SG Hamburg – Az.: S 40 U 50/19 – Urteil vom 04.09.2020
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob das Ereignis vom 15.5.2018 als Arbeitsunfall festzustellen ist.
Der 1978 geborene Kläger ist als Bauleiter beschäftigt. Am 15.5.2018 gegen 12:00 Uhr war er mit seinem Motorrad auf dem Weg vom Büro zu einer nahegelegenen Baustelle, als er die Kontrolle über das Motorrad verlor und stürzte. Hierbei zog er sich Verletzungen, unter anderem einen offenen Bruch am linken Unterschenkel, zu.
In der Unfallanzeige vom 17.5.2018 wird zum Unfallhergang ausgeführt, dass der Kläger auf der K. beim Schaltvorgang mit der linken Hand von der Kupplung abgerutscht sei. In diesem Augenblick hob sich das Vorderrad und der Kläger verlor die Kontrolle über das Motorrad und stürzte. Im Durchgangsarztbericht vom 22.5.2018 wird unter Punkt 2 „Angaben des Versicherten zum Unfallort, Unfallhergang und zur Tätigkeit, bei der der Unfall eingetreten ist“ angegeben: „Männlicher Patient als Motorradfahrer verunfallt, Motorrad hochgezogen, außer Kontrolle geraten und gestürzt gegen Betonpfeiler.“
Im Bericht der aufnehmenden Polizei zum Verkehrsunfall vom 15.5.2018 ist der Unfallhergang wie folgt niedergelegt: „Vor Ort konnten drei Zeugen festgestellt werden. Alle drei waren Fußgänger und schilderten unabhängig voneinander den Unfallhergang wie folgt: Der Motorradfahrer kam aus Richtung der O. und befuhr die S. in Richtung K.. Dann beschleunigte das Motorrad stark der Fahrer setzte zu einem sogenannten Wheely an. Er fuhr einige Zeit auf dem Hinterrad. Als er dann mit dem Vorderrad wieder aufsetzte, geriet er ins Schleudern und kam von der Fahrbahn ab. Er prallte seitlich gegen einen der aufgestellten Schweinerücken und schleuderte anschließend gegen ein mobiles Verkehrszeichen und blieb schlussendlich hinter der Einmündung des L1liegen.“
Mit Bescheid vom 2.8.2018 lehnte die Beklagte die Anerkennung des Ereignisses vom 15.5.2018 als Arbeitsunfall ab und führte zur Begründung zusammengefasst aus, dass es Voraussetzung für die Anerkennung eines Wegeunfalles sei, dass der zurückgelegte Weg in einem inneren sachlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit stehen müsse und die bei der Zurücklegung des Weges vorliegende Handlungstendenz ausschließlich dieser Absicht diente.
Dieser innere Sachzusammenhang sei immer dann nicht mehr gegeben, wenn persönliche Motive oder das Handeln des Versicherten eine anderweitige Absicht, Aktion oder Handlung erkennen ließe und diese rechtlich wesentlich in den Vordergrund rücken und die versicherte Wegezurücklegung (versicherte Tätigkeit) ihrer Handlungstendenz nach keine wesentliche Bedingung für den Unfall bilden würde. Es müsse davon ausgegangen werden, dass das Fahren auf nur einem Reifen (dem Hinterrad) ausschließlich der eigenen Befriedigung (dem Zurschaustellen der Fahrt) sowie sonstigen persönlichen Motiven gedient hatte. Das vom Kläger später im Verwaltungsverfahren geschilderte versehentliche Fahren auf dem Hinterrad infolge eines Schaltungsfehlers könne hier ausgeschlossen werden, da hier zum einen das vorherige Beschleunigen und zum anderen die zurückgelegte Distanz diesem entgegenstünden. Andernfalls hätte der Kläger umgehend versucht, das Vorderrad wieder „auf die Straße zu bringen“, um anschließend gefahrlos den Heimweg fortzusetzen. Diese durch ausschließlich persönlich geprägte Motive hätten beim Kläger eine betriebsfremde Gefahr selbst geschaffen. Die Handlungstendenz, hier vordergründig einen Betriebsweg zurückzulegen zu wollen, sei deshalb zu verneinen. Der innere Zusammenhang zwischen einem versicherten Weg und dem Unfallereignis sei daher abzulehnen.
