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Unfallversicherungsschutz bei Hilfeleistung – Voraussetzungen

Landessozialgericht Berlin-Brandenburg entscheidet über Anerkennung eines Ereignisses als Arbeitsunfall

Versicherungsschutz im Fokus

In einem Urteil vom 21.01.2022 (Az.: L 21 U 201/19) hat das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg entschieden, ob ein Ereignis als Arbeitsunfall anerkannt werden kann. Im konkreten Fall geht es um eine körperliche Auseinandersetzung vom 01.03.2015, bei der der Kläger versucht hatte, einen Streit zu schlichten. Der Kläger erlitt dabei eine Fraktur eines Mittelhandknochens und einen Weichteilschaden. Die Beklagte lehnte es jedoch ab, das Ereignis als Arbeitsunfall anzuerkennen.

Direkt zum Urteil: Az.: L 21 U 201/19 springen.

Hintergrund des Falles

Der Kläger war auf einer Party, um einen Streit zwischen Herrn H und dessen Ehefrau zu schlichten. Dabei kam es zu einer körperlichen Auseinandersetzung mit Herrn H, der alkoholisiert war. Der Kläger erlitt dabei Verletzungen und musste operiert werden. Die Beklagte leitete ein Feststellungsverfahren ein und zog die Akten der Staatsanwaltschaft Neuruppin zum Verfahren gegen Herrn H wegen Körperverletzung heran. Herr H wurde später wegen Körperverletzung und Bedrohung verurteilt.

Ablehnung der Anerkennung als Arbeitsunfall

Die Beklagte lehnte die Anerkennung des Ereignisses als Arbeitsunfall mit der Begründung ab, dass der Versicherungsschutz gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 13a SGB VII (Hilfeleistung) ab dem Zeitpunkt zu verneinen sei, als sich der Kläger aktiv auf die körperliche Auseinandersetzung mit Herrn H eingelassen und damit eine Gefahrenlage für den Kläger selbst bestanden habe, womit der Selbstschutzgedanke im Vordergrund gestanden habe. Hierzu verwies die Beklagte auf ein Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 14.09.2010.

Entscheidung des Landessozialgerichts

Das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg wies die Berufung des Klägers zurück und entschied, dass das Ereignis vom 01.03.2015 nicht als Arbeitsunfall anerkannt werden kann. Das Gericht begründete seine Entscheidung damit, dass der Kläger sich in eine Gefahrenlage begeben habe und der Selbstschutzgedanke im Vordergrund gestanden habe. Die außergerichtlichen Kosten des Klägers wurden nicht erstattet und die Revision wurde nicht zugelassen.

Die folgenden rechtlichen Bereiche sind u.a. in diesem Urteil relevant

  1. Sozialgesetzbuch Siebtes Buch (SGB VII) – Gesetzliche Unfallversicherung: Dieses Gesetz bildet die Grundlage für den Versicherungsschutz bei Arbeitsunfällen. Im vorliegenden Fall wird die Frage diskutiert, ob das Ereignis vom 01.03.2015 als Arbeitsunfall im Sinne des § 2 Abs. 1 Nr. 13a SGB VII (Hilfeleistung) anzuerkennen ist.
  2. § 223 Strafgesetzbuch (StGB) – Körperverletzung: Im vorliegenden Fall wurde der Zeuge A. H wegen Körperverletzung gemäß § 223 StGB verurteilt, weil er dem Kläger ins Gesicht geschlagen hatte.
  3. § 230 StGB – Strafantrag: Da Körperverletzungsdelikte grundsätzlich nur auf Antrag verfolgt werden, hat der Kläger in diesem Fall einen Strafantrag gemäß § 230 StGB gestellt.
  4. § 241 StGB – Bedrohung: A. H wurde zusätzlich wegen Bedrohung gemäß § 241 StGB verurteilt, weil er dem Kläger gedroht hatte, ihn mit einem Küchenmesser abzustechen.
  5. § 52 StGB – Tateinheit: In diesem Fall liegt eine Tateinheit gemäß § 52 StGB vor, da A. H sowohl wegen Körperverletzung als auch wegen Bedrohung verurteilt wurde.
  6. Aussageverweigerungsrecht: Im Ermittlungsverfahren machten zwei der Zeugen von ihrem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch, das ihnen aufgrund ihrer familiären Beziehung zum Beschuldigten zusteht.
  7. Urteil des Sozialgerichts Berlin (S 68 U 927/08): Die Beklagte verwies auf dieses Urteil, um ihre Argumentation zu stützen, dass der Versicherungsschutz gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 13a SGB VII (Hilfeleistung) ab dem Zeitpunkt zu verneinen sei, als sich der Kläger aktiv auf die körperliche Auseinandersetzung mit Herrn H eingelassen und damit eine Gefahrenlage für den Kläger selbst bestanden habe.

