich regelmäßig ausüben kann. Danach leidet der Kläger in psychiatrischer Hinsicht an einer rezidivierenden depressiven Störung mit einer gegenwärtig schweren Episode ohne psychotische Symptome und an einer Angststörung. Auf internistischem Fachgebiet liegt eine Ionenkanalerkrankung mit Nachweis einer heterozygoten Natriumkanal-Genmutation und hieraus resultierendem mehrfachen Kammerflimmern und ein Zustand nach Implantation eines ICD-Defibrillators vor. Zudem bestehen eine Koronare Eingefäßerkrankung ohne bedeutsame Einschränkung der linksventrikulären Funktion, ein Zustand nach Hirngefäßaneurysma-OP rechtsseitig 2003 und eine Fettleber. In orthopädischer Hinsicht leidet der Kläger an einem degenerativen HWS- und LWS-Schmerzsyndrom mit Bandscheibenschäden, einer Sehnenansatzreizung und einem leichten Streckdefizit des rechten Ellenbogens nach operativ versorgtem Speichenköpfchenbruch 2012 und einem Knorpelschaden der Kniegelenke beidseits.

Aufgrund dieser Erkrankungen ist das Leistungsvermögen des Klägers sowohl in qualitativer Hinsicht als auch in quantitativer Hinsicht maßgeblich eingeschränkt. Insbesondere unter Berücksichtigung der Schwere der Gesundheitsstörungen auf psychiatrischem und internistischem Fachgebiet kann der Kläger selbst körperlich leichte und geistig einfache Tätigkeit in wechselnder Körperhaltung nur noch in einem zeitlichen Umfang von weniger als 3 Stunden täglich ausüben. Der Kläger leidet an einer sogenannten Ionenkanalerkrankung, einer seltenen Herzerkrankung, die bei ihm mehrfach zu lebensbedrohlichen Zuständen mit Kammerflimmern geführt hat, bevor sie durch Implantation eines ICD-Defibrillators behandelt wurde. Das Bewußtsein um die Abhängigkeit von dem Defibrillator, die nach den Ausführungen des Sachverständigen Dr. N. sicherlich erheblich größer ist als bei einer normalen Schrittmacherimplantation, führt zu einer Verunsicherung des Klägers. Er erscheint aufgrund der Herzerkrankung erheblich psychisch belastet und erlebt bei Zustand nach ICD-Implantation häufig ängstlich gespannt sein gesundheitliches Geschehen, wobei er nie weiß, wann der Defibrillator anspringt. In diesem Sinne werden die psychiatrischen Beeinträchtigungen durch das Herzleiden bei dem Kläger erheblich mitgetriggert, wodurch eine ungünstige Wechselwirkung zwischen internistisch-kardiologischer Erkrankung und psychiatrischer Erkrankung besteht. Die Beeinträchtigungen durch die auf psychiatrischem Fachgebiet bestehende schwere Episode einer rezidivierenden depressiven Störung sind so schwerwiegend, dass eine Leistungsfähigkeit von mindestens 3 Stunden oder 6 Stunden täglich nicht besteht. Die depressive Störung geht mit einer depressiven Stimmungslage, Anhedonie, Ängsten, klagsam-pessimistischen Haltung, erhöhten Kränkbarkeit, Somatisierungstendenzen, Schlafstörungen, Grübeltendenzen, einer durchgehend reduzierten emotionalen Schwingungsfähigkeit, Mimik und Gestik einher. Das Denken des Kläger ist eingeengt auf Beschwerden und Defizite, auf Versagens- und Schuldgedanken und auf das Erleben der Sinnlosigkeit des Daseins. In der Untersuchung durch die Sachverständige Dr. M.-B. zeigten sich Einschränkungen der Daueraufmerksamkeit, der Konzentration und der Belastbarkeit. Zudem besteht eine eingeschränkte Anpassungs- und Umstellungsfähigkeit und eine eingeschränkte Konfliktfähigkeit.

