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Unfallversicherung – Arbeitsunfall – Motorradfahren auf dem Hinterrad

 

Landessozialgericht Hamburg – Az.: L 2 U 32/21 – Urteil vom 04.05.2022

1. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 4. September 2020 und der Bescheid vom 2. August 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 23. Januar 2019 aufgehoben und festgestellt, dass der Unfall des Klägers am 15. Mai 2018 ein Arbeitsunfall ist.

2. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers in beiden Instanzen.

3. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob das Ereignis vom 15. Mai 2018 als Arbeitsunfall festzustellen ist.

Der 1978 geborene Kläger ist als Bauleiter beschäftigt. Am 15. Mai 2018 gegen 12:00 Uhr war er mit seinem Motorrad auf dem Weg vom Büro zu einer nahegelegenen Baustelle unterwegs, als er die Kontrolle über das Motorrad verlor und stürzte. Hierbei zog er sich Verletzungen, unter anderem einen offenen Bruch am linken Unterschenkel, zu.

In der von der Arbeitgeberin ausgefüllten Unfallanzeige vom 17. Mai 2018 wurde zum Unfallhergang ausgeführt, dass der Kläger auf dem Weg von der Geschäftsstelle der Arbeitgeberin zur nahegelegenen Baustelle auf der K. beim Schaltvorgang mit der linken Hand von der Kupplung abgerutscht sei. In diesem Augenblick habe sich das Vorderrad gehoben und der Kläger habe die Kontrolle über das Motorrad verloren und sei gestürzt. Im Durchgangsarztbericht vom 22. Mai 2018 wird unter Punkt 2 „Angaben des Versicherten zum Unfallort, Unfallhergang und zur Tätigkeit, bei der der Unfall eingetreten ist“ angegeben: „Männlicher Patient als Motorradfahrer verunfallt, Motorrad hochgezogen, außer Kontrolle geraten und gestürzt gegen Betonpfeiler.“

Unfallversicherung - Arbeitsunfall - Motorradfahren auf dem Hinterrad
(Symbolfoto: Alex Kravtsov/Shutterstock.com)

Im Bericht der aufnehmenden Polizei zum Verkehrsunfall vom 15. Mai 2018 wurde der Unfallhergang wie folgt niedergelegt: „Vor Ort konnten drei Zeugen festgestellt werden. Alle drei waren Fußgänger und schilderten unabhängig voneinander den Unfallhergang wie folgt: Der Motorradfahrer kam aus Richtung der O. und befuhr die S. in Richtung K.. Dann beschleunigte das Motorrad stark und der Fahrer setzte zu einem sogenannten Wheelie an. Er fuhr einige Zeit auf dem Hinterrad. Als er dann mit dem Vorderrad wieder aufsetzte, geriet er ins Schleudern und kam von der Fahrbahn ab. Er prallte seitlich gegen einen der aufgestellten Schweinerücken und schleuderte anschließend gegen ein mobiles Verkehrszeichen und blieb schlussendlich hinter der Einmündung des L.liegen.“ Als Anlage waren die Angaben der Zeugin S.B. beigefügt. Diese hatte gegenüber der Polizei angegeben, dass sie aus dem Bürogebäude K./ E. beobachtet habe, wie das Motorrad des Klägers ins Schlingern geraten und anschließend gegen den linken Fahrbahnrand geprallt sei.

Mit Bescheid vom 2. August 2018 lehnte die Beklagte die Anerkennung des Ereignisses vom 15. Mai 2018 als Arbeitsunfall ab und führte zur Begründung aus, dass es Voraussetzung für die Anerkennung eines Wegeunfalles sei, dass der zurückgelegte Weg in einem inneren sachlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit stehen müsse und die bei der Zurücklegung des Weges vorliegende Handlungstendenz ausschließlich dieser Absicht diene. Dieser innere Sachzusammenhang sei immer dann nicht mehr gegeben, wenn persönliche Motive oder das Handeln des Versicherten eine anderweitige Absicht, Aktion oder Handlung erkennen ließen und diese rechtlich wesentlich in den Vordergrund rückten und die versicherte Wegezurücklegung (versicherte Tätigkeit) ihrer Handlungstendenz nach keine wesentliche Bedingung für den Unfall bilde. Es müsse davon ausgegangen werden, dass das Fahren auf nur einem Reifen (dem Hinterrad) ausschließlich der eigenen Befriedigung (dem Zurschaustellen der Fahrt) sowie sonstigen persönlichen Motiven gedient habe. Das vom Kläger später im Verwaltungsverfahren geschilderte versehentliche Fahren auf dem Hinterrad infolge eines Schaltungsfehlers könne ausgeschlossen werden, da hier zum einen das vorherige Beschleunigen und zum anderen die zurückgelegte Distanz diesem entgegenstünden. Andernfalls hätte der Kläger umgehend versucht, das Vorderrad wieder „auf die Straße zu bringen“, um anschließend gefahrlos den Heimweg fortzusetzen. Diese ausschließlich persönlich geprägten Motive hätten beim Kläger eine betriebsfremde Gefahr selbst geschaffen. Die Handlungstendenz, hier vordergründig einen Betriebsweg zurücklegen zu wollen, sei deshalb zu verneinen. Der innere Zusammenhang zwischen einem versicherten Weg und dem Unfallereignis sei daher abzulehnen.