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Das vorliegende Urteil


Landessozialgericht Berlin-Brandenburg – Az.: L 21 U 201/19 – Urteil vom 21.01.2022

Die Berufung wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Klägers sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Anerkennung des Ereignisses vom 01.03.2015 als Arbeitsunfall.

Der Prozessbevollmächtigte des 1980 geborenen Klägers wandte sich mit Schreiben vom 04.11.2015 an die Beklagte, beantragte die Aufnahme des Klägers in ein Programm zum Opferschutz und teilte mit, dass der Kläger Opfer einer Körperverletzung durch Herrn A. H geworden sei, als er auf einer Party den Streit zwischen Herrn H und dessen Ehefrau, M. W, habe schlichten wollen. Hierzu beschrieb er den konkreten Unfallhergang und die handelnden Personen, worauf noch genauer einzugehen sein wird.

Wegen der gesundheitlichen Folge der Auseinandersetzung stellte sich der Kläger am 01.03.2015 in der Notaufnahme des Krankenhauses P vor. Dort wurde eine Fraktur eines Mittelhandknochens MC 5 links und ein Weichteilschaden Grad I bei geschlossener Fraktur sowie Luxation des Handgelenks und der Hand links diagnostiziert und am 03.03.2015 operativ versorgt.

Die dem Zeugen A. H am 01.03.2015 um 2:35 Uhr entnommene Blutprobe ergab eine Ethanolkonzentration i.H.v. 2,14 mg/g.

Die Beklagte leitete daraufhin ein Feststellungsverfahren ein und zog die Akten der Staatsanwaltschaft Neuruppin zum Verfahren gegen den Zeugen A. H wegen § 223 Strafgesetzbuch (StGB; Körperverletzung) zum Aktenzeichen bei. In der Strafanzeige des Klägers vom 01.03.2015 ist folgender Sachverhalt geschildert:

„In der Wohnung der Familie H wurde am Abend der Geburtstag von Frau H nachgefeiert. Gegen 01:15 Uhr des 01.03.2015 unterhielten sich die Geschwister Sund S W in der Wohnung. Dieses Gespräch wurde vom Beschuldigten falsch aufgefasst. Er war der Meinung die Geschwister stritten sich und wollte die S zur Rede stellten. Dabei forderte er sie auf, die Wohnung zu verlassen. Die S begab sich in den Hausflur des Gebäudes. Nach ca. 10 Minuten kam der Beschuldigte in den Flur. Es kam erneut zu einer verbalen Auseinandersetzung. In der weiteren Folge schubste der Beschuldigte die S, so dass diese mit dem Knie auf den Boden fiel und leichte Schmerzen hatte. Eine ärztliche Versorgung benötigte sie jedoch nicht. Während dieser Rangelei ging die Mutter der S dazwischen. Daraufhin ließ der Beschuldigte von der S ab und schubste wiederum die eigene Ehefrau, welche jedoch ebenfalls keinerlei Verletzungen davon trug. Der Geschädigte ging nun zwischen diese Rangelei (zwischen Ehemann und Ehefrau). Da der Beschuldigte nun vorhatte, mit einem Fahrzeug zu fahren, versuchte der Geschädigte ihn daran zu hindern, indem er drohte die Polizei zu verständigen, wenn er sich ins Fahrzeug setzt. Daraufhin schlug der Beschuldigte ohne Vorankündigung dem Geschädigten in die rechte Gesichtshälfte. Der Geschädigte schlug zurück und verletzte sich dabei an der linken Hand. Der Geschädigte begibt sich eigenständig zum Arzt und reicht ein Attest nach. In der weiteren Folge holte der Beschuldigte ein Küchenmesser und drohte, mit dem Messer in der Hand, dem Geschädigten damit diesen abzustechen. Das Messer konnte dem Beschuldigten, durch den Freund der S W, abgenommen werden.“