Mit Schriftsatz vom 16.8.2018 legte der Kläger dagegen Widerspruch ein. Zur Begründung trug der Kläger vor, er sei auf dem Weg zur Baustelle gewesen. In der S. sei ihm ein Fahrfehler unterlaufen, er hätte sich verschaltet. Statt vom 2. in den 3. Gang zu schalten, hätte er in den 1. Gang geschaltet. Durch die dadurch entstandene Schubkraft hob sich das Vorderrad leicht ab. Hierdurch hätte er die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren. Die Angaben im Polizeibericht, der Kläger hätte einen sogenannten Wheely gemacht, seien nicht korrekt.
Im Widerspruchsverfahren hatte die Beklagte die von der Polizei festgestellten Zeugen schriftlich zum Unfallhergang gehört. Unter dem 26.9.2018 führte die Zeugin K1 zu der Frage, wie sich der Unfall im Einzelnen zugetragen hatte aus: Der Kläger beschleunigte hinter uns (dem Geräusch nach) und zog auf einem Rad an uns vorbei. Nach ca. 20-30 Metern kam er wieder runter auf 2 Räder und kam ins Schlingern. Er versuchte die Maschine wieder unter Kontrolle zu bringen, aber kam dann gegen die Poller und Flug über den Lenker.
Unter dem 28.9.2018 nahm der Zeuge B. Stellung und führte aus, der Kläger fuhr auf seinem Motorrad aus Richtung O., setzte auf Position 1 (einer Skizze) mit dem Vorderrad auf und verlor die Kontrolle über den Lenker, gab unkontrolliert Gas und kollidierte mit einem „Schweinerücken“.
Unter dem 28.10.2018 erklärte die Zeugin Frau B1: Aufgrund lauter Motorengeräusche habe ich aus dem Fenster des 5. Stockes (Blickrichtung L.) geschaut. Ich sah einem Motorradfahrer, der dem Anschein nach die Kontrolle über das Motorrad verloren hatte und im Schlingern war. Kurz darauf ist der Motorradfahrer gegen eine Wegbegrenzung gefahren und wurde vom Motorrad geworfen. Ob der Motorradfahrer auf dem Hinterrad des Motors gefahren ist, kann ich nicht beurteilen. Ich habe es nicht gesehen.
Unter dem 27.11.2018 führte die Zeugin N. aus, dass ein Motorradfahrer leicht hinter uns kam und beschleunigte (lautes Motorengeräusch). Ca. auf unserer Höhe zog er das Vorderrad hoch und fuhr auf dem Hinterrad schnell weiter in die Mitte der Straße. Das Motorrad setzte kurz wieder auf wurde beschleunigt und das Vorderrad wurde hochgezogen. Dann kam das Motorrad ins Schlingern und geriet außer Kontrolle. Der Fahrer fuhr außer Kontrolle auf die linke Straßenseite in die dort stehende Betonbegrenzung. Er fuhr in den letzten Betonpoller, ein Straßenbau-Schild wurde umgeworfen. Der Poller war verschoben. Das Motorrad rutschte weg über die Straße nach rechts und blieb liegen. Auf mich wirkte das ganze Vorgehen leichtsinnig unkontrolliert.
