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Unfallversicherung – Verletztengeldzahlung

Unfallunabhängige/unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit

Landessozialgericht Hamburg – Az.: L 2 U 26/18 – Urteil vom 04.12.2019

1. Die Berufung wird zurückgewiesen.

2. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

3. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Verletztengeld und -rente aufgrund eines Arbeitsunfalles vom 14. November 2013.

Der am … Mai 1946 geborene Kläger arbeitete seit ca. 1986 als bei der Beklagten freiwillig gesetzlich unfallversicherter selbstständiger Taxifahrer. Seit dem 1. Juni 2011 erhält der Kläger eine Altersrente von der DRV und war zunächst weiterhin als selbstständiger Taxifahrer in Hamburg tätig. Am 14. November 2013 erlitt der Kläger bei seiner Tätigkeit einen Unfall, als ein hinter ihm stehendes Taxifahrzeug losrollte und sein linkes Bein zwischen seinem Taxi und dem anfahrenden Taxi eingeklemmt wurde und er auf die Motorhaube aufschlug. Hierbei zog er sich eine Unterschenkelschaftfraktur links mit zweitgradigem Weichteilschaden, die operativ mit einem entsprechenden Nagel versorgt wurde, eine Contusio bulbi links sowie eine Schürfwunde an der linken Augenbraue zu.

Das Berufsgenossenschaftliche Unfallkrankenhaus erstattete am 25. April 2014 einen neurologischen Befundbericht. Es habe sich kein Anhalt für eine umschriebene, durch eine Läsion von peripheren Nerven hervorgerufene Lähmung gefunden. Die Verschmächtigung der gesamten Muskulatur und damit im Seitenvergleich insgesamt verminderten Kraft an der linken unteren Extremität sei im Rahmen einer verminderten Verwendung des linken Beines auf Grund der Unfallfolgen auf unfallchirurgischem Fachgebiet zu werten. Die geschilderte Minderung der Sensibilität, welche am gesamten linken Bein bei Berührung angegeben werde, sei nicht objektivierbar auf das Versorgungsgebiet einzelner peripherer Nerven eingrenzbar.

Unter dem 1. August 2014 teilte der behandelnde Facharzt für Chirurgie und Unfallchirurgie Dr. D. der Beklagten mit, dass sich der Kläger mit freier Beweglichkeit im Bereich beider Kniegelenke und Sprunggelenke vorgestellt habe. So sei die Beweglichkeit beidseits bei 0-0-130° (Streckung-Beugung) im Bereich der Kniegelenke sowie 20-0-40° beidseits für die dorsal-plantare Flexion 3/3 im oberen Sprunggelenk beidseits gegeben. Die Sensomotorik und Perfusion seien ohne Befund. Das Bein sei schlank und es liege kein Druckschmerz mehr im alten Frakturspalt vor. Der Kläger klage noch über Beschwerden, die nach seiner Auffassung eine Aufnahme der Arbeitstätigkeit ab dem 1. August 2014 nicht ermöglichen würden. Nach der Einschätzung von Dr. D. werde eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) im rentenberechtigenden Ausmaße nicht verbleiben. Am 13. August 2014 berichtete Dr. D. von der Untersuchung des Klägers am Vortag und teilte der Beklagten mit, der Kläger habe über Schmerzen berichtet und spanne bei der Bewegungsüberprüfung demonstrativ gegen. Der Kläger sei weiterhin arbeitsfähig.

Am 14. August 2014 stellte sich der Kläger erstmals beim Facharzt für Neurologie, Schlafmedizin, Psychotherapie und Psychiatrie Dr. E. vor, der mit Befundbericht vom 22. August 2014 mitteilte, dass Arbeitsunfähigkeit unter der Diagnose einer mittelgradigen depressiven Episode und einer posttraumatischen Belastungsstörung bestehe. Der Kläger habe berichtet, dass er unter einer diffusen Schlafstörung leide und am 26. August 2014 in … untersucht werden solle. Daher seien seine Ängste und Unsicherheit mehr geworden.