Als Zeugen wurden im Ermittlungsverfahren der Kläger, die Zeuginnen M. und S. W sowie der Beschuldigte A. H am 11.05.2015 vernommen, wobei die beiden letztgenannten Personen von ihrem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch machten.

Am 03.09.2015 erging gegen A. H ein Strafbefehl wegen Körperverletzung und Bedrohung nach den §§ 223 Abs. 1, 230, 241, 52 StGB, mit dem gegen ihn eine Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu je 30,00 € festgesetzt wurde. Aufgrund seines Einspruchs gegen die Höhe der Tagessätze setzte das Amtsgericht Prenzlau mit Beschluss vom 09.10.2015 () die Höhe der Tagessätze auf 15,00 € herab und stellte im Übrigen folgenden Tatbestand fest:

„Am 01.03.2015 gegen 01:15 Uhr kam es in der Wohnung, Gstraße 13 in P zunächst zu einer Auseinandersetzung zwischen dem Angeklagten und den Zeuginnen S. und S. W und zwischen dem Angeklagten und seiner Ehefrau. Der Zeuge G wollte den Streit schlichten und ging zwischen die Rangelei. Als der Zeuge G versuchte, den Angeklagten daran zu hindern, mit dem Fahrzeug loszufahren, schlug der Angeklagte dem Zeugen G ohne Vorankündigung in die rechte Gesichtshälfte. Der Zeuge wehrte sich dagegen mittels eines Schlages in Richtung des Angeklagten. Bei diesem Schlag verletzte sich der Zeuge und erlitt eine Fraktur der linken Mittelhand. In der weiteren Folge des Streits holten der Angeklagte ein Küchenmesser und richtete es auf den Zeugen G. Dabei äußerte der Angeklagte gegenüber dem Zeugen G, dass er ihn abstehen würde.“

Nach Auswertung dieser Unterlagen lehnte es die Beklagte mit Bescheid vom 30.03.2016 ab, das Ereignis vom 01.03.2015 als Arbeitsunfall anzuerkennen. Zur Begründung führte die Beklagte aus, dass der Versicherungsschutz gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 13a Sozialgesetzbuch Siebtes Buch (SGB VII; Hilfeleistung) ab dem Zeitpunkt zu verneinen sei, als sich der Kläger aktiv auf die körperliche Auseinandersetzung mit Herrn H eingelassen und damit eine Gefahrenlage für den Kläger selbst bestanden habe, womit der Selbstschutzgedanke im Vordergrund gestanden habe. Hierzu verwies die Beklagte auf ein Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 14.09.2010 zum Aktenzeichen S 68 U 927/08, wonach eine Hilfeleistung dann beendet sei, wenn der Betroffene bei einer gegen ihn gerichteten Attacke nicht nur die Schläge abblocke und versuche, sich dem Angreifer zu entziehen, sondern selbst aktiv eingreife und sich positiv auf die Schlägerei einlasse.

Dagegen erhob der Kläger am 02.05.2016 mit der Begründung Widerspruch, er habe nicht selbst angegriffen; er habe auch gar nicht zurückschlagen können, da er behindert sei und ihm die rechte Hand fehle; vielmehr habe er nur versucht, den Angreifer zurückzuhalten. Er habe lediglich angekündigt, die Polizei zu rufen, woraufhin er geschlagen worden sei.

Am 24.05.2016 nahm die Beklagte ihrerseits eine Vernehmung der Zeugin S, der Freundin des Klägers im Unfallzeitpunkt, vor und befragte sie nach entsprechender Belehrung zu den Geschehnissen am 01.03.2015.