Mit Schriftsatz vom 16. August 2018 legte der Kläger dagegen Widerspruch ein. Zur Begründung trug der Kläger vor, er sei auf dem Weg zur Baustelle gewesen. In der S. sei ihm ein Fahrfehler unterlaufen, er habe sich verschaltet. Statt vom 2. in den 3. Gang zu schalten, habe er in den 1. Gang geschaltet. Durch die dadurch entstandene Schubkraft habe sich das Vorderrad leicht abgehoben. Hierdurch habe er die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren. Die Angaben im Polizeibericht, der Kläger habe einen sogenannten Wheelie gemacht, seien nicht korrekt. Die in der Ermittlungsakte angeführten Zeugen K1, N1 und B. hätten ebenfalls lediglich berichtet, dass der Vorderreifen des Motorrades die Bodenhaftung verloren habe und der Kläger ins Schlingern geraten sei. Die Schilderung des Polizisten im Verkehrsunfallbericht habe ausschließlich auf seiner eigenen Interpretation des Vorfalles beruht.

Im Widerspruchsverfahren hörte die Beklagte die von der Polizei festgestellten Zeugen schriftlich zum Unfallhergang an. Unter dem 26. September 2018 führte die Zeugin K1 zu der Frage, wie sich der Unfall im Einzelnen zugetragen habe, aus: Der Kläger beschleunigte hinter uns (dem Geräusch nach) und zog auf einem Rad an uns vorbei. Nach ca. 20-30 m kam er wieder herunter und geriet ins Schlingern. Er versuchte, die Maschine unter Kontrolle zu bringen, aber kam dann links gegen die Poller und flog über den Lenker.

Am 28. September 2018 nahm der Zeuge B. Stellung und führte aus, der Kläger sei auf seinem Motorrad aus Richtung O. gefahren, habe mit dem Vorderrad aufgesetzt und die Kontrolle über den Lenker verloren, er habe unkontrolliert Gas gegeben und sei mit einem „Schweinerücken“ kollidiert.

Am 28. Oktober 2018 erklärte die Zeugin B2: Aufgrund lauter Motorengeräusche schaute ich aus dem Fenster des 5. Stockes (Blickrichtung L.). Ich sah einen Motorradfahrer, der dem Anschein nach die Kontrolle über das Motorrad verloren hatte und im „Schlingern“ war. Kurz darauf ist der Motorradfahrer gegen eine Wegbegrenzung gefahren und wurde vom Motorrad geworfen. Ob der Motorradfahrer auf dem Hinterrad des Motorrades gefahren ist, kann ich nicht beurteilen. Ich habe es nicht gesehen.

Am 27. November 2018 führte die Zeugin N1 aus: Ein Motorradfahrer kam leicht hinter uns und beschleunigte (lautes Motorengeräusch). Ca. auf unserer Höhe zog er das Vorderrad hoch und fuhr auf dem Hinterrad schnell weiter in die Mitte der Straße. Das Motorrad setzte kurz wieder auf wurde beschleunigt und das Vorderrad wurde hochgezogen. Dann kam das Motorrad ins Schlängeln und geriet außer Kontrolle. Der Fahrer fuhr außer Kontrolle auf die linke Straßenseite in die dort stehende Betonbegrenzung. Auf mich wirkte das ganze Vorgehen leichtsinnig unkontrolliert.