Mit Widerspruchsbescheid vom 23.1.2019 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers gegen den Bescheid vom 2.8.2018 zurück. Zur Begründung führte sie zusammengefasst aus, der entscheidende Aspekt, dass bei dem Fahren mit dem Motorrad offensichtlich die (eigenwirtschaftliche) Motivationslage eines riskanten Fahr-Spaßes den eigentlichen betrieblichen Arbeitsauftrag deutlich überwogen hätte. Dies hätten die Zeugen überein-stimmend bestätigt. Das Verhalten des Klägers zum Unfallzeitpunkt sei nicht mehr objektivierbar davon geprägt, in erster Linie der versicherten Tätigkeit als Oberbauleiter nachzugehen, sondern vielmehr von einer davon abgrenzbaren, offenbar eigen-wirtschaftlichen Handlungstendenz im Sinne von (gleichsam jugendlichem) Übermut bzw. Leichtsinn. Für das Fahrmanöver ließe sich kein innerer Zusammenhang zu seiner versicherten Tätigkeit herstellen. Es könne nicht mit der notwendigen an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit festgestellt werden, dass diese von der Handlungstendenz geprägt gewesen war, den zuvor erhaltenen unternehmerischen Auftrag (Fahrt vom Büro zu einer Baustelle) zu erfüllen. Ein Arbeitsunfall sei daher zu Recht abgelehnt worden.
Mit Schriftsatz vom 21.2.2019 hat der Kläger am 22.2.2019 dagegen Klage erhoben. Er trägt unter anderem vor, dass tatsächlich der Unfall auf die Unerfahrenheit des Klägers mit seinem Motorrad zurückzuführen sei. Bei dem Motorrad handele es sich um eine Maschine der Firma K2, die als Rennmaschine konzipiert worden sei.
Der Kläger habe diese im August 2017 erworben und sei bis zum Unfallzeitpunkt am 15.5.2018 nur etwa 200 km mit dem Motorrad gefahren. Der Kläger sei ein sehr besonnener Verkehrsteilnehmer, der immer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt beachtet habe. Keinesfalls sei ihm am riskanten Fahrspaß gelegen gewesen. Das beobachtete Fahren auf dem Hinterrad (vom aufnehmenden Polizeibeamten als „Wheely “ interpretiert) geschah einzig und allein aufgrund eines Fahrfehlers und keinesfalls aus Lust am Risiko. Ein Arbeitsunfall sei daher festzustellen.
Der Kläger beantragt nach seinem Vorbringen, den Bescheid der Beklagten vom 2.8.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.1.2018 aufzuheben und festzustellen, dass der Unfall des Klägers vom 15.5.2018 ein Arbeitsunfall ist.
Die Beklagte beantragt schriftsätzlich, die Klage abzuweisen.
Die Beklagte bezieht sich im Wesentlichen auf die Ausführungen in den angefochtenen Bescheiden und hält diese für rechtmäßig.
Das Gericht hat zur Aufführung des Sachverhaltes die Verwaltungsakten (Bd. 1 und 2) der Beklagten beigezogen.
Im Termin zur mündlichen Verhandlung und Beweisaufnahme am 4.9.2020 hat die Kammer die Zeugen K1, N. und B. gehört.
Die Zeugin K1 hat erklärt: Sie kam mit ihrer Arbeitskollegin in der Mittagspause auf die S., hinter ihr wurde es laut. Es kam ein Motorrad vorbei mit einem sogenannten Wheely. Der Fahrer ist bis zur leichten Anhöhe gefahren. Beim Aufsetzen kam er ins Schlingern und stürzte. Die Entfernung kann ich schwer schätzen. Vielleicht waren es 10 – 20 Meter auf einem Rad, ob er es absichtlich gemacht hat, kann ich nicht beurteilen. Nach ihrer Wahrnehmung fuhr das Motorrad beschleunigt, aber eine überhöhte Geschwindigkeit könne sie nicht bezeugen. Ein Schlingern war erst nach dem Aufsetzen zu beobachten. Das Fahren auf einem Rad machte einen sehr sicheren Eindruck. Als ich mich umgedreht habe, war das Motorrad bereits auf einem Rad.