Mit Widerspruchsbescheid vom 16.06.2016 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Aus der Einlassung des Klägers habe sich zuungunsten von weiblichen Personen in der Wohnung Hin der Gstraße 13 in P zunächst eine Gefahrensituation ergeben, die jedoch vor der Verletzung der Hand beendet gewesen sei. Ob sich nach Ergreifen des Pkw-Schlüssels durch Herrn H aufgrund seines alkoholisierten Zustandes eine Gefahr für die Allgemeinheit infolge mutmaßlichen Führens eines Pkws in diesem Zustand darstellte, was verhindert werden sollte, bleibe aufgrund nicht übereinstimmender (Zeugen-)Aussagen ebenso unklar wie der Ablauf von Tätlichkeiten bis zum ersten abgeleiteten Schlag des Klägers gegen den Türrahmen des Kinderzimmers in der Wohnung H; jedenfalls stehe aufgrund der Aussage der Zeugin S nicht im Vollbeweis fest, dass die Verletzung der linken Hand bereits zu diesem Zeitpunkt eingetreten war und nicht erst beim weiteren Schlag mit der Faust gegen die Tür des Trockenraums.

Dagegen hat der Kläger am 22.07.2016 Klage zum Sozialgericht Neuruppin erhoben. Er habe nur schlichten wollen und überhaupt nicht selbst eingegriffen. Nachdem der Kläger zunächst schriftsätzlich die Aufhebung des entgegenstehenden Bescheides und die Gewährung von Leistungen beantragt hatte, hat er aufgrund einer Anregung des Sozialgerichts in der mündlichen Verhandlung sodann beantragt,

den Bescheid vom 30.03.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.06.2016 aufzuheben und das Ereignis vom 01.03.2015 als Versicherungsfall der gesetzlichen Unfallversicherung anzuerkennen.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.

Das Sozialgericht hat die o. g. Akte der Staatsanwaltschaft Neuruppin beigezogen und den Kläger im Rahmen der mündlichen Verhandlung am 07.08.2019 ausführlich befragt. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Sitzungsniederschrift vom 07.08.2019 Bezug genommen.

Mit Urteil vom 07.08.2019 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Diese sei unbegründet. Der Bescheid vom 30.03.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.06.2016 sei rechtmäßig und verletze den Kläger nicht in seinen Rechten. Er habe keinen Anspruch auf Anerkennung des Ereignisses vom 01.03.2015 als Versicherungsfall der gesetzlichen Unfallversicherung.

Nach § 2 Abs. 1 Nr. 13a SGB VII seien Personen kraft Gesetzes versichert, die bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not Hilfe leisten oder einen anderen aus erheblicher gegenwärtiger Gefahr für seine Gesundheit retten (Hilfeleistung). Zur Überzeugung der Kammer habe der Kläger am 01.03.2015 im Rahmen seiner Hilfeleistung nicht einen auch als Arbeitsunfall versicherten Unfall erlitten.

Arbeitsunfälle seien Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3, 6 SGB VII begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit; § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII). Unfälle seien zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen (§ 8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII). Für das Vorliegen eines Arbeitsunfalls im Sinne des § 8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII sei danach in der Regel erforderlich, dass die Verrichtung des Versicherten zur Zeit des Unfalls der versicherten Tätigkeit zuzurechnen sei (innerer bzw. sachlicher Zusammenhang), dass diese Verrichtung zu dem zeitlich begrenzten von außen auf den Körper einwirkenden Ereignis – dem Unfallereignis – geführt habe und das Unfallereignis einen Gesundheits(-erst-)schaden oder den Tod des Versicherten verursacht (haftungsbegründende Kausalität) habe (ständige Rechtsprechung, vgl. stellvertretend Bundessozialgericht (BSG), Urteile vom 09.05.2006 – B 2 U 1/05 R, B 2 U 40/05 R, B 2 U 26/04 R).