Mit Widerspruchsbescheid vom 23. Januar 2019 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Der entscheidende Aspekt sei, dass bei dem Fahren mit dem Motorrad offensichtlich die (eigenwirtschaftliche) Motivationslage eines riskanten Fahrspaßes den eigentlichen betrieblichen Arbeitsauftrag deutlich überwogen habe. Dies hätten die Zeugen übereinstimmend bestätigt. Das Verhalten des Klägers zum Unfallzeitpunkt sei nicht mehr objektivierbar davon geprägt gewesen, in erster Linie der versicherten Tätigkeit als Oberbauleiter nachzugehen, sondern vielmehr von einer davon abgrenzbaren, offenbar eigenwirtschaftlichen Handlungstendenz im Sinne von (gleichsam jugendlichem) Übermut bzw. Leichtsinn. Für das Fahrmanöver lasse sich kein innerer Zusammenhang zu seiner versicherten Tätigkeit herstellen. Es könne nicht mit der notwendigen an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit festgestellt werden, dass diese von der Handlungstendenz geprägt gewesen sei, den zuvor erhaltenen unternehmerischen Auftrag (Fahrt vom Büro zu einer Baustelle) zu erfüllen. Ein Arbeitsunfall sei daher zu Recht abgelehnt worden.

Hiergegen hat der Kläger am 22. Februar 2019 Klage beim Sozialgericht Hamburg erhoben. Ihm sei nicht mehr genau in Erinnerung, ob er vor dem Abheben des Vorderrades versehentlich in den falschen Gang geschaltet habe oder ob ihm beim Schaltvorgang die Kupplung abgerutscht sei. Keinesfalls sei es ihm bei der Fahrt um riskanten Fahrspaß gegangen. Tatsächlich sei der Unfall auf seine Unerfahrenheit mit seinem Motorrad zurückzuführen gewesen. Bei dem Motorrad handele es sich um eine R1 der Firma K2, die als Rennmaschine konzipiert worden sei. Er habe diese im August 2017 erworben und sei bis zum Unfallzeitpunkt am 15. Mai 2018 nur etwa 200 km mit dem Motorrad gefahren. Bekanntermaßen habe ein 1-Zylinder-Motor eine unerhört starke Beschleunigung. Vorzuwerfen sei ihm allenfalls, dass er in seiner Unerfahrenheit mit diesem Motorradtyp die Kraft der Beschleunigung des Motorrades vollkommen unterschätzt habe. Bei normalen Motorrädern hebe das Vorderrad nicht ab, wenn man aufgrund eines Fahrfehlers einen Gang zurückschalte bzw. beim Schaltvorgang mit der Kupplung abrutsche. Genauso wenig hebe das Vorderrad ab, wenn der Fahrer aus Versehen zu viel Gas gebe. Bei dem Motorrad des Klägers sei das jedoch anders, da es eigentlich für die Rennstrecke konzipiert gewesen sei. Der Kläger sei ein sehr besonnener Verkehrsteilnehmer, der immer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt beachtet habe. Keinesfalls sei ihm am riskanten Fahrspaß gelegen gewesen. Das beobachtete Fahren auf dem Hinterrad (vom aufnehmenden Polizeibeamten als Wheelie interpretiert) sei nur aufgrund eines Fahrfehlers und keinesfalls aus Lust am Risiko erfolgt. Ein Arbeitsunfall sei daher festzustellen.

Der Kläger hat eine Stellungnahme von A.H., K3-Sachverständigenteam GmbH, vom 11. Juni 2020 eingereicht. Hiernach habe es sich bei dem Fahrzeug des Klägers um ein sogenanntes Supermotorbike gehandelt. Das Fahrzeug habe über genügend Motorleistung verfügt, so dass es bei sehr hoher Motordrehzahl und ungewolltem schnellen Einkuppeln des Getriebes (zum Beispiel durch Abrutschen vom Kupplungshebel) zu einem unkontrollierten Aufsteigen des Vorderrades kommen könne.

Im Termin zur mündlichen Verhandlung und Beweisaufnahme am 4. September 2020 hat das Sozialgericht die Zeugen K1, N1 und B. gehört.