Die Zeugin N. hat erklärt: Wir waren in der Mittagspause und sind unsere übliche Runde gegangen. Wir sind rechts in die S. eingebogen und wurden von einem Motorrad überholt, wobei das Vorderrad möglicher Weise hochgezogen wurde. Es ist dann außer Kontrolle geraten und links in Poller bzw. eine Baustelle gefahren und der Fahrer ist gestürzt. Ob das Vorderrad hochgezogen wurde oder nur hochgegangen ist, kann ich nicht genau sagen. Ebenfalls kann ich nicht genau sagen, welche Distanz der Fahrer tatsächlich auf einem Rad zurückgelegt hat. Auf jeden Fall, war es so, dass der Fahrer nicht nur kurz das Vorderrad hochgezogen hat und gleich wieder runtergekommen ist. Ich bin der Meinung, dass das Motorrad zweimal hochgezogen wurde. Es sah insgesamt nicht sicher aus. Ich bin der Meinung, dass es beim ersten Mal nur ganz kurz hochgezogen wurde, sodass kaum Distanz zurückgelegt wurde. Beim zweiten Mal war dies schon länger. Die genaue Entfernung kann ich nicht sagen, aber keine wahnsinnige Entfernung. Vielleicht waren es 5 – 10 Meter. Auf die Frage nach der Geschwindigkeit hat die Zeugin erklärt, dass es sich vielleicht um die Geschwindigkeit von 50 km/h gehandelt hatte, auf jeden Fall wohl nicht eine überhöhte Geschwindigkeit. Hinsichtlich der allgemeinen Verkehrslage sei die Straße leer gewesen. Es gab keine weiteren Fahrzeuge auf der Straße. Die Wetterverhältnisse waren trocken. Es war auf jeden Fall nicht nass, wir hatten keinen Schirm o. ä. dabei.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Akteninhalt, der beigezogenen Akten und das Protokoll vom 4.9.2020 Bezug genommen. Diese waren Gegenstand der Erörterung und Entscheidungsfindung der Kammer.
Entscheidungsgründe
Die Anfechtungs- und Feststellungsklage ist zulässig, aber unbegründet.
Die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten. Ein Arbeitsunfall kann nicht festgestellt werden, denn das Unfallereignis am 15.5.2018 ist nicht infolge der versicherten Tätigkeit des Klägers eingetreten.
Nach § 8 Abs. 1 S. 1 Sozialgesetzbuch Siebtes Buch (SGB VII) sind Arbeitsunfälle Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit). Unfälle sind nach § 8 Abs. 1 S. 2 SGB VII zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen. Ein Arbeitsunfall setzt daher voraus, dass die Verrichtung zur Zeit des Unfalls der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist (innerer oder sachlicher Zusammenhang), sie zu dem zeitlich begrenzten, von außen auf den Körper einwirkenden Ereignis – dem Unfallereignis – geführt hat (Unfallkausalität) und dass das Unfallereignis einen Gesundheits-erst-schaden oder den Tod des Versicherten objektiv und rechtlich wesentlich verursacht (haftungsbegründende Kausalität) hat. Hinsichtlich des Beweismaßstabes gilt bei der Tatsachenfeststellung, dass die Tatsachen, die die Tatbestandsmerkmale „versicherte Tätigkeit“, „Verrichtung zur Zeit des Unfalls“, „Unfallereignis“ sowie „Gesundheitsschaden“ erfüllen sollen im Grad des Vollbeweises, also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, für das Gericht feststehen müssen. Demgegenüber genügt für den Nachweis der naturwissenschaftlichen Ursachen-zusammenhänge zwischen diesen Voraussetzungen der Grad der (hinreichenden) Wahrscheinlichkeit, nicht allerdings die Glaubhaftmachung und erst Recht nicht die bloße Möglichkeit (vgl zB. BSG vom 2.4.2009 – B 2 U 30/07 R – BSGE 103, 45 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 3101 Nr 4 mwN).