Nach Maßgabe dieser Grundsätze und auf der Grundlage der Angaben des Klägers und der Vernehmungen der Zeuginnen M. W und S sei die Kammer zu der Überzeugung gelangt, dass sich der Kläger die Fraktur der linken Hand im Rahmen seiner tätlichen Auseinandersetzung mit dem Angreifer H und konkret bei einem von ihm geführten Faustschlag zugezogen habe. Wie bereits das Sozialgericht Berlin in seinem Urteil vom 14.09.2010 (a. a. O.) festgestellt habe – und diesen Grundsätzen schließe sich die hiesige Kammer des Sozialgerichts Neuruppin nach eingehender Prüfung an —, falle ein aktiv von dem Kläger geführter Faustschlag im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit dem Angreifer nicht mehr unter den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung.

Wie auch im dort entschiedenen Fall habe sich der Kläger hier zivilcouragiert zunächst zum Schutz der bedrohten Ehefrau des Angreifers H, M. W, und auch zum Schutz der Töchter S. und S. W in das Geschehen eingemischt und den Streit schlichten wollen. Im Rahmen dieser Hilfeleistung sei aber der zur Verletzung führende „Schlagabtausch“ noch nicht erfolgt. Dabei nehme die Kammer unter Verweis auf die Ermittlungsergebnisse der Polizei, die Sachverhaltsdarstellung im Strafbefehl vom 03.09.2015 und im Beschluss des Amtsgerichts Prenzlau vom 09.10.2015, auf die späteren Ausführungen des Prozessbevollmächtigten des Klägers im Schreiben vom 11.05.2017 sowie die Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung am 07.08.2019 folgenden Ablauf der Ereignisse am 01.03.2015 an:

1. Auseinandersetzung des Herrn H mit seiner Tochter,

2. dann mit seiner Ehefrau,

3. der Kläger sei zwischen die beiden gegangen und habe sie auseinander geschoben,

4. Herr H habe mit dem Auto deutlich alkoholisiert wegfahren wollen,

5. daran habe ihn der Kläger hindern wollen, er sei ihm hinterhergelaufen,

6. vor dem Haus Faustschlag des Herrn H in das Gesicht des Klägers,

7. Frau S sei dazwischen gegangen, aber Herr H habe den Kläger am Hals gepackt und ihn gewürgt und zweiter Schlag auf das rechte Kinn des Klägers,

8. zurück in der Wohnung sei ein „Schlagabtausch“ erfolgt, wobei ein „Abwehrschlag“ des Klägers gegen den Türrahmen mit der Folge der Verletzung der linken Hand gegangen sei,

9. dann habe der Kläger in seine Wohnung gehen wollen, Herr H habe ihn verfolgt mit einem 20 cm großen, scharfen Messer, das ihm aber ein anderer Gast habe abnehmen können,

10. Eintreffen der Polizei; Notaufnahme

Die sich an die Auseinandersetzung mit der Ehefrau anschließende Vermeidung der Trunkenheitsfahrt des Herrn H könne nicht als Hilfeleistung im

Sinne des § 2 Abs. 1 Nr. 13a SGB VII verstanden werden. Denn es habe zur Überzeugung der Kammer noch keine unmittelbar bevorstehende konkrete Gefahrenlage bestanden. Herr H habe noch nicht einmal das Auto gestartet gehabt, es auch nicht bewegt in Richtung oder auf der Straße. Es habe sich lediglich um eine abstrakte Gefährdung der Allgemeinheit und nur potentieller Verkehrsteilnehmer gehandelt. Der Eintritt eines Schadens für einen Dritten habe damit noch nicht als sehr wahrscheinlich gegolten. Darüber hinaus sei zu diesem Zeitpunkt von einem anderen Gast der Feier auch schon die Polizei informiert worden. Nach den Angaben des Klägers am 11.05.2015 seien die Polizeibeamten schon unmittelbar nachdem er nach der Bedrohung mit dem Messer die Wohnung der Familie H verlassen hatte, gekommen.

