Trotz chronischer Schmerzstörung und Pflegegrad II wurde einem Instandhaltungsmechaniker die Rente wegen voller Erwerbsminderung mehrfach verwehrt. Erst als das Sozialgericht die selektive Gutachten-Bewertung der Behörde rügte, änderte sich die rechtliche Lage des Klägers.
Übersicht
- Das Wichtigste in Kürze
- Der Fall vor Gericht
- Die Urteilslogik
- Benötigen Sie Hilfe?
- Experten Kommentar
- Häufig gestellte Fragen (FAQ)
- Wie wird mein Restleistungsvermögen für die volle Erwerbsminderungsrente genau gemessen?
- Reicht meine eingeschränkte Gehfähigkeit oder Wegefähigkeit für die volle Erwerbsminderungsrente aus?
- Wie kann ich ein unabhängiges Gutachten erhalten, wenn die DRV meine Rente ablehnt?
- Was kann ich tun, wenn die Rentenversicherung meine gesundheitlichen Probleme absichtlich ignoriert?
- Warum wird mir die volle Erwerbsminderungsrente oft nur befristet bewilligt?
- Glossar – Fachbegriffe kurz erklärt
- Das vorliegende Urteil
Zum vorliegenden Urteil Az.: S 11 R 214/21 | Schlüsselerkenntnis | FAQ | Glossar | Kontakt
Das Wichtigste in Kürze
- Gericht: Sozialgericht Halle (Saale)
- Datum: 18.10.2022
- Aktenzeichen: S 11 R 214/21
- Verfahren: Klage auf Rente wegen voller Erwerbsminderung
- Rechtsbereiche: Sozialrecht, Rentenversicherungsrecht
- Das Problem: Der Kläger beantragte bei der Rentenversicherung eine Rente wegen Erwerbsminderung. Die Rentenversicherung lehnte den Antrag ab, weil sie ihn für noch mindestens sechs Stunden täglich arbeitsfähig hielt.
- Die Rechtsfrage: Hat der Kläger aufgrund seiner schweren Erkrankungen Anspruch auf die volle Rente wegen Erwerbsminderung?
- Die Antwort: Ja. Das Gericht verurteilte die Rentenversicherung zur Zahlung der vollen Erwerbsminderungsrente. Es folgte dem gerichtlichen Gutachten, das ein tägliches Leistungsvermögen von unter drei Stunden feststellte. Die Rente wird befristet für drei Jahre zugesprochen.
- Die Bedeutung: Versicherungen müssen eindeutigen und schlüssigen gerichtlichen Gutachten folgen. Behörden dürfen Gutachten nicht selektiv ablehnen, wenn diese das Leistungsvermögen klar belegen.
Der Fall vor Gericht
Was entscheidet über eine Rente wegen voller Erwerbsminderung?
Für die Rente wegen Erwerbsminderung zählt am Ende eine einzige Zahl: die Anzahl der Stunden, die ein Mensch pro Tag noch arbeiten kann. Liegt sie unter drei, gilt man als voll erwerbsgemindert. Liegt sie darüber, gibt es oft nichts.

Ein Mann mit schwerer chronischer Schmerzerkrankung fand sich genau in diesem Zahlen-Limbo wieder. Die Gutachten der Rentenversicherung sahen ihn bei über sechs Stunden. Sein eigenes Empfinden lag bei null. Ein vom Gericht bestellter Gutachter sollte Klarheit schaffen – und seine Analyse pulverisierte die bisherige Rechnung der Behörde.
Worin bestand der Widerspruch zwischen den Gutachten?