Die Zeugin K1 hat erklärt: Sie sei mit ihrer Arbeitskollegin in der Mittagspause auf die S. gekommen, hinter ihr sei es laut geworden. Es sei ein Motorrad mit einem sogenannten Wheelie vorbeigekommen. Der Fahrer sei bis zur leichten Anhöhe gefahren. Beim Aufsetzen sei er ins Schlingern gekommen und gestürzt. Die Entfernung könne sie schwer schätzen. Vielleicht seien es 10-20 m auf einem Rad gewesen, ob er es absichtlich gemacht habe, könne sie nicht beurteilen. Nach ihrer Wahrnehmung sei das Motorrad beschleunigt gefahren, aber eine überhöhte Geschwindigkeit könne sie nicht bezeugen. Ein Schlingern sei erst nach dem Aufsetzen zu beobachten gewesen. Das Fahren auf einem Rad habe einen sehr sicheren Eindruck gemacht. Als sie sich umgedreht habe, sei das Motorrad bereits auf einem Rad gewesen.

Die Zeugin N1 hat erklärt: Sie seien in der Mittagspause ihre übliche Runde gegangen. Sie seien rechts in die S. eingebogen und seien von einem Motorrad überholt worden, wobei das Vorderrad möglicherweise hochgezogen worden sei. Es sei dann außer Kontrolle geraten und links in einen Poller bzw. eine Baustelle gefahren und der Fahrer sei gestürzt. Ob das Vorderrad hochgezogen worden sei oder nur hochgegangen sei, könne sie nicht genau sagen. Ebenfalls könne sie nicht genau sagen, welche Distanz der Fahrer tatsächlich auf einem Rad zurückgelegt habe. Auf jeden Fall sei es so gewesen, dass der Fahrer nicht nur kurz das Vorderrad hochgezogen habe und gleich wieder runtergekommen sei. Sie sei der Meinung, dass das Motorrad zweimal hochgezogen worden sei. Es habe insgesamt nicht sicher ausgesehen. Sie sei der Meinung, dass es beim ersten Mal nur ganz kurz hochgezogen worden sei, so dass kaum Distanz zurückgelegt worden sei. Beim zweiten Mal sei dies schon länger gewesen. Die genaue Entfernung könne sie nicht sagen, aber keine wahnsinnige Entfernung. Vielleicht seien es 5-10 m gewesen. Auf die Frage nach der Geschwindigkeit hat die Zeugin erklärt, dass es sich vielleicht um die Geschwindigkeit von 50 km/h gehandelt habe, auf jeden Fall wohl nicht eine überhöhte Geschwindigkeit. Hinsichtlich der allgemeinen Verkehrslage sei die Straße leer gewesen. Die Wetterverhältnisse seien trocken gewesen. Es sei auf jeden Fall nicht nass gewesen, sie hätten keinen Schirm o. ä. dabei gehabt.

Der Zeuge B. hat ausgesagt, dass er nicht wisse, wie das Motorrad vor dem Unfall gefahren sei.

Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 4. September 2020 abgewiesen. Das Unfallereignis am 15. Mai 2018 sei nicht infolge der versicherten Tätigkeit des Klägers eingetreten. Die Handlungstendenz eines Versicherten, die darauf gerichtet sein müsse, die entsprechende versicherte Tätigkeit zu verrichten, sei ein subjektives Element, das anhand von objektiven Kriterien prüfbar und somit feststellbar sein müsse (objektivierte Handlungstendenz). Der sachliche Schutzbereich der gesetzlichen Unfallversicherung greife ein, wenn sich mit dem durch die versicherte Verrichtung mitverursachten tatbestandlichen Schaden eine Gefahr verwirklicht habe, gegen die der jeweils erfüllte Versicherungstatbestand schützen solle. Für Schäden, die außerhalb des Schutzzwecks der Norm lägen, müsse der jeweils zuständige Unfallversicherungsträger nicht einstehen. Diese Voraussetzung sei nicht erfüllt. Zwar habe der Kläger beim Sturzereignis am 15. Mai 2018 einen Unfall erlitten, als er mit seinem Motorrad auf dem Weg vom Büro die Kontrolle über das Motorrad verloren habe, gestürzt sei und sich hierbei durch das von außen einwirkende Aufschlagen auf der Straße unter anderem einen offenen Bruch am linken Unterschenkel zugezogen habe. Dieser Unfall sei jedoch kein Arbeitsunfall, denn das Ereignis sei nicht „infolge“ der versicherten Tätigkeit eingetreten.