Am 27. August 2014 erstellten Prof. Dr. J., Dr. G. und Dr. S. das Erste Rentengutachten auf orthopädisch/chirurgischem Fachgebiet. Es lägen eine unter geringer Valgusstellung knöchern verheilte Unterschenkelschaftfraktur links mit einliegendem Schienbein-Marknagel, eine mäßiggradige Bewegungseinschränkung des Knie- und Sprunggelenkes links sowie eine Muskelminderung des linken Beines vor. Aus unfallchirurgischer Sicht könne der Kläger wieder als Taxifahrer arbeiten. Die MdE wurde vom 27. August 2014 bis 31. Dezember 2014 mit 10 v. H. eingeschätzt, danach liege sie unter 10 v. H.

Dr. D. teilte am 23. Oktober 2014 mit, dass er am Vortag bei dem Kläger die Schraube entfernt habe. Ab diesem Tag sei der Kläger erneut arbeitsunfähig. Der Kläger habe aber berichtet, dass der Neurologe ihn bereits arbeitsunfähig geschrieben habe.

Unter dem 12. November 2014 fertigte der Facharzt für Augenheilkunde Dr. Bw. ein augenärztliches Zusatzgutachten. Der Kläger habe als Folge eines Arbeitsunfalles linksseitig eine Unterschenkelfraktur und eine Schädelprellung erlitten. Auf augenärztlichem Fachgebiet seien eine Orbitaprellung und ein Hyposphagma des linken Auges diagnostiziert worden. Diese seien folgenlos verheilt. Eine darüberhinausgehende Schädigung der Augen habe nicht bestätigt werden können und könne auch bei der gutachterlichen Untersuchung nicht gefunden werden. Die Defekte der Netzhaut seien auf dem rechten Auge infolge einer milden altersabhängigen Makuladegeneration entstanden. Links liege ein Zustand nach einer peripheren Chlorioretinitis, möglicherweise auf dem Boden einer okulären Toxoplasmose, vor. Unfallfolgen auf augenärztlichem Fachgebiet könnten nicht benannt werden, die MdE sei mit unter 10 v. H. einzuschätzen.

Am 6. November 2014 fertigte der Facharzt für Neurologie Dr. Go. ein nervenärztliches Zusatzgutachten und führte aus, unfallbedingte neurologische Ausfallerscheinungen könnten beim Kläger nicht festgestellt werden. Die vom Kläger geklagten Belastungsinsuffizienz und Schmerzen seien nicht auf eine Nervenschädigung zurückzuführen. Eine eigenständige psychische Diagnose aufgrund von Unfallfolgen könne nicht benannt werden. Eine messbare MdE auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet sei nicht festzustellen. Die im Vorfeld gestellte Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung sei nicht nachvollziehbar, weil weder das Unfallereignis nach objektiven Kriterien geeignet erscheine, ein solche psychoreaktive Störung hervorzurufen, noch fänden sich Hinweise für eine durch das Unfallereignis hervorgerufene primäre psychische Traumatisierung.

Am 10. Dezember 2014 nahmen die Chirurgen Dr. G. und Dr. S. zur Gesamtminderung der Erwerbsfähigkeit nach Vorlage der Zusatzgutachten in der Weise Stellung, dass diese bis zum 31. Januar 2014 mit 10 v. H. und danach mit unter 10 v. H. anzunehmen sei.

Mit Bescheid vom 14. Januar 2014 lehnte die Beklagte die Gewährung einer Rente ab. Die Erwerbsfähigkeit sei nicht um wenigstens 20 v. H. gemindert. Als Folgen des Arbeitsunfalls lägen eine Bewegungseinschränkung des linken Knie- und Sprunggelenkes sowie eine Muskelminderung des linken Beines vor. Unabhängig vom Arbeitsunfall lägen eine Weitsichtigkeit, Stabsichtigkeit und Altersweitsichtigkeit beidseitig, eine Schwachsichtigkeit des rechten Auges, ein Siccasyndrom beidseitig, eine vorhandene Hinterkammerkunstlinse im rechten Auge mit Makuladegeneration, ein grauer Star links, eine periphere Netzhautvernarbung links bei Zustand nach einer Entzündung der Netzhaut sowie eine leichte Hörminderung vor.