Der Kläger, ein gelernter Instandhaltungsmechaniker, litt unter einer ganzen Reihe von Krankheiten. Morbus Bechterew, eine chronische Schmerzstörung und massive Bandscheibenprobleme hatten seinen Alltag zur Qual gemacht. Er beantragte Rente wegen Erwerbsminderung. Die Rentenversicherung lehnte ab. Ihre Begründung stützte sich auf ärztliche Berichte und die Einschätzung aus einer Reha-Maßnahme. Diese Dokumente kamen zu dem Schluss: Für seinen alten Beruf sei der Mann ungeeignet, leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt könne er aber noch mindestens sechs Stunden täglich ausüben.
Der Mann widersprach dieser Einschätzung. Er schilderte ständige Schmerzen, Schwindel, Antriebslosigkeit. Seine Gehfähigkeit sei massiv eingeschränkt, er benötige einen Gehstock. Pflegegrad II wurde ihm bereits zuerkannt. Die Rentenversicherung blieb bei ihrer Haltung. Sie ließ im Widerspruchsverfahren ein orthopädisches Gutachten erstellen. Auch dieses kam zu einem ähnlichen Ergebnis – mehr als sechs Stunden für leichte Tätigkeiten. Der Mann erhob Klage beim Sozialgericht Halle. Er war überzeugt: Sein Zustand wurde nicht richtig erfasst.
Welches Beweismittel gab für das Gericht den Ausschlag?
Das Gericht stand vor einem Dilemma. Es lagen mehrere medizinische Einschätzungen vor, die sich widersprachen. Um den Sachverhalt aufzuklären, beauftragte es einen eigenen, unabhängigen Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie mit einem Gutachten. Dieser Schritt veränderte alles. Der gerichtliche Sachverständige untersuchte den Kläger gründlich. Er stellte nicht nur die bekannten Diagnosen fest, sondern analysierte detailliert deren funktionale Auswirkungen auf den Körper des Mannes.
Sein Ergebnis war unmissverständlich. Die Sitzfähigkeit war eingeschränkt. Die Hände waren nicht mehr voll gebrauchsfähig. Arbeiten in Zwangshaltungen, im Freien, unter Zeitdruck oder in Schichten waren ausgeschlossen. Die entscheidende Feststellung betraf die Wegefähigkeit: Der Mann konnte nicht, wie vom Gesetz gefordert, viermal täglich eine Strecke von 500 Metern zurücklegen. Das Fazit des Gutachters war eine klare Absage an die bisherigen Bewertungen: Das Restleistungsvermögen des Klägers liege seit Mai 2020 bei unter drei Stunden täglich. Selbst überwiegend leichte Arbeiten seien für ihn unmöglich. Das Gericht schloss sich dieser überzeugenden und detailliert begründeten Einschätzung an. Für die Richter war damit bewiesen, dass der Kläger die Voraussetzungen für eine volle Erwerbsminderung nach § 43 SGB VI erfüllte.
Warum wurde die Rente nur befristet bewilligt?
Der Sieg des Klägers war vollständig, aber nicht endgültig. Das Gericht verurteilte die Rentenversicherung, dem Mann eine Rente wegen voller Erwerbsminderung zu zahlen – allerdings befristet auf drei Jahre. Der Grund dafür lag ebenfalls im Gutachten des Sachverständigen. Er hatte den Gesundheitszustand des Klägers als nicht stabil eingeschätzt und eine Neueinschätzung nach drei Jahren empfohlen.
Diese Empfehlung setzte das Gericht juristisch um. Das Gesetz sieht in § 102 Abs. 2 SGB VI vor, dass eine Rente wegen Erwerbsminderung auf Zeit geleistet wird, wenn eine Besserung des Gesundheitszustandes nicht unwahrscheinlich ist. Die Befristung ist eine direkte Folge der medizinischen Prognose. Auch den Beginn der Rentenzahlung legte das Gericht präzise fest. Nach § 101 SGB VI beginnt die Rente erst mit dem siebten Kalendermonat nach Eintritt der Erwerbsminderung. Da der Gutachter den Beginn der Leistungsminderung auf Mai 2020 datierte, startete der Rentenanspruch am 1. Dezember 2020.