Bei der Prüfung eines Arbeitsunfalles ist weiterhin festzustellen, ob der Versicherte überhaupt eine versicherte Tätigkeit nach objektiven Umständen und seiner Handlungstendenz nach verrichtet und ob diese Tätigkeit das Unfallereignis wesentlich verursacht hat. Denn Arbeitsunfälle sind Unfälle von Versicherten die „infolge“ einer den Versicherungsschutz begründenden Tätigkeit verursacht werden (§ 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII).
Die Handlungstendenz eines Versicherten, die darauf gerichtet sein muss, die entsprechende versicherte Tätigkeit zu verrichten, ist ein subjektives Element, die anhand von objektiven Kriterien prüfbar und somit feststellbar sein muss (objektivierte Handlungstendenz). Der sachliche Schutzbereich der gesetzlichen Unfallversicherung greift ein, wenn sich mit dem durch die versicherte Verrichtung mitverursachten tatbestandlichen Schaden eine Gefahr verwirklicht hat, gegen die der jeweils erfüllte Versicherungstatbestand schützen soll. Für Schäden, die außerhalb des Schutzzwecks der Norm liegen, muss der jeweils zuständige Unfallversicherungsträger nicht einstehen. Daher ist festzustellen, ob die versicherte Verrichtung ein Risiko verwirklicht hat, das unter diesen Schutzbereich fällt. Die Einstandspflicht des Unfallversicherungsträgers wird nur begründet, wenn der durch die versicherte Verrichtung objektiv mitverursachte Unfall (hier: die Einwirkung auf den Versicherten) eine Gefahr mitverwirklicht hat, gegen die die begründete Versicherung schützen soll. Diese Voraussetzung wird zumeist erfüllt sein, bedarf aber stets der Entscheidung. Denn nur wenn der Schutzzweck der Norm den durch die versicherte Handlung mitbewirkten Schaden überhaupt umgreift, kommt es rechtlich darauf an, ob neben der versicherten Wirkursache auch andere unversicherte Mitursachen bestehen (so grundlegend BSG Urteil vom 23.11.2012 – B 2 U 19/11 R, Rz. 39ff in juris).
Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt. Zwar hat der Kläger beim Sturzereignis am 15.5.2018 einen Unfall erlitten, als er mit seinem Motorrad auf dem Weg vom Büro die Kontrolle über das Motorrad verlor, stürzte und er sich hierbei durch das von außen einwirkende Aufschlagen auf der Straße unter anderem einen offenen Bruch am linken Unterschenkel zuzog.
Dieser Unfall ist jedoch kein Arbeitsunfall, denn das Ereignis trat nicht „infolge“ der versicherten Tätigkeit ein. Das Ereignis stand nicht im sachlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit des Fortbewegens hin zur Baustelle. Die versicherte Tätigkeit war keine wesentliche Ursache für das Erleiden des Unfallereignisses, die Unfallkausalität kann nicht positiv festgestellt werden.
Im Rahmen der Unfallkausalität sind auf 1. Kausalitätsstufe die Wirkursachen positiv festzustellen, die tatsächlich (naturwissenschaftlich) den Unfall (mit-)verursacht haben. Dies sind vorliegend die versicherte Tätigkeit des „sich Fortbewegens mit dem Motorrad zur Baustelle“ auf dem Betriebsweg und als unversicherte konkurrierende Wirkursache das eigenwirtschaftlich motivierte Imponiergehabe, dass sich in der „Vorführung eines Wheelys“ zeigte.
Auf der 2. Stufe ist dann allein rechtlich zu werten, ob die versicherte Tätigkeit eine wesentliche Wirkursache war. Das ist dann nicht der Fall, wenn die unversicherten Wirkursachen das Unfallgeschehen derart geprägt haben, dass sie die versicherte Wirkursache verdrängen, so dass der eingetretene Schaden „im Wesentlichen“ rechtlich nicht mehr dem Schutzbereich des jeweiligen Versicherungstatbestandes unterfällt. So liegt der Fall hier.