Am 13. April 2015 und 1. Juni 2015 gab Dr. Go. an, dass zum Zeitpunkt seiner Untersuchung am 16. Oktober 2014 keine gesundheitlichen Beeinträchtigungen von Krankheitswert vorgelegen hätten. Allerdings sei im Bericht von Dr. E. vom 22. August 2014 über vorübergehende psychische Beeinträchtigungen in Form einer depressiven Störung und einer ebenfalls vorübergehenden Sensibilitätsstörung im Versorgungsgebiet des Nervus peronaeus berichtet worden, die eine unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit vom 14. August 2014 bis zum 19. September 2014 begründen würden.

Mit Bescheid vom 24. Juni 2015 lehnte die Beklagte Entschädigungsleistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung aufgrund der Gesundheitsbeschwerden bzw. Erkrankungen auf neurologisch-psychiatrischem Gebiet ab dem 1. August 2014 ab. Zur Begründung führte die Beklagte aus, dass eine unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit aufgrund des Unterschenkelschaftbruches bis zum 31. Juli 2014 gegeben sei. Am 14. August 2014 habe sich der Kläger aufgrund psychischer Beschwerdesymptomatik bei Dr. E. vorgestellt. Als Diagnose sei eine posttraumatische Belastungsstörung sowie eine depressive Episode beschrieben worden. Nach dem Gutachten von Dr. Go. vom 6. November 2014 seien auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet keine Unfallfolgen festzustellen.

Mit Schriftsatz vom 24. Juli 2015 legte der Kläger gegen den Bescheid vom 24. Juni 2015 Widerspruch ein. Er reichte einen ärztlichen Bericht vom 6. August 2015 von Dr. E. ein. Dieser berichtete, dass der Kläger an einer posttraumatischen Belastungsstörung und an einer mittelgradigen depressiven Episode leide. Die Beschwerden und Gesundheitsstörungen des Klägers auf neurologisch-psychiatrischem Gebiete seien als Folge des Unfalles anzusehen. Vorher sei der Kläger weder ängstlich noch depressiv oder traumatisiert gewesen.

Mit Widerspruchsbescheid vom 31. August 2015 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers gegen den Bescheid vom 24. Juni 2015 zurück und führte aus, dass Leistungen auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet für die Zeit ab 1. August 2014 abgelehnt würden. Nach den eingeholten Gutachten bestehe kein Zusammenhang zwischen dem Arbeitsunfall und den psychischen Störungen beim Kläger. Seit dem 1. August 2014 bestehe Arbeitsfähigkeit auf unfallchirurgischem Fachgebiet. Dies ergebe sich aus den Behandlungsberichten von Dr. D..

Hiergegen hat der Kläger am 2. Oktober 2015 Klage erhoben (S 40 U 243/15). Zur Begründung hat er ausgeführt, er leide weiterhin unter unfallbedingten Störungen, insbesondere auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet.

Prof. Dr. L. vom … hat im Befundbericht vom 10. Juni 2016 an die Beklagte mitgeteilt, dass sich bei dem Kläger unverändert ein relativ komplexes Schmerzbild zeige, das schon eher einem posttraumatischen Schmerzsyndrom entspreche. Der Patient zeige auch in unbeobachteten Momenten nach dem Aufstehen aus dem Sitzen eine deutliche Gangunsicherheit mit anscheinenden Einlaufbeschwerden. Er setze seinen Gehstock regulär zur Entlastung des linken Beines ein.

Seit August 2016 hat sich der Kläger in Behandlung im Zentrum für Schmerzmedizin bei Dr. Sö. befunden. Dr. Sö. hat im Befundbericht an die Beklagte vom 21. Oktober 2016 mitgeteilt, dass eine chronische Schmerzkrankheit mit somatischen und psychischen Faktoren vorliege. Es bestehe ein neuropathischer Schmerz und ein tendomyotisches Schmerzsyndrom, wobei eine psychosoziale Verstärkung mit Insomnie hinzukomme.