Welche Kritik übte das Gericht am Vorgehen der Rentenversicherung?
Das Urteil enthielt eine bemerkenswert deutliche Rüge an die Adresse der beklagten Rentenversicherung. Die Richter warfen der Behörde vor, Gutachten selektiv zu ihren Gunsten zu bewerten. Sie habe sich quasi die passenden medizinischen Einschätzungen herausgepickt – eine Vorgehensweise, die in der Juristensprache als „Rosinentheorie“ bekannt ist. Für eine solche selektive Beweiswürdigung gebe es keine rechtliche Grundlage.
Das Gericht stellte klar: Angesichts der Eindeutigkeit des gerichtlich bestellten Gutachtens hätte die Rentenversicherung ihren Widerstand aufgeben und den Anspruch des Klägers anerkennen müssen. Stattdessen hatte sie pauschale Einwände erhoben, die das Gericht als nicht überzeugend zurückwies. Die Kammer erinnerte die Behörde an ihre Verpflichtung zur Rechtsstaatlichkeit aus Artikel 20 des Grundgesetzes. Die Kosten des gesamten Verfahrens musste die Rentenversicherung tragen.
Die Urteilslogik
Die tatsächliche Arbeitsfähigkeit und der funktionale Befund eines unabhängigen Sachverständigen definieren letztendlich den Anspruch auf eine Rente wegen voller Erwerbsminderung.
- Das Restleistungsvermögen definiert die volle Erwerbsminderung: Eine Person gilt als voll erwerbsgemindert, wenn sie auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt weniger als drei Stunden täglich leichte Tätigkeiten ausüben kann, wobei die eingeschränkte Wegefähigkeit diesen Grenzwert bestimmen kann.
- Gerichtliche Sachverständigengutachten übertrumpfen interne Behördengutachten: Eine detaillierte und schlüssige Analyse durch einen gerichtlich bestellten Sachverständigen widerlegt in der Regel widersprüchliche, weniger fundierte Einschätzungen der Rentenversicherung.
- Behörden müssen objektiv beweisen, nicht selektiv argumentieren: Die Rentenversicherung darf Gutachten nicht nach der „Rosinentheorie“ auswählen, um einen Rentenanspruch abzulehnen, sondern muss alle Beweismittel im Sinne der Rechtsstaatlichkeit umfassend würdigen.
Der Sozialrichter setzt damit der selektiven Bewertung von medizinischen Befunden durch die Verwaltung eine überzeugende, funktionale Beweiskraft entgegen.
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Wurde Ihr Anspruch trotz eines überzeugenden medizinischen Gutachtens abgewiesen?
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Experten Kommentar
Manchmal wird das Sozialgericht zum einzigen Ort, an dem die harte Wahrheit über das tatsächliche Restleistungsvermögen eines Menschen ans Licht kommt. Dieses Urteil ist eine deutliche Ansage: Wer die Rente wegen voller Erwerbsminderung hartnäckig ablehnt, weil er nur die eigenen, günstigen Gutachten zählt, spielt ein unzulässiges Spiel. Die selektive „Rosinentheorie“ der Rentenversicherung fand hier ein klares Ende, weil das gerichtliche Gutachten detailliert bewies, dass die Leistungsgrenze bei unter drei Stunden täglich liegt. Das ist eine wichtige Lehre: Betroffene müssen vor Gericht aktiv auf einen unabhängigen Sachverständigen drängen, um die notwendige Beweiskraft gegen die Behördenpraxis zu erzeugen.
Häufig gestellte Fragen (FAQ)
Wie wird mein Restleistungsvermögen für die volle Erwerbsminderungsrente genau gemessen?