Von dem Auto wieder zurück in der Wohnung habe Herr H um Frau S herum und mit der Faust in das Gesicht des Klägers geschlagen. Dann habe der Kläger Herrn H am Hals gepackt, ihn auch geschüttelt, um dem Angreifer schließlich einen „Abwehrschlag“ zu versetzen, der allerdings gegen den Türrahmen ging, wobei sich der Kläger die linke Hand verletzt habe. In dem Moment, in dem sich der Angreifer, Herr H, dem Kläger zugewandt und diesen mit einem Faustschlag attackiert habe, sei nun von einer Bedrohungssituation für den Kläger auszugehen. Damit habe der Kläger jetzt in Selbstschutzabsicht gehandelt und nicht mehr, um einen Dritten zu schützen. Der Kläger habe auch deutlich gemacht, dass bei ihm im Zeitpunkt der tätlichen Auseinandersetzung der Selbstschutzgedanke im Vordergrund gestanden habe. Hierzu nehme die Kammer Bezug auf die folgende Aussage des Klägers bei der Polizei am 11.05.2015: „Kaum hatte ich das gesagt, holt der A aus und schlug mit der Faust in die rechte Gesichtshälfte. Nach diesem Schlag packte ich den A wieder an den Sachen und hielt den fest. Ich wollte ja nicht noch einmal geschlagen werden. Da der A sich diesmal heftig wehrte und wieder zum Schlag ausholte habe ich ihn dann auch ins Gesicht geschlagen. Ich glaube, ich habe den hierbei am Kinn getroffen. Meine Faust ging jedenfalls an seinem Kinn vorbei und traf mit voller Wucht den Türrahmen.“

Hinzu komme die erste zusammenhängende, noch ohne Nachfragen erfolgte Schilderung des Klägers in der mündlichen Verhandlung am 07.08.2019: „Er hat dann um S rumgeschlagen mit seiner Faust und in dieser Rangelei habe ich ihn dann am Hals gepackt und auch geschüttelt – das, um mich zu schützen. Ich wollte ihn dann auch schlagen, habe aber gegen den Türrahmen getroffen.“

Zudem sei ein solcher Faustschlag eine aktiv ausgeführte Handlung und nicht ein bloßes Abblocken und Sich-dem-Täter-Entziehen. Vielmehr habe der Kläger zur Überzeugung der Kammer selbst aktiv in das Geschehen eingegriffen und sich positiv auf die Schlägerei eingelassen. Spätestens mit dem aktiven Eingreifen sei jedenfalls eine Zäsur eingetreten, die aus Sicht der Kammer das Hilfeleisten im Sinne des § 2 Abs. 1 Nr. 13a SGB VII beende.

Davon, dass die Zeugin S tatsächlich gefährdet gewesen sei in dem Moment, in dem sie zwischen dem Kläger und Herrn H gestanden habe und letzterer um sie herum den Kläger geschlagen habe, sowie davon, dass der Schlag des Klägers auch dem Schutz von Frau S habe dienen sollen, ist die Kammer nicht überzeugt. Bis zur mündlichen Verhandlung am 07.08.2019 habe ein Schutzgedanke für Frau S keinerlei Erwähnung gefunden, weder im Rahmen der polizeilichen Ermittlungen noch im Verwaltungsverfahren oder im gerichtlichen Verfahren. Erst nach der von der Kammer-vorsitzenden in Auswertung der Aussagen des Klägers in der mündlichen Verhandlung am 07.08.2019 aufgezeigten rein theoretischen Möglichkeit habe der Prozessbevollmächtigte den Kläger ausdrücklich angewiesen, dazu jetzt nichts zu sagen. In der Folge versuchte der Prozessbevollmächtigte in der mündlichen Verhandlung eine weitere „Phase“ des Geschehens am 01.03.2015, die dem Schutz von Frau S habe dienen sollen, zu beschreiben. Zwar habe der Kläger auf die daran anknüpfende Nachfrage, ob er denn auch Frau S habe schützen wollen, an: „Ich wollte alle allgemein schützen. Erst die S und die M, und deswegen wusste ich auch nicht, was Herr H mit S machen wollte.“. Jedoch