Nach Anhörung des Klägers hat die Beklagte mit Bescheid vom 29. November 2016 die Verletztengeldzahlung aufgrund der chirurgischen Wiedererkrankung nach Marknagelentfernung mit Ablauf des 29. November 2016 eingestellt und zur Begründung ausgeführt, dass nach den vorliegenden Unterlagen mit dem Eintritt der Arbeitsfähigkeit beim Kläger nicht zu rechnen sei. Qualifizierte Maßnahmen, die einen Anspruch auf Übergangsgeld auslösen könnten, seien nicht zu erbringen. Das Verletztengeld ende daher nach § 46 Abs. 3 des Siebten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VII) mit Ablauf der 78. Woche nach Beginn der Arbeitsunfähigkeit.

Am 7. Januar 2017 haben Prof. Dr. J., Dr. G. und Dr. B. ein Zweites Rentengutachten gefertigt und sind zu dem Ergebnis gekommen, dass die MdE beim Kläger ab dem Tag der Untersuchung und auch ab dem 30. November 2016 mit 10 v. H. einzuschätzen sei. Am 13. Februar 2017 hat Dr. Go. auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet ausgeführt, dass beim Kläger aufgrund einer Hautnervenschädigung mit Sensibilitätsstörungen in Höhe des linken Sprunggelenkes und der Innenseite des linken Fußes ein chronisches Schmerzsyndrom bestehe, welches auch den Einsatz von Schmerzmitteln und einer speziellen Schmerztherapie erforderlich machen würde. Als Unfallfolgen könnten eine Sensibilitätsminderung am Innenknöchel und inneren Fußrand links sowie ein chronisches neurogen bedingtes Schmerzsyndrom festgestellt werden. Die MdE sei mit 10 v. H. einzuschätzen. Die auf das Unfallereignis zurückzuführenden Schmerzen gingen mittlerweile über die üblichen Schmerzen hinaus. Es seien Überschneidungen mit dem unfallchirurgischem Fachgebiet festzustellen. Am 6. März 2017 haben Prof. Dr. J., Dr. G. und Dr. B. mitgeteilt, dass die Gesamt-MdE 10 v. H. betrage, weil die auf neurologischem und unfallchirurgischem Fachgebiet beurteilten Unfallfolgen sich überschnitten.

Mit Bescheid vom 26. April 2017 hat die Beklagte die Gewährung einer Verletztenrente mit der Begründung abgelehnt, dass nach den eingeholten Gutachten keine rentenberechtigende MdE vorliege. Als Folgen des Arbeitsunfalles wurden eine Bewegungseinschränkung des linken Kniegelenkes, eine Muskelminderung des linken Ober- und Unterschenkels, ein herabgesetzter Kalksalzgehalt des linken Unterschenkels, eine Sensibilitätsstörung am Innenknöchel und am inneren Fußrand links sowie ein chronisches und neurogenes Schmerzsyndrom anerkannt.

Mit Schreiben vom 2. Juni 2017 hat der Kläger gegen den Bescheid vom 26. April 2017 Widerspruch eingelegt, den er nicht begründet hat.

Dr. E. hat am 8. Juni 2017 über die fünf probatorischen psychotherapeutischen Sitzungen des Klägers bei ihm berichtet. Er hat den Verdacht einer posttraumatischen Belastungsstörung geäußert sowie die Diagnosen einer Insomnie sowie einer Angst- und depressiven Störung gestellt.

Mit Widerspruchsbescheid vom 21. Dezember 2017, zugestellt am 27. Dezember 2017, hat die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurückgewiesen. Nach den eingeholten Gutachten ergebe sich in der Gesamtschau, dass die MdE mit unter 20 v. H. zu bewerten sei und somit nicht im rentenberechtigenden Grade liege.

Am Montag, den 29. Januar 2018 hat der Kläger auch hiergegen Klage (S 40 U 29/18) erhoben, die er nicht begründet hat.

Das Sozialgericht hat Befundberichte von Dr. E. vom 30. November 2017, der Klinik …, dem Facharzt für Chirurgie und Unfallchirurgie Dr. D. vom 4. Dezember 2017, dem Facharzt für Chirurgie und Unfallchirurgie Dr. Bk. vom 19. November 2017, dem Arzt für Allgemeinmedizin und Anästhesiologie und spezielle Schmerztherapie Dr. Sö. vom 8. Dezember 2017, dem Chirurgen Sm. vom 30. Dezember 2017, dem Reha-Zentrum … vom 11. November 2015, der Klinik am Kurpark … und dem Facharzt für Chirurgie, Unfallchirurgie und Orthopädie Dr. Fs. vom 22. Januar 2018 eingeholt.