Die Deutsche Rentenversicherung (DRV) misst Ihr Restleistungsvermögen formal in Stunden, um Ihren Anspruch zu prüfen. Die gesetzliche Schwelle für die volle Erwerbsminderung liegt exakt bei unter drei Stunden täglicher Arbeitsfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Viele Antragsteller fühlen sich missverstanden, da behördliche Gutachten oft pauschal sechs Stunden leichte Tätigkeit attestieren. Entscheidend ist jedoch nicht nur die reine Arbeitszeit, sondern vor allem die funktionale Qualität der noch möglichen Arbeit.
Der Begriff „leichte Tätigkeit“ wird durch medizinische und juristische Kriterien stark eingegrenzt. Die DRV muss ausschließen, dass Sie die Tätigkeit nur in Zwangshaltungen, unter hohem Zeitdruck, in Schichtdiensten oder bei extremen Witterungsverhältnissen ausüben müssten, da dies unzumutbar ist. Ihre tatsächliche Restleistung hängt davon ab, wie lange Sie die drei Kern-Arbeitshaltungen Sitzen, Stehen und Gehen ohne Pause oder Schmerzspitze durchhalten, die einen Abbruch erfordert.
Ein oft unterschätzter, aber maßgeblicher Faktor ist die sogenannte Wegefähigkeit. Können Sie aufgrund Ihrer Leiden nicht viermal täglich 500 Meter zu Fuß zurücklegen, um einen Arbeitsplatz aufzusuchen, gilt Ihr Restleistungsvermögen automatisch als null. Juristisch wird dann davon ausgegangen, dass der Arbeitsmarkt für Sie verschlossen ist, selbst wenn Sie theoretisch sitzende Tätigkeiten verrichten könnten. Gerichte nutzen diese funktionale Einschränkung oft, um die pauschalen Zeitangaben der Behörde erfolgreich zu entkräften.
Erstellen Sie sofort ein detailliertes Aktivitätenprotokoll, in dem Sie exakt dokumentieren, wie lange Sie sitzen oder stehen können, bevor Schmerzen eine Positionsänderung erzwingen.
Reicht meine eingeschränkte Gehfähigkeit oder Wegefähigkeit für die volle Erwerbsminderungsrente aus?
Die klare Antwort lautet: Ja. Die Wegefähigkeit ist ein häufig unterschätztes Kriterium, das den Anspruch auf die volle Erwerbsminderungsrente entscheidend beeinflusst. Ihre Fähigkeit, den Arbeitsplatz überhaupt zu erreichen, ist juristisch wichtiger als die Dauer, die Sie theoretisch am Schreibtisch sitzen könnten. Fehlt diese Fähigkeit, gelten Sie als voll erwerbsgemindert.
Der Gesetzgeber definiert die Wegefähigkeit sehr konkret: Sie müssen in der Lage sein, täglich viermal eine Strecke von 500 Metern in angemessener Zeit zurückzulegen. Diese 4x 500 Meter entsprechen dem erforderlichen Weg zur und von der Arbeit unter normalen Bedingungen. Können Sie diese tägliche Gehleistung nicht bewältigen, liegt automatisch eine volle Erwerbsminderung vor. Es spielt dabei keine Rolle mehr, ob Sie leichte sitzende Tätigkeiten theoretisch noch ausführen könnten.
Konkret: Ein gerichtlicher Gutachter stellte in einem Fall fest, dass ein Kläger aufgrund schwerer orthopädischer Leiden die geforderte Wegefähigkeit nicht mehr besaß. Daraufhin musste das Gericht feststellen, dass das Restleistungsvermögen automatisch unter drei Stunden täglich lag. Der allgemeine Arbeitsmarkt wird somit als unzumutbar eingestuft, da der Kläger keinen Arbeitsplatz aufsuchen kann. Dieser funktionale Nachweis gab den entscheidenden Ausschlag für die Rentenzusage.
Messen Sie Ihre maximale Gehstrecke exakt und protokollieren Sie die Distanz in Metern, die Sie ohne schwere gesundheitliche Folgen zurücklegen können.