Die Kammer folgt hinsichtlich dieser Feststellungen den Sachverständigen Dr. M.-B. und Dr. N … Die von den Sachverständigen getroffenen Feststellungen zu den Erkrankungen des Klägers und die vor dem Hintergrund der Erkrankungen vorgenommene sozialmedizinische Leistungsbeurteilung war für die Kammer nachvollziehbar und überzeugend. Die Sachverständigen haben sich detailliert mit den einzelnen Krankheitsbildern und den geltend gemachten Beschwerden des Klägers auseinander gesetzt, Art und Schwere der daraus resultierenden Funktionsstörungen dargelegt und die sich daraus ergebenden Konsequenzen in sozialmedizinischer Hinsicht nachvollziehbar beschrieben. Der von der psychiatrischen Sachverständigen Dr. M.-B. im Rahmen ihrer ausführlichen Untersuchung erhobene psychopathologische Befund ist so schwerwiegend, dass er die von der Sachverständigen vorgenommene Leistungsbeurteilung in jeder Hinsicht stützt und nachvollziehbar macht. Der internistisch-sozialmedizinische Sachverständige Dr. N. hat die Leistungsbeurteilung der Sachverständigen Dr. M.-B. in vollem Umfang bestätigt, in dem er auf die Polymorbidität des Klägers und insbesondere auf die ungünstige Wechselwirkung der Herzerkrankung und der rezidivierenden Störung des Klägers hingewiesen und ausgeführt hat, dass es sich bei dem Kläger um ein komplexes Geschehen handeln würde und er auch Tätigkeiten unter Beachtung der qualitativen Leistungseinschränkungen nur noch weniger als 3 Stunden täglich ausüben könne. Zu dieser fachübergreifenden sozialmedizinischen Leistungsbeurteilung ist der Sachverständige Dr. N. aufgrund seiner Qualifikation als Sozialmediziner in besonderer Weise befähigt.

Soweit die Beklagte die Leistungsbeurteilung des Sachverständigen Dr. N. dadurch in Zweifel gezogen hat, dass sie darauf hingewiesen hat, dass die körperliche Belastbarkeit des Klägers von Seiten des Herzens nicht bedeutsam herabgesetzt sei, steht dies der Richtigkeit der sozialmedizinischen Leistungsbeurteilung des Sachverständigen Dr. N. nicht entgegen. Der Sachverständige hat seine Einschätzung eines unter 3-stündigen Leistungsvermögens nicht auf eine eingeschränkte körperliche Belastungsfähigkeit des Klägers aufgrund seiner Herzerkrankung gestützt. Unter Auswertung eines externen Kardio-MRT-Befundes, des Befundes einer durchgeführten Koronarangiographie und des Ergebnisses von mehrfachen Blutdruckmessungen unter Belastungsbedingungen hat er keine Zeichen einer bedeutsamen Durchblutungseinschränkung, keine Hinweise auf eine Pumpschwäche des Herzens, bzw. keine Hinweise auf eine Einschränkung der linksventrikulären Funktion festgestellt. Damit hat er ausdrücklich dargelegt, dass die rein körperliche Belastbarkeit von Seiten des Herzens nicht bedeutsam herabgesetzt sei. Die Einschränkung der Leistungsfähigkeit des Klägers auf unter 3 Stunden täglich hat er vielmehr in Übereinstimmung mit der psychiatrischen Sachverständigen Dr. M.-B. mit den erheblichen psychischen Beeinträchtigungen des Klägers und der fehlenden psychischen Belastbarkeit des Klägers begründet. Er hat überzeugend darauf hingewiesen, dass die schwere Herzerkrankung den Kläger erheblich psychisch belaste, diese zu einer Verunsicherung des Klägers führe und die durch die depressive Störung hervorgerufenen psychischen Beeinträchtigungen durch das Herzleiden zusätzlich erheblich getriggert würden.

Soweit die Beklagte die Auffassung vertreten hat, eine erhebliche Einschränkung der Leistungsfähigkeit auf unter 3 Stunden könne erst dann zugrunde gelegt werden, wenn alle Behandlungsoptionen sowohl im ambulanten als auch stationären Rahmen in den jeweiligen unterschiedlichen therapeutischen Settings ausgeschöpft seien und zu keinem Erfolg geführt hätten, fehlt es an einer rechtlichen Grundlage für diese Annahme. Die Sachverständigen Dr. M.-B. und Dr. N. haben übereinstimmend festgestellt, dass zur Zeit wegen der psychischen Beeinträchtigungen des Klägers ein aufgehobenes Leistungsvermögen vorliegt und eine erfolgreiche Behandlung der psychischen Gesundheitsstörungen zum einen deutlich erschwert sei und zum anderen erhebliche Zeit in Anspruch nehmen würden. Sie haben insbesondere darauf hingewiesen, dass sich eine gegebenenfalls erforderliche hochdosierte antidepressive medikamentöse Therapie wegen möglicher Nebenwirkungen von Antidepressiva in Gestalt von Herzrhythmusstörungen nur schwer verwirklichen lasse. Durch eine regelmäßige ambulante psychiatrische Behandlung könnte eine Besserung der ängstlich-depressiven Symptome anvisiert und eine Besserung der Alltagsaktivitäten erreicht sowie vom Kläger gelernt werden, seine ernsthaften und in der Vergangenheit sein Leben bedrohenden somatischen Erkrankungen und deren Auswirkungen auf sein Leben besser zu bewältigen. Insoweit seien insbesondere supportive Gespräche und ggfls. eine verhaltenstherapeutisch orientierte Psychotherapie erforderlich, um eine bessere Bewältigung der Ängste und eine Besserung des Selbstwertgefühles und der sozialen Kontaktfähigkeit zu erreichen. Sowohl der von der Sachverständigen erwogene Einsatz neuer auf den Markt gekommener Antidepressiva unter kritischer Würdigung und Überprüfung von Auswirkungen auf die Herzerkrankung des Klägers als auch die angesprochenen Psychotherapieverfahren bedürften jedenfalls einer längeren Behandlungsdauer, bevor sie zu einer erheblichen Besserung des Gesundheitszustandes und der Leistungsfähigkeit des Klägers führen können. Da insoweit eine Behandlungsdauer von deutlich mehr als 6 Monaten erforderlich ist, liegt trotz grundsätzlicher Behandelbarkeit der psychischen Gesundheitsstörungen und trotz grundsätzlicher Besserungsfähigkeit der Beeinträchtigungen des Klägers eine volle Erwerbsminderung des Klägers auf Zeit vor (vgl. zur Maßgeblichkeit der 6-Monats-Grenze: BSG vom 23.03.1977 4 RJ 49/76; Hessisches LSG vom 22.2.2013 L 5 R 211/12).