Das Gericht hat ferner Beweis erhoben durch Einholung eines nervenfachärztlichen Gutachtens von Dr. Fb. vom 23. April 2018. Gesundheitsstörungen auf nervenärztlichem Fachgebiet seien nicht festzustellen. Für die Vergangenheit sei von Dr. E. eine Depression angenommen worden. Es sei insoweit nicht ausgeschlossen, dass eine depressive Anpassungsstörung bei anhaltenden Belastungsfaktoren zeitweise bestanden und der Behandlung bedurft habe. Eine mittelschwere depressive Episode oder posttraumatische Belastungsstörung seien hingegen nicht belegt. Ein Unfallzusammenhang der Störung bestehe nicht, zumal sich ein neurologisches und/oder psychiatrisches Störungsbild nicht habe sichern lassen. Auf nervenärztlichem Fachgebiet habe ein Arbeitsunfähigkeit verursachendes Beschwerdebild nicht bestanden. Im testpsychologischen Zusatzgutachten sei ausgeführt worden, dass aufgrund der unplausiblen Punkte im Testprofil testpsychologisch keine sichere Aussage über eine eingeschränkte kognitive Leistungsfähigkeit gemacht werden könne. Dies bedeute nicht, dass solche Defizite unter bestimmten Bedingungen nicht trotzdem angenommen bzw. vom Kläger so wahrgenommen werden könnten. Der Kläger sei im Rahmen des Unfalls von dem Fahrer eines hinter seinem Taxi haltenden anderen Taxis angefahren worden und habe sich dabei eine Unterschenkelfraktur zugezogen. Dieser Vorgang sei nicht geeignet, bei dem bis dahin seelisch gesunden Mann einen seelischen Erstschaden zu setzen, entsprechend sei die Entwicklung einer Traumafolgenstörung von vornherein ausgeschlossen gewesen. Die körperlichen Unfallfolgen seien komplikationslos in regelhafter Zeit ausgeheilt. Das Material sei komplikationslos entfernt worden. Hieraus lasse sich keine seelische Störung begründen. Die Unfallfolgen hätten auch keinen seelisch labilen Menschen getroffen, der mehr als andere dazu prädisponiert gewesen sei, bei einer auch geringen körperlichen Verletzungsfolge eine psychogene Symptomatik zu entwickeln. Denn der Betroffene sei nach seinen Angaben vor dem Unfall seelisch nie krank gewesen. Dr. Go. sei in seinem Gutachten vom 13. Februar 2017 dann von einem chronischen Schmerzsyndrom ausgegangen. Diese Einschätzung sei im vorliegenden Gerichtsverfahren zu recht nicht berücksichtigt worden. Denn auf nervenfachärztlichem Fachgebiet liege eine messbare MdE nach wie vor nicht vor.