Die Kammer stellt folgenden Sachverhalt fest und legt diesen der Entscheidung zu Grunde:
Der Kläger war am Unfalltage, dem 15.5.2018, mit seinem Motorrad auf einem Betriebsweg von seinem Bauleiterbüro zu einer in der Nähe gelegenen Baustelle unterwegs. Auf der S. setzte er zu einem „Wheely“ an, d.h. er zog absichtlich das Vorderrad hoch, um auf dem Hinterrad zu fahren. Nach ca. 20-30 Metern, nach dem Absetzen des Vorderrades, kam er ins Schlingern und verlor die Kontrolle über das Motorrad und verunfallte. Dieser tatsächliche Sachverhalt ergibt sich aus den gesamten vorliegenden Unterlagen und den Zeugenaussagen.
Alle Zeugen haben übereinstimmend ausgeführt, dass sie auf das Fahrverhalten des Klägers durch das laute Motorengeräusch des Motorrades aufmerksam wurden. Unmittelbar nach dem Unfallgeschehen wurden von der Polizei drei Zeugen gehört, die alle unabhängig voneinander den Unfallhergang schilderten, dass der Kläger als Motorradfahrer aus Richtung der O. kam und die S. in Richtung K. befuhr. Dann beschleunigte das Motorrad stark und setzte zu einem Wheely an. Er fuhr einige Zeit auf dem Hinterrad. Als er dann mit dem Vorderrad wieder aufsetzte, geriet er ins Schleudern und kam von der Fahrbahn ab.
Auch im Durchgangsarztbericht ist unter dem Punkt „Angaben des Versicherten zum Unfallort, Unfallhergang und zur Tätigkeit, bei der der Unfall eingetreten ist“ angegeben: „Männlicher Patient als Motorradfahrer verunfallt, Motorrad hochgezogen, außer Kontrolle geraten und gestürzt. Aus diesen Angaben zum konkreten Unfallereignis, die unmittelbar und häufig unbeeinflusst von versicherungsrechtlichen Überlegungen erfolgten, schließt die Kammer, dass der Kläger absichtlich einen Wheely machen und hierbei stürzte. Die Kammer legt diese Erstangaben seiner Entscheidung zu Grunde. Diese Angaben werden aber auch durch die nachfolgenden Zeugenaussagen, die die Beklagte eingeholt hat, gestützt. Zwar hat die Zeugin B1 es nicht mehr persönlich gesehen, dass der Kläger auf dem Hinterrad seines Motors gefahren ist, sie hat aber ausgeführt, dass sie durch das laute Motorengeräusch zum Fenster gegangen ist, um hinaus zu schauen.
Hierbei hat sie noch gesehen, wie das Unfallereignis passierte. Auch die beiden Zeuginnen K1 und N. haben übereinstimmend bekundet, dass hinter ihnen ein lautes Motorengeräusch zu vernehmen war und der Kläger auf ihrer Höhe auf einem Rad vorbeifuhr, indem er das Vorderrad hochgezogen hatte. Die Zeugin K1 teilte schriftlich mit, dass der Kläger beschleunigte und auf einem Rad an uns vorbeizog. Nach ca. 20-30 Metern kam er wieder runter auf 2 Räder und kam ins Schlingern. Er versuchte die Maschine wieder unter Kontrolle zu bringen, aber kam dann gegen die Poller und Flug über den Lenker. Die Zeugin N. führte schriftlich aus, dass ein Motorradfahrer leicht hinter uns kam und beschleunigte (lautes Motorengeräusch). Ca. auf unserer Höhe zog er das Vorderrad hoch und fuhr auf dem Hinterrad schnell weiter in die Mitte der Straße. Das Motorrad setzte kurz wieder auf wurde beschleunigt und das Vorderrad wurde hochgezogen. Dann kam das Motorrad ins Schlingern und geriet außer Kontrolle.