Die Kammer stelle folgenden Sachverhalt fest und lege diesen der Entscheidung zu Grunde: Der Kläger sei am Unfalltag mit seinem Motorrad auf einem Betriebsweg von seinem Bauleiterbüro zu einer in der Nähe gelegenen Baustelle unterwegs gewesen. Auf der S. habe er zu einem Wheelie angesetzt, d.h. er habe absichtlich das Vorderrad hochgezogen, um auf dem Hinterrad zu fahren. Nach ca. 20-30 m nach dem Absetzen des Vorderrades sei er ins Schlingern gekommen und habe die Kontrolle über das Motorrad verloren. Daraus folge als rechtliche Wertung der Kammer, dass bei dieser gemischten Tätigkeit das riskante und insbesondere leichtsinnige bzw. unvernünftige Fahrverhalten des Klägers die allein rechtlich-wesentliche Ursache für das Erleiden des Unfallereignisses gewesen sei. Das Fahren eines Motorrads auf dem Hinterrad, ein Wheelie, stelle eine unversicherte konkurrierende Ursache dar, wobei die Beweggründe, insbesondere ein Imponiergehabe oder leichtsinniger Übermut usw. den ursächlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit soweit in den Hintergrund drängten, dass allein rechtlich-wesentlich diese eigenwirtschaftliche Motivation und nicht die versicherte Wirkursache dem Unfallgeschehen sein wesentliches Gepräge gegeben habe. Die versicherte Wegefortbewegung trete gänzlich in den Hintergrund. Bei der Zurücklegung eines Betriebsweges im öffentlichen Verkehrsraum seien die Wegegefahren die gleichen, die bei der Wegezurücklegung von und nach dem Ort der Tätigkeit nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII bestünden. Eine solche Wegegefahr habe sich vorliegend nicht realisiert. Die gesetzliche Unfallversicherung solle im Bereich der Wegeunfälle nicht gegen Gefahrenbereiche schützen, die sich aus eigenem Antrieb und aus einer Zurschaustellung leichtsinniger Verhaltensweisen ergäben und keinen sachlichen Bezug hinsichtlich der versicherten Tätigkeit aufwiesen.

Die Kammer gehe auch nicht von einem unbewussten Fahrfehler im Sinne eines falschen Schaltvorganges aus. Ein solcher „Fahrfehler“ als Wegegefahr habe nicht positiv festgestellt werden können. Nach den Zeugenaussagen und dem Bericht der Polizei sei der Kläger über ca. 20-30 m bzw. „einige Zeit auf dem Hinterrad“ seines Motorrades gefahren. Die Kammer werte die Ausführungen des Klägers, es habe sich um einen Schaltfehler gehandelt, als Schutzbehauptung. Würde ein bloßer Schaltfehler vorliegen, wäre die Zurücklegung einer Strecke von ca. 20-30 m auf dem Hinterrad nicht möglich. Ein solches Fahrverhalten auf dem Hinterrad über eine Distanz von ca. 20 m sei nur möglich, wenn ein Wheelie (relativ) kontrolliert stattfinde. Dieser erfordere entsprechende fahrerische Fähigkeiten und ein sehr kontrolliertes Spiel zwischen Fußbremse, Kupplung und Gas. Auch ein Verschalten in einen niedrigeren Gang sei kaum vorstellbar, denn zum einen hätte die „Motorbremse“ das Motorrad negativ beschleunigt. Zum anderen hätte bei einem Fahrfehler der Kläger sofort die Kupplung gezogen oder der Fahrer hätte das „Gas“ losgelassen. Eine Distanz von erheblicher Länge, selbst 5-10 m, auf dem Hinterrad spreche bereits nach dem Beweis des ersten Anscheins dafür, dass der Wheelie des Klägers bewusst und gewollt ausgeführt worden sei.