Wie kann ich ein unabhängiges Gutachten erhalten, wenn die DRV meine Rente ablehnt?
Die Deutsche Rentenversicherung (DRV) stützt sich bei Ablehnungen häufig auf Gutachten, deren Neutralität Betroffene anzweifeln. Der effektivste Weg zu einer wirklich objektiven Einschätzung führt direkt über das Sozialgericht. Nur in einem gerichtlichen Klageverfahren wird ein neutraler Sachverständiger bestellt, dessen detaillierte Analyse die gesamte bisherige Aktenlage revidieren kann. Dieser Schritt ist oft der entscheidende „Game-Changer“ im Kampf um die Erwerbsminderungsrente.
Der Prozess beginnt formal mit dem Widerspruch gegen den Ablehnungsbescheid, in dem Sie die Mängel der DRV-Gutachten detailliert benennen müssen. Führt dieser Widerspruch nicht zum gewünschten Erfolg, ist die Klageerhebung beim zuständigen Sozialgericht der nächste und wichtigste Schritt. Vermeiden Sie es, voreilig teure private Gegengutachten zu beauftragen. Diese sind oft nicht so entscheidend wie ein vom Gericht selbst bestellter Gutachter, da ihre Neutralität infrage gestellt werden kann.
Im gerichtlichen Verfahren wird der Richter zur Klärung des Sachverhalts einen Gerichtsgutachter beauftragen. Dieser Facharzt arbeitet auf Kosten des Staates und ist nicht an die Interessen der Behörde gebunden. Sein Fokus liegt auf einer detaillierten funktionalen Analyse Ihrer körperlichen und psychischen Restleistung. Ein Beispiel: In einem Fallbeispiel beauftragte das Gericht einen unabhängigen Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie, dessen fundierte Expertise die widersprüchlichen früheren Einschätzungen widerlegte.
Kontaktieren Sie nach Erhalt des Widerspruchsbescheids sofort einen Fachanwalt für Sozialrecht und fordern Sie, dass im Klageantrag die Notwendigkeit eines Gutachtens in der spezifischen Fachrichtung Ihrer Haupterkrankung begründet wird.
Was kann ich tun, wenn die Rentenversicherung meine gesundheitlichen Probleme absichtlich ignoriert?
Wenn die Rentenversicherung (DRV) nur die Befunde berücksichtigt, die zu ihrer ablehnenden Entscheidung passen, handelt es sich um eine selektive Beweiswürdigung. Juristisch bezeichnen wir diese hochproblematische Praxis als die Rosinentheorie. Sie müssen diese Vorgehensweise im Widerspruchs- oder Klageverfahren explizit rügen. Die DRV verstößt damit direkt gegen ihre gesetzliche Pflicht zur objektiven Sachverhaltsaufklärung, was die gesamte Entscheidung fehlerhaft macht.
Die Rentenversicherung muss alle relevanten medizinischen Beweismittel gleichermaßen prüfen, denn sie unterliegt der Amtsermittlungspflicht. Es ist der Behörde streng untersagt, nur diejenigen Gutachten oder Teile von Arztbriefen auszuwählen, die ihre ablehnende Haltung bestätigen. Eine solche selektive Auswertung verletzt den Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit nach Artikel 20 des Grundgesetzes. Rügen Sie diese Verletzung der Aufklärungspflicht, indem Sie im Widerspruch präzise die ignorierten Dokumente und Befunde benennen.
Im anschließenden gerichtlichen Klageverfahren entfaltet die Rosinentheorie ihre volle Wirkung. Hat das Gericht einen unabhängigen Sachverständigen beauftragt, muss die DRV dessen überzeugendem und detailliert begründetem Urteil folgen. Gerichte kritisieren häufig, dass die Behörden dann pauschale Einwände erheben, anstatt den Sachverhalt nach dem neuen, neutralen Gutachten anzuerkennen. Das Sozialgericht hat die Macht, das selektive Vorgehen der Rentenversicherung zu korrigieren und die volle Erwerbsminderungsrente aufgrund der vollständigen Aktenlage zu bewilligen.