Diese Aussagen haben die beiden Zeuginnen im Termin am 4.9.2020 im Wesentlichen bestätigt. Zwar haben sich leichte Abweichungen in den konkreten Angaben ergeben, indem beispielsweise die Distanzangaben über die zurückgelegte Strecke auf dem Hinterrad etwas variierten, aber die Grundaussagen zum Unfallhergang konnten übereinstimmend zu allen vorherigen Aussagen bestätigt werden. Die Abweichungen im Detail sind bereits durch den relativ langen Zeitablauf erklärbar. Widersprüche oder Ungereimtheiten sind nicht erkennbar. Für die Kammer steht ein absichtliches Fahren auf dem Hinterrad als Unfallursache fest.
Daraus folgt als rechtliche Wertung der Kammer, dass bei dieser gemischten Tätigkeit das riskante und insbesondere leichtsinnige bzw. unvernünftige Fahrverhalten des Klägers die allein rechtlich-wesentliche Ursache für das Erleiden des Unfallereignisses ist. Das Fahren eines Motorrads auf dem Hinterrad, ein Wheely, stellt eine unversicherte konkurrierende Ursache dar, wobei die Beweggründe, insbesondere ein Imponiergehabe oder leichtsinniger Übermut usw. den ursächlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit soweit in den Hintergrund drängen, dass allein rechtlich-wesentlich diese eigenwirtschaftliche Motivation und nicht die versicherte Wirkursache dem Unfallgeschehen sein wesentliches Gepräge gab (vgl. zu ähnlichen Wertungen: bei einem Autowettrennen/Ampelstechen: LSG Berlin Urteil 19.01.2004 – L 16 U 51/03 in juris; zu konkurrierenden Ursachen bei Imponiergehabe, Übermut, Nachweis turnerischer Gewandtheit; BSG vom 15.12.1959 – 2 RU 143/57 – BSGE 11, 156, 157 f; RVA, EuM, Bd 36 S 439, 440: BSG, Urteil vom 31. August 2017 – B 2 U 2/16 R –, SozR 4-2700 § 8 Nr 61, Rn. 21).
Die versicherte Wegefortbewegung trat gänzlich in den Hintergrund. Bei der Zurücklegung eines Betriebswegs im öffentlichen Verkehrsraum sind die Wegegefahren die gleichen, die bei der Wegezurücklegung von und nach dem Ort der Tätigkeit nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII bestehen. Eine solche Wegegefahr hat sich vorliegend nicht realisiert. Die gesetzliche Unfallversicherung soll im Bereich der Wegeunfälle nicht gegen Gefahrenbereiche schützen, die sich aus eigenem Antrieb und aus einer Zurschaustellung leichtsinniger Verhaltensweisen ergeben und keinen sachlichen Bezug hinsichtlich der versicherten Tätigkeit aufweist (zu den Wegegefahren grundlegend BSG Urteil vom 23.11.2012 – B 2 U 19/11 R, in juris).
Die Kammer geht auch nicht von einem unbewussten Fahrfehler im Sinne eines falschen Schaltvorganges aus. Ein solcher „Fahrfehler“ als Wegegefahr kann nicht positiv festgestellt werden. Dies konnten die Zeugen nicht bestätigen.