Eine Zurechnung als „versicherte Tätigkeit“ folge auch nicht aus § 7 Abs. 2 SGB VII. Danach schließe verbotswidriges Handeln einen Versicherungsfall nicht aus. Zwar habe der Kläger mit seinem grob vernunftwidrigen bzw. leichtfertigen Verhalten (wohl) auch ein „verbotenes“ Verhalten im Sinne des Strafgesetzbuchs (StGB) bzw. eine Ordnungswidrigkeit begangen, das strafrechtliche Konsequenzen haben könnte. Ob insoweit ein strafrechtlich relevantes bzw. verbotswidriges Handeln vorliegt, könne die Kammer dahingestellt lassen, denn § 7 Abs. 2 SGB VII sei nicht einschlägig. Die Regelung setze nach allgemeiner Auffassung voraus, dass das konkrete „verbotswidrige Handeln“ überhaupt eine versicherte Tätigkeit darstelle. Dies sei vorliegend aber nicht der Fall. Der Kläger habe mit seinem leichtsinnigen und übermütigen Fahrverhalten keine in Bezug auf die versicherte Wegezurücklegung bestimmte Handlung ausführen wollen, wie dies z. B. bei einem riskanten Überholmanöver der Fall sein könne, wenn ein Versicherter „schneller“ zur Arbeit fahren möchte. In einem solchen Fall könne die Motivation immer noch davon geprägt sein, die versicherte Tätigkeit der schnelleren Wegezurücklegung „wesentlich“ zu verrichten. Ein Imponiergehabe stelle keine „versicherte Tätigkeit“ dar, auch nicht im Sinne eines „verkehrswidrigen Verhaltens“, das noch unter den Schutzbereich der Wegeunfallversicherung fallen könne. Dieses rein eigenwirtschaftliche Verhalten habe mit der Wegezurücklegung und dem Schutzzweck der gesetzlichen Unfallversicherung nichts zu tun und eröffne vielmehr einen versicherungsfremden Gefahrenbereich, der allein mit dem Zurücklegen des Weges mit einem Motorrad nicht gegeben gewesen sei und damit vom Schutzzweck der Unfallversicherung nicht erfasst sei.

Der Kläger hat gegen das ihm am 8. September 2020 zugestellte Urteil am 24. September 2020 Berufung eingelegt. Ein Wheelie sei beim Motorradfahren ein Fahrzeugmanöver, bei dem das Vorderrad sich vom Boden löse, weil auf das Hinterrad ein ausreichendes Drehmoment ausgeübt werde und der Fahrer sich relativ zum Fahrzeug bewege. Um einen Wheelie zu fahren, benötige man normalerweise eine Anfahrtsgeschwindigkeit von 30 bis 50 km/h, die idealerweise im ersten Gang zurückgelegt werde. Danach sei zunächst der Oberkörper nach vorn zu beugen und Gas wegzunehmen, damit die vordere Gabel einfedere, um dann gefühlvoll Gas zu geben. In den Fällen, in denen der Kläger bewusst einen Wheelie hätte fahren wollen, hätten die Zeugen zunächst hören müssen, dass bei dem Motorrad Gas weggenommen worden wäre. Da das Motorrad ein lautes Fahrgeräusch habe, hätten die Zeugen dieses zwingend hören müssen. Das Fehlen dieses Geräusches lasse jedoch mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit erkennen, dass der Sprung eines Motorrades auf das Hinterrad durch einen Fahrfehler verursacht worden sei. Es sei auch eine falsche Annahme des Sozialgerichts, dass bei einem Schaltfehler die Zurücklegung einer Strecke von 20-30 m auf dem Hinterrad nicht möglich wäre. So sei nach einem Schaltfehler durchaus noch der Versuch möglich, die hierdurch entstandene gefährliche Situation auszugleichen. Das sei dem Kläger jedoch nicht gelungen. Für einen Schaltfehler spreche auch der leichte Richtungswechsel, den die Zeugin N1 bestätige. Der Kläger sei kein Mensch, der aus Freude an seinem Motorrad waghalsige akrobatische Dinge unternehme. Vielmehr sei er ein zurückhaltender Fahrer, der sich seiner Ungeübtheit bewusst gewesen sei. Der Kläger habe keine Übung im Motorradfahren gehabt. Zum anderen sei das Unfallgeschehen nach Wiederanmeldung des Motorrades im Frühling zu einem Zeitpunkt erfolgt, als der Kläger gerade ca. 200 km auf dem Motorrad zurückgelegt gehabt habe.

Der Kläger beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 4. September 2020 und den Bescheid vom 2. August 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheids 23. Januar 2019 aufzuheben und festzustellen, dass der Unfall des Klägers am 15. Mai 2018 ein Arbeitsunfall ist.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte verweist auf das erstinstanzliche Urteil. Der Kläger habe sich durch seine Fahrweise, konkret durch das längere Fahren auf dem Hinterrad, von der grundsätzlich versicherten Tätigkeit dem Zurücklegen des versicherten Weges gelöst.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Prozessakte, die Verwaltungsakte sowie die Sitzungsniederschrift vom 4. Mai 2022 ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die statthafte (§§ 143, 144 SGG) und auch im Übrigen zulässige, insbesondere form- und fristgerecht eingelegte (§ 151 SGG) Berufung ist begründet. Die angefochtenen Bescheide sind rechtswidrig. Der Kläger hat am 15. Mai 2018 einen Arbeitsunfall erlitten.