Analysieren Sie Ihren Ablehnungsbescheid akribisch, listen Sie alle eingereichten Befunde auf und markieren Sie, welche davon die Rentenversicherung im Bescheid komplett ignoriert hat.
Warum wird mir die volle Erwerbsminderungsrente oft nur befristet bewilligt?
Die Bewilligung der vollen Erwerbsminderungsrente erfolgt standardmäßig auf Zeit. Dieses Vorgehen ist die gesetzliche Regel, keine Abwertung Ihres aktuellen Zustandes. Die Befristung basiert auf der medizinischen Prognose des Sachverständigen, der eine Besserung in der Zukunft für möglich hält. Die Deutsche Rentenversicherung handelt hierbei nach klaren Vorgaben aus dem Sozialgesetzbuch. Das Ziel des Gesetzgebers bleibt stets die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit.
Das Gesetz verlangt gemäß § 102 Abs. 2 SGB VI die Befristung, wenn die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit nicht unwahrscheinlich ist. Selbst bei schweren chronischen Erkrankungen stufen Ärzte den Zustand oft als „nicht stabil“ ein. Sie empfehlen dann eine erneute Einschätzung nach wenigen Jahren, um Reha- oder Therapieerfolge zu überprüfen. Eine solche Befristung erfolgt in der Regel für einen Zeitraum von drei Jahren und muss nicht bedeuten, dass Ihr Gesundheitszustand unterschätzt wird.
Viele Betroffene empfinden diese befristete Zusage als unsicher und sorgen sich vor dem nächsten Gutachtertermin. Die Rente wird jedoch nur unbefristet gewährt, wenn die medizinische Prognose jegliche Besserung von Anfang an ausschließt. Alternativ erfolgt eine Entfristung, sobald Sie die Rente über einen Zeitraum von neun Jahren, also nach drei aufeinanderfolgenden Befristungen, bezogen haben. Diese Regel dient der stetigen Überprüfung.
Prüfen Sie sofort im Gutachten das genaue Enddatum der Befristung, um sechs Monate vorher den Folgeantrag sorgfältig vorzubereiten.
Hinweis: Bitte beachten Sie, dass die Beantwortung der FAQ Fragen keine individuelle Rechtsberatung darstellt und ersetzen kann. Alle Angaben im gesamten Artikel sind ohne Gewähr. Haben Sie einen ähnlichen Fall und konkrete Fragen oder Anliegen? Zögern Sie nicht, uns zu kontaktieren. Wir klären Ihre individuelle Situation und die aktuelle Rechtslage.
Glossar – Fachbegriffe kurz erklärt
Amtsermittlungspflicht
Die Amtsermittlungspflicht verpflichtet alle Sozialbehörden und Gerichte dazu, den relevanten Sachverhalt im Verfahren aktiv und unparteiisch vollständig aufzuklären. Das Gesetz stellt damit sicher, dass der Kläger im Sozialrecht nicht die alleinige Beweislast tragen muss, sondern der Staat alle entscheidenden Informationen und Gutachten von sich aus beschafft.
Beispiel: Aufgrund der Amtsermittlungspflicht musste das Sozialgericht Halle einen unabhängigen Sachverständigen bestellen, um die widersprüchlichen medizinischen Akten des Klägers aufzuklären.
Befristung
Die Befristung einer Rente wegen Erwerbsminderung bedeutet, dass die Leistung zunächst nur für einen festgelegten Zeitraum, meistens drei Jahre, bewilligt wird. Diese Regelung dient der Überprüfung und kommt gemäß § 102 Abs. 2 SGB VI zur Anwendung, wenn die medizinische Prognose eine künftige Besserung des Gesundheitszustandes für nicht unwahrscheinlich hält.