Mit Beschluss vom 15. Juni 2018 hat das Gericht im Termin zur mündlichen Verhandlung und Beweisaufnahme die Klagen zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden. Das Sozialgericht hat die Klagen nach Anhörung des Sachverständigen im Termin am 15. Juni 2018 abgewiesen. Der Kläger habe weder einen Anspruch auf die Gewährung von Verletztengeld im Zeitraum vom 10. September 2014 bis 2. Juni 2015 noch Anspruch auf die Gewährung einer Verletztenrente aufgrund des Unfallereignisses vom 14. November 2013. Es lasse sich nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit feststellen, dass der Arbeitsunfall im Zeitraum vom 10. September 2014 bis 2. Juni 2015 Unfallfolgen verursacht habe, die Arbeitsunfähigkeit auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet begründeten oder die Erwerbsfähigkeit in rentenberechtigendem Maße minderten. Zwar sei er in diesem Zeitraum von Dr. E. unter den Diagnosen einer posttraumatischen Belastungsstörung und einer mittelgradigen depressiven Episode behandelt und für arbeitsunfähig gehalten worden. Dieses stehe aber nicht in einem ursächlichen Zusammenhang mit dem Arbeitsunfall. Zutreffend weise Dr. Fb. darauf hin, dass eine unfallbedingte psychiatrische Diagnose nach den Diagnosemanualen (ICD-10 oder DSM-5) nicht vorgelegen habe. Insbesondere liege keine posttraumatische Belastungsstörung vor, wie sie der behandelnde Arzt Dr. E. ohne eine konkrete Befunderhebung oder -beschreibung anhand der Diagnosemanuale ICD-10 oder DSM-5 als aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand geäußert habe. Es mangele auch bereits an einem seelischen Gesundheitserstschaden, der den Traumaprozess in Gang gesetzt haben könnte, wie auch an den „A-Kriterien“, denn es habe kein lebensbedrohendes, katastrophales Unfallereignis vorgelegen. Psychische Auffälligkeiten im Zusammenhang mit dem Unfallereignis seien zeitnah zu diesem weder dokumentiert noch in anderer Form nachgewiesen. Eine psychogene Störung sei weder im Unfallzusammenhang – zeitnah – behandelt noch ärztlich festgestellt. Damit mangele es insgesamt an einem nachgewiesenen seelischen Gesundheitserstschaden, so dass eine posttraumatische Belastungsstörung bereits definitionsgemäß nach den anzuwendenden Diagnosemanualen (ICD-10 oder DSM-5) und den Kriterien eines Arbeitsunfalles im Sinne des § 8 Abs. 1 SGB VII nicht vorliege. Die Unfallfolgen, die die Beklagte festgestellt habe, begründeten auch keine MdE von 20 v. H.

Gegen dieses dem Bevollmächtigten des Klägers am 28. Juni 2018 zugestellte Urteil hat dieser am 23. Juli 2018 Berufung eingelegt. Die Berufung ist nicht begründet worden, sondern es sind lediglich im Hinblick auf eine noch einzuholende ärztliche Stellungnahme wiederholt Fristverlängerungsanträge gestellt worden.

Der Kläger beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 15. Juni 2018 und den Bescheid vom 24. Juni 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 31. August 2015 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger im Zeitraum vom 20. September 2014 bis zum 2. Mai 2015 Verletztengeld aufgrund der unfallbedingten neurologisch/psychiatrischen Erkrankungen zu gewähren sowie den Bescheid vom 26. April 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21. Dezember 2017 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger eine Verletztenrente aufgrund des Unfallereignisses vom 14. November 2013 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

In der mündlichen Verhandlung hat der Kläger erstmals einen vorläufigen Arztbrief der Asklepios Klinik Nord über einen stationären Aufenthalt vom 28. März bis 15. Mai 2019 vorgelegt. Dort wurde neben einer rezidivierenden depressiven Störung auch ein chronisches Schmerzsyndrom angegeben. Als Beschwerden hat der Kläger dort Schmerzen in beiden Beinen angegeben. Des Weiteren hat der Kläger einen Befundbericht der … vom 18. Oktober 2019 eingereicht. Auch in diesem Bericht wird von einem chronischen Schmerzsyndrom ausgegangen, wobei sich ein Normalbefund der untersuchten motorischen Nerven ergeben hatte. Eine Seitendifferenz hinsichtlich der unfallgeschädigten Seite habe nicht vorgelegen. Im betreuungsrechtlichen psychiatrischen Gutachten vom 6. Februar 2018 ist die Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. C. von einer schweren depressiven Episode beim Kläger ausgegangen. Eine Prüfung der Kausalität im unfallrechtlichen Sinne ist nicht erfolgt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Prozessakte, die Verwaltungsakte und die Sitzungsniederschrift vom 4. Dezember 2019 ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die statthafte (§§ 143, 144 SGG) und auch im Übrigen zulässige, insbesondere form- und fristgerecht eingelegte (§ 151 SGG) Berufung ist unbegründet. Der Antrag auf Verletztengeldzahlung war dabei nicht nur im Hinblick auf neurologisch-psychiatrische Ursachen der Arbeitsunfähigkeit, sondern von Amts auch im Hinblick auf andere Ursachen zu prüfen. Das Sozialgericht hat die zulässige kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage zu Recht abgewiesen. Die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind rechtmäßig und verletzen den Kläger daher nicht in dessen Rechten.