Nach § 8 Abs. 1 SGB VII sind Arbeitsunfälle Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit; Satz 1). Unfälle sind zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen (Satz 2). Die Verrichtung des Versicherten unmittelbar vor dem Unfallereignis muss den gesetzlichen Tatbestand einer versicherten Tätigkeit erfüllt haben. Nur dies begründet die Versichertenstellung und seinen Versicherungsschutz aus der jeweiligen Versicherung (BSG, Urteil vom 24. Juli 2012 – B 2 U 9/11 R BSG, SozR 4-2700 § 8 Nr. 44). Die versicherte Tätigkeit muss ein zeitlich begrenztes, von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis, eine Einwirkung, objektiv und rechtlich wesentlich verursacht haben (Unfallkausalität). Diese Einwirkung wiederum muss den Gesundheitserstschaden oder den Tod des Versicherten objektiv und rechtlich wesentlich verursacht haben (haftungsbegründende Kausalität).

Der Kläger befand sich zum Zeitpunkt des Unfalls auf einem grundsätzlich in der gesetzlichen Unfallversicherung versicherten Betriebsweg, als er sich auf direktem Weg vom Büro in Richtung Baustelle bewegte. Nach der Rechtsprechung des BSG zur Wegeunfallversicherung muss auch die Verrichtung zur Zeit des Unfallereignisses in einem sachlichen Zusammenhang mit dem versicherten Zurücklegen des Weges stehen (BSG, Urteil vom 12. Dezember 2015 – B 2 U 8/14 R, juris). Ein solcher sachlicher Zusammenhang bestehe, wenn das konkrete Handeln des Versicherten zur Fortbewegung auf dem Weg zur oder von der versicherten Tätigkeit gehöre. Entscheidend sei die Handlungstendenz des Versicherten. Das Handeln müsse subjektiv – zumindest auch – auf die Erfüllung des Tatbestands der jeweiligen Tätigkeit ausgerichtet sein. Darüber hinaus müsse sich die subjektive Handlungstendenz als festzustellende Tatsache im äußeren Verhalten des Handelnden, so wie es objektiv beobachtbar ist, widerspiegeln. Gleiches muss auch für Betriebswege gelten. Der Kläger hat sich zum Zeitpunkt des Unfalls mit dem Motorrad in Richtung auf die von ihm betreute Baustelle fortbewegt. Die Handlungstendenz des Versicherten, sich auf die Baustelle zuzubewegen, war objektiv von außen zu beobachten, so dass ein sachlicher Zusammenhang mit der Verrichtung im Zeitpunkt des Unfallereignisses gegeben war. Dies ist zwischen den Beteiligten unstreitig.

Nach der Rechtsprechung des BSG ist der Unfall aber nur dann der versicherten Tätigkeit zurechenbar, wenn sie in den Schutzbereich der gesetzlichen Unfallversicherung fällt (vgl. zur Wegeunfallversicherung BSG, a.a.O.). Die Zurechnung des Schadens eines Versicherten zum Versicherungsträger erfordere zweistufig die Erfüllung erstens tatsächlicher und zweitens darauf aufbauender rechtlicher Voraussetzungen. Die Verrichtung der versicherten Tätigkeit müsse die Einwirkung und in gleicher Weise müsse die Einwirkung den Gesundheitserstschaden oder den Tod sowohl objektiv (1. Stufe) als auch rechtlich wesentlich (2. Stufe) verursacht haben. Die Fortbewegung auf dem Motorrad hat den Gesundheitsschaden objektiv auf der ersten Stufe verursacht.