Beispiel: Das Gericht verurteilte die Rentenversicherung zur Zahlung der vollen Rente, allerdings musste die Befristung umgesetzt werden, da der Sachverständige den aktuellen Gesundheitszustand des Klägers als nicht stabil einschätzte.
Gerichtsgutachter
Ein Gerichtsgutachter ist ein neutraler Sachverständiger, der direkt vom Richter beauftragt wird, um die medizinische oder technische Sachlage zu klären, wenn die bisherigen Beweismittel im Verfahren widersprüchlich sind. Im Gegensatz zu den behördlichen Gutachtern arbeitet dieser Facharzt weisungsunabhängig, um eine objektive und fundierte Grundlage für die richterliche Wahrheitsfindung zu schaffen.
Beispiel: Der vom Gericht bestellte Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie analysierte detailliert die funktionalen Auswirkungen der Leiden und widerlegte damit die pauschalen Arbeitszeitangaben der Behörde.
Restleistungsvermögen
Juristen verstehen unter dem Restleistungsvermögen die Anzahl der Stunden, die ein Versicherter trotz seiner Erkrankungen noch täglich auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt arbeiten kann. Diese zentrale Kennzahl ist maßgeblich dafür, ob der Kläger die gesetzliche Schwelle von unter drei Stunden täglicher Arbeitsfähigkeit für die volle Erwerbsminderungsrente erreicht.
Beispiel: Der Kläger musste dem Gericht beweisen, dass sein Restleistungsvermögen aufgrund der schweren chronischen Schmerzerkrankung tatsächlich unter dem gesetzlich festgelegten Limit von drei Stunden täglich lag.
Rosinentheorie
Als Rosinentheorie wird die juristisch unzulässige Praxis bezeichnet, bei der eine Behörde oder Partei aus widersprüchlichen Unterlagen nur jene Beweismittel selektiv auswählt, die ihre eigene ablehnende Haltung bestätigen. Diese selektive Beweiswürdigung verletzt die Rechtsstaatlichkeit und die Pflicht zur objektiven Sachverhaltsaufklärung, weshalb Gerichte sie regelmäßig rügen.
Beispiel: Die Richter warfen der Rentenversicherung vor, sie habe die Rosinentheorie angewandt, da sie die ihr passenden Gutachten herausgepickt hatte, anstatt alle medizinischen Befunde gleichwertig zu berücksichtigen.
Wegefähigkeit
Die Wegefähigkeit ist ein oft unterschätztes, aber entscheidendes Kriterium im Sozialrecht, das die Fähigkeit eines Antragstellers beschreibt, einen Arbeitsplatz überhaupt zu Fuß zu erreichen. Das Gesetz setzt hierfür eine konkrete Mindestanforderung: Wer nicht viermal täglich eine Strecke von 500 Metern zurücklegen kann, gilt automatisch als voll erwerbsgemindert, weil der Arbeitsmarkt für ihn verschlossen ist.
Beispiel: Da der Kläger nachweislich nicht viermal täglich 500 Meter gehen konnte, stellte das Gericht fest, dass seine Wegefähigkeit nicht mehr gegeben war, was zur Bewilligung der vollen Erwerbsminderungsrente führte.
Das vorliegende Urteil
SG Halle (Saale) – Az.: S 11 R 214/21 – Urteil vom 18.10.2022
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Ich bin Dr. Christian Gerd Kotz, Rechtsanwalt und Notar in Kreuztal. Als Fachanwalt für Verkehrs- und Versicherungsrecht vertrete ich Mandant*innen bundesweit. Besondere Leidenschaft gilt dem Sozialrecht: Dort analysiere ich aktuelle Urteile und erkläre praxisnah, wie Betroffene ihre Ansprüche durchsetzen können. Seit 2003 leite ich die Kanzlei Kotz und engagiere mich in mehreren Arbeitsgemeinschaften des Deutschen Anwaltvereins.