Nach den Zeugenaussagen und dem Bericht der Polizei ist der Kläger über ca. 20-30 Meter bzw. „einige Zeit auf dem Hinterrad“ seines Motors gefahren. Die Kammer wertet die Ausführungen des Klägers, es habe sich um einen Schaltfehler gehandelt, als Schutzbehauptung. Würde ein bloßer Schaltfehler vorliegen, wäre die Zurücklegung einer Strecke von ca. 20-30 Metern auf dem Hinterrad nicht möglich. Die Zeugin K1 hat ausgesagt, dass das Fahren auf dem Hinterrad beim Kläger „einen sehr sicheren Eindruck machte“. Zwar hat die Zeugin N. gegenteilig bekundet, dass „es insgesamt nicht sicher aussah.“ Aber weiter ausgeführt: „Ich bin der Meinung, dass es beim ersten Mal nur ganz kurz hochgezogen wurde, sodass kaum Distanz zurückgelegt wurde. Beim zweiten Mal war dies schon länger.“ Ein längeres Fahren zeigt bereits, dass ein absichtliches Hochziehen vorlag. Ein solches Fahrverhalten auf dem Hinterrad über eine Distanz von ca. 20 Metern ist nur möglich, wenn ein Wheely (relativ) kontrolliert stattfindet. Dieser erfordert entsprechenden fahrerischen Fähigkeiten und ein sehr kontrolliertes Spiel zwischen Fußbremse, Kupplung und Gas. Ohne diese Fähigkeiten wäre es schon erheblich früher zu einem Unfallereignis gekommen. Auch ein Verschalten in einen niedrigeren Gang ist kaum vorstellbar, denn zum einen hätte die „Motorbremse“ das Motorrad negativ beschleunigt. Zum anderen hätte bei einem Fahrfehler sofort die Kupplung gezogen oder der Fahrer hätte das „Gas“ losgelassen. Eine Distanz von erheblicher Länge, selbst 5-10 Meter, auf dem Hinterrad spricht bereits nach dem Beweis des ersten Anscheins dafür, dass der Wheely des Klägers bewusst und gewollt ausgeführt worden ist.
Eine Zurechnung als „versicherte Tätigkeit“ folgt auch nicht aus § 7 Abs. 2 SGB VII.
Danach schließt verbotswidriges Handeln einen Versicherungsfall nicht aus. Zwar hat der Kläger mit seinem grob vernunftwidrigen bzw. leichtfertigen Verhalten (wohl) auch ein „verbotenes“ Verhalten im Sinne des Strafgesetzbuchs (StGB) bzw. eine Ordnungswidrigkeit begangen, das strafrechtliche Konsequenzen haben könnten, beispielsweise wenn es sich um einen gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr handeln würde (vgl. § 315 c StGB). Ob insoweit ein strafrechtlich relevantes bzw. verbotswidriges Handeln vorliegt, kann die Kammer dahingestellt lassen, denn § 7 Abs. 2 SGB VII ist nicht einschlägig. Die Regelung setzt nach allgemeiner Auffassung voraus, dass das konkrete „verbotswidrige Handeln“ überhaupt eine versicherte Tätigkeit darstellt. Dies ist vorliegend aber nicht der Fall. Der Kläger wollte mit seinem leichtsinnigen und übermütigen Fahrverhalten keine in Bezug auf die versicherte Wegezurücklegung bestimmte Handlung ausführen, wie dies z.B. bei einem riskanten Überholmanöver der Fall sein kann, wenn ein Versicherter „schneller“ zur Arbeit fahren möchte. In einem solchen Fall könnte die Motivation immer noch davon geprägt sein, die versicherte Tätigkeit der schnelleren Wegezurücklegung „wesentlich“ zu verrichten. Ein Imponiergehabe stellt keine „versicherte Tätigkeit“ dar, auch nicht im Sinne eines „verkehrswidrigen Verhaltens“, dass noch unter den Schutzbereich der Wegeunfall-versicherung fallen könnte. Dieses rein eigenwirtschaftliche Verhalten hat mit der Wegezurücklegung und dem Schutzzweck der gesetzlichen Unfallversicherung nichts zu tun und eröffnet vielmehr einen versicherungsfremden Gefahrenbereich, der allein mit dem Zurücklegen des Weges mit einem Motorrad nicht gegeben war und damit vom Schutzzweck der Unfallversicherung nicht erfasst ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 183, 193 SGG.