Der Kläger hat keinen Anspruch auf Verletztengeld im Zeitraum vom 20. September 2014 bis zum 2. Mai 2015. Anspruch auf Verletztengeld haben Versicherte nach § 45 des Siebten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VII) u. a., wenn sie infolge des Versicherungsfalls arbeitsunfähig sind oder wegen einer Maßnahme der Heilbehandlung eine ganztägige Erwerbstätigkeit nicht ausüben können. Die Verletzungen des Klägers auf chirurgischem Fachgebiet waren zum 1. August 2014 soweit ausgeheilt, dass er seine Tätigkeit als Taxifahrer hätte ausüben können. Dr. D. stellte am 1. August 2014 fest, dass zu diesem Zeitpunkt eine freie Beweglichkeit im Bereich beider Kniegelenke und Sprunggelenke vorgelegen habe und sensomotorische Ausfälle ebenfalls nicht vorgelegen hätten. Entgegenstehende Befunde, die eine andere Einschätzung begründen könnten, liegen nicht vor. Auch Prof. Dr. J., Dr. G. und Dr. S. stellten in ihrem Gutachten vom 27. August 2014 nur noch eine mäßiggradige Bewegungseinschränkung des linken Knie- und Sprunggelenkes fest. Allerdings teilte Dr. D. am 23. Oktober 2014 zum streitigen Zeitraum mit, dass er am Vortag beim Kläger eine Schraube entfernt habe und der Kläger nunmehr erneut arbeitsunfähig sei. Bereits zuvor hatte allerdings Dr. E. am 14. August 2014 eine Arbeitsunfähigkeit aufgrund einer Depression und einer posttraumatischen Belastungsstörung angenommen und auch für die weiteren Zeiträume eine Arbeitsunfähigkeit aufgrund der zuvor genannten Diagnosen festgestellt.

Verletztengeld wird nur dann gezahlt, wenn die Arbeitsunfähigkeit wesentlich durch die Folgen des Versicherungsfalles verursacht wird. Dies ist dann nicht der Fall, wenn während einer unfallunabhängigen Arbeitsunfähigkeit ein unfallbedingter Zustand, der für sich ebenfalls Arbeitsunfähigkeit bedingen würde, auftritt. Erst nach Beendigung der unfallfremden Arbeitsunfähigkeit ist dann Verletztengeld zu zahlen (BSG, Urteil vom 26. Mai 1977 – 2 RU 80/76, BSGE 44, 22). Die auf psychiatrischem Fachgebiet bereits seit dem 14. August 2014 vorliegende Arbeitsunfähigkeit war unfallunabhängig und bestand bereits vor Hinzutreten der erneuten unfallbedingten Arbeitsunfähigkeit auf chirurgischem Fachgebiet. Von Dr. E. wurden im streitigen Zeitraum eine Depression und eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert. Eine solche posttraumatische Belastungsstörung hat sich allerdings nicht bestätigt. Weder war der Unfall an sich geeignet, eine solche Störung auszulösen, noch sind die weiteren Kriterien einer posttraumatischen Belastungsstörung erfüllt. Zwischen der ferner diagnostizierten Depression und dem Unfall besteht nach den schlüssigen und überzeugenden Ausführungen von Dr. Fb. kein Zusammenhang. Die körperlichen Unfallfolgen sind komplikationslos in regelhafter Zeit ausgeheilt und das Material komplikationslos entfernt worden. Hieraus lässt sich nicht die Entstehung einer seelischen Störung begründen. Die Unfallfolgen haben auch keinen seelisch labilen Menschen getroffen, der mehr als andere dazu prädisponiert gewesen ist, bei einer auch geringen körperlichen Verletzungsfolge eine psychogene Symptomatik zu entwickeln. Eine chronische Schmerzstörung wurde erstmals im Frühjahr 2016 befundet. Unabhängig von der Frage, ob der Unfall überhaupt eine wesentliche Ursache für die Schmerzstörung gewesen ist, ist das Vorliegen einer solchen für den hier noch streitigen Zeitraum der Verletztengeldzahlung nicht nachgewiesen, da Befunde, die eine Schmerzstörung für diesen Zeitraum belegen, nicht vorliegen.

Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf eine Verletztenrente. Versicherte haben Anspruch auf eine Verletztenrente, wenn ihre Erwerbsfähigkeit in Folge eines Versicherungsfalles über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 v. H. gemindert ist (§ 56 Abs. 1 Satz 1 SGB VII). Die MdE richtet sich gemäß § 56 Abs. 2 Satz 1 SGB VII nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens. Es ist auf den Maßstab der individuellen Erwerbsfähigkeit des Verletzten vor Eintritt des Versicherungsfalls abzustellen (BSG, Urteil vom 26. November 1987 – 2 RU 22/87, SozR 2200 § 581 Nr. 27). Maßgeblich ist aber nicht die konkrete Beeinträchtigung im Beruf des Versicherten, sondern eine abstrakte Berechnung (vgl. Bereiter-Hahn/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, Stand 3/2017, § 56 Rn. 10.1).

Auf chirurgischem Fachgebiet ist der Einschätzung von Prof. Dr. J., Dr. G. und Dr. S. im Zweiten Rentengutachten zu folgen, dass die MdE mit 10 v. H. einzuschätzen ist. Die Unterschenkelschaftfraktur ohne Gelenkbeteiligung ist unter geringer Valgusstellung knöchern verheilt und nur eine mäßiggradige Bewegungseinschränkung des Knie- und Sprunggelenkes links sowie eine Muskelminderung des linken Beines sind verblieben. Daraus ergeben sich keine Funktionsbehinderungen, die eine MdE von mehr als 10 v. H. begründen.

Von Dr. Go. ist ein neurogen bedingtes chronisches Schmerzsyndrom angenommen worden, das mit einer MdE von 10 v. H. zu bewerten sei. In dem vom Kläger in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Befundbericht des … vom 18. Oktober 2019 ergab sich hingegen im Rahmen des elektroneurographischen Befundes ein Normalbefund der betroffenen Nerven. Auch eine Seitendifferenz bezüglich der unfallgeschädigten Seite lag bei dem Kläger, der über Schmerzen in beiden Beinen klagt, nicht vor. Letztlich kann dies aber auch offenbleiben, denn selbst bei Annahme eines neurogenbedingten chronischen Schmerzsyndroms ist die MdE hierfür höchstens mit 10 v. H. einzuschätzen und überschneidet sich mit den Einschränkungen des Klägers auf unfallchirurgischem Fachgebiet. Eine rentenberechtigende MdE ergibt sich daher auch unter Berücksichtigung eines solchen Schmerzsyndroms nicht.

Eine höhere MdE lässt sich auch nicht mit Erkrankungen auf psychiatrischem Fachgebiet begründen. Wie oben bereits ausgeführt wurde, bestehen keine ausreichenden Anhaltspunkte, dass der Kläger unter einer posttraumatischen Belastungsstörung gelitten hat bzw. leidet. Zwischen der Depression und dem Unfall besteht – wie oben dargelegt – keine Kausalität. Der Kläger hat sich Mitte 2016 erstmals in schmerztherapeutische Behandlung begeben. Der behandelnde Schmerzmediziner Dr. Sö. diagnostizierte eine chronische Schmerzkrankheit mit somatischen, aber auch psychischen Faktoren. Der Gutachter Dr. Fb. hat auf psychiatrischem Fachgebiet keine messbare MdE feststellen können. Der Unfall sei nicht geeignet gewesen, bei dem bis dahin seelisch gesunden Mann einen seelischen Erstschaden zu setzen. Die körperlichen Unfallfolgen seien komplikationslos in regelhafter Zeit ausgeheilt. Aufgrund des erst lange nach dem Unfall aufgetretenen Schmerzsyndroms, der nicht schwerwiegenden Unfallfolgen und der gleichen Schmerzsymptomatik in beiden Beinen ist den überzeugenden Ausführungen von Dr. Fb. zu folgen und ein Zusammenhang zwischen der somatoformen Schmerzstörung und dem Unfallereignis zu verneinen.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 SGG liegen nicht vor.

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