Der Kläger hat unter Zugrundelegung des unter 3-stündigen Leistungsvermögens für die Zeit vom 01.11.2013 bis zum 31.10.2019 einen Anspruch auf Gewährung wegen voller Erwerbsminderung auf Zeit. Nach § 102 Abs. 2 Satz 1 SGB VI sind Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit grundsätzlich auf Zeit zu leisten. Die in § 102 Abs. 2 Satz 5 SGB VI geregelte Ausnahme, wonach Renten unbefristet geleistet werden, wenn unwahrscheinlich ist, dass die Minderung der Erwerbsfähigkeit behoben werden kann, greift nicht ein. Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung kann eine Unwahrscheinlichkeit der Behebung einer Leistungsminderung im Sinne des § 102 Abs. 2 Satz 5 SGB VI erst dann angenommen werden, wenn alle therapeutischen Maßnahmen ausgeschöpft bzw. nicht erfolgversprechend sind. Die Sachverständige Dr. M.-B. hat jedoch Behandlungsmaßnahmen aufgezeigt, die noch nicht durchgeführt worden sind. Auch wenn sie auf die bestehenden Schwierigkeiten insbesondere bezüglich der medikamentösen Therapie hingewiesen und Zweifel hinsichtlich einer erheblichen Steigerung der Leistungsfähigkeit geäußert hat, liegen die Voraussetzungen für die Gewährung einer Zeitrente vor. Der Umstand, dass die Erfolgsaussichten der Behandlungsmaßnahmen nicht mit Sicherheit vorhergesagt werden können, führt nicht zur Annahme der Unwahrscheinlichkeit der Behebung der Leistungseinschränkungen, da aufgrund des gesetzlichen Regel-Ausnahme-Verhältnisses Unsicherheiten der Prognose zu Lasten des Klägers gehen (BSG vom 29.03.2006, B 13 RJ 31/05 R). Der Beginn der Erwerbsminderungsrente ergibt sich aus § 101 Abs. 1 SGB VI, da die Sachverständigen Dr. M.-B. und Dr. N. festgestellt haben, dass die Leistungsminderung des Klägers bereits zum Zeitpunkt der Antragstellung im April 2013 vorgelegen hat.

Da zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung der in § 102 Abs. 2 Satz 2 SGB VI vorgesehene 3-Jahres-Zeitraum vom 01.11.2013 bis zum 31.10.2016 bereits abgelaufen war, war der 3-Jahres-Zeitraum nach § 102 Abs. 2 Satz 4 SGB VI für längstens weitere 3 Jahre zu verlängern. Im Hinblick auf die dargelegten Schwierigkeiten, eine geeignete medikamentöse Therapie für den Kläger zu finden, die keine ungünstigen Auswirkungen auf seine Herzerkrankung hat und unter Berücksichtigung der Dauer von Psychotherapieverfahren, der Notwendigkeit der Suche nach einem Therapieplatz einschließlich der häufig nicht zu vermeidenden Wartezeiten bis zum Beginn einer Therapie und der Notwendigkeit der zeitaufwendigen Genehmigungsverfahren bei den Krankenkassen erschien es angemessen, den 3-Jahres-Zeitraum für die Verlängerung auszuschöpfen und die Zeitrente bis zum 31.10.2019 zu gewähren. Die Verpflichtung des Klägers, sich auf Verlangen der Beklagten notwendigen Behandlungsmaßnahme zu unterziehen, ergibt sich aus § 63 SGB I.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

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