Weiter muss auf der zweiten Stufe die Einwirkung rechtlich unter Würdigung auch aller auf der ersten Stufe festgestellten weiteren mitwirkenden unversicherten Ursachen die Realisierung einer in den Schutzbereich des jeweils erfüllten Versicherungstatbestandes fallenden Gefahr sein (BSG a.a.O.). Der Senat sieht es als nicht erwiesen an, dass es eine weitere Mitursache gegeben hat. Eine solche weitere Mitursache könnte – wie vom Sozialgericht angenommen – ein sogenannter Wheelie sein. Bei einem Wheelie handelt es sich um ein riskantes Fahrmanöver, bei dem absichtlich allein auf dem Hinterrad gefahren wird. Das Fahren auf dem Hinterrad kann sowohl versehentlich als auch absichtlich herbeigeführt werden. Die Zeugenaussagen sind unergiebig im Hinblick darauf, ob der Kläger absichtlich einen Wheelie gefahren ist. Bis auf die Zeugin N1 hat noch keiner der Zeugen zum Zeitpunkt des Abhebens des Vorderrades den Kläger beobachtet. Ob es sich um ein absichtliches Hochziehen des Vorderrades gehandelt hat, konnte auch die Zeugin N1 nicht feststellen. Sie ist die einzige Zeugin, die nach ihrer Aussage ein zweimaliges Hochgehen des Vorderrades beobachtet hat. Die Zeugin K1, die sich mit der Zeugin N1 auf gleicher Höhe befunden hat, konnte dies jedoch nicht beobachten. Auch hinsichtlich der zurückgelegten Entfernung auf dem Hinterrad unterscheiden sich die Zeugenaussagen sowohl untereinander als auch im Vergleich zu den Angaben im Widerspruchsverfahren deutlich. Der vom Polizeibeamten niedergelegte Unfallhergang wiederum beruht allein auf den Aussagen der Zeugen, die auch im Widerspruchs- und Sozialgerichtsverfahren gehört worden sind. Der zusammenfassenden Darstellung kommt daher für sich genommen kein weiterer Beweiswert zu. Die Angaben im Durchgangsarztbericht lassen offen, ob das Vorderrad absichtlich oder versehentlich hochgezogen worden ist.

Aufgrund der sehr unterschiedlichen Angaben zur Länge des Fahrens auf dem Hinterrad, vermag der Senat hieraus auch keinen Rückschluss darauf zu ziehen, dass es sich um einen absichtlichen Wheelie gehandelt hat. Andererseits sieht es der Senat auch nicht als erwiesen an, dass der Kläger keinen Wheelie gefahren ist. Denn auch ein Fahrfehler konnte von den Zeugen nicht beobachtet werden. Eine erneute Zeugenvernehmung war nicht erforderlich, da der Senat nicht an der Glaubwürdigkeit der Zeugen zweifelt. Vielmehr ist der entscheidende Moment von ihnen nicht beobachtet worden. Zudem dürfte es aufgrund der immer länger zurückliegenden Zeit eher schwierig sein, sich an alle Einzelheiten, wie zum Beispiel die auf dem Hinterrad zurückgelegte Distanz, zu erinnern. Die bloße Möglichkeit einer Mitursache ist nicht ausreichend, sondern sie muss erwiesen sein. Die Beweislast geht hier nach den allgemeinen Regeln zu Lasten der Beklagten, da für sie das Vorliegen einer Mitursache günstig wäre.

Es ist weiter zu prüfen, ob die alleinige Ursache der Fortbewegung auf dem Motorrad zur Baustelle rechtlich wesentlich gewesen ist. Denn auch wenn nur eine Ursache feststellbar ist, wird die Einstandspflicht des Unfallversicherungsträgers nach der Rechtsprechung des BSG nur begründet, wenn sich durch den Unfall, der durch die versicherte Verrichtung objektiv verursacht wurde, eine Gefahr verwirklicht hat, gegen die die Versicherung schützen soll (BSG, a.a.O.). Diese Voraussetzung werde zumeist erfüllt sein, bedürfe aber stets der Entscheidung (BSG, a.a.O.). Bei Betriebswegen schützt die Unfallversicherung wie bei der Wegeunfallversicherung vor Gefahren für Gesundheit und Leben, die aus der Teilnahme am öffentlichen Verkehr als Fußgänger oder Benutzer eines Verkehrsmittels, also aus eigenem oder fremdem Verkehrsverhalten oder äußeren Einflüssen während der Zurücklegung des Weges hervorgehen. Vorliegend war das Verkehrsverhalten des Klägers, ob nun aufgrund eines Fahrfehlers oder unverschuldet, Ursache für den Sturz mit dem Motorrad. Davor soll die Unfallversicherung schützen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ausgang des Rechtsstreits.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 SGG liegen nicht vor.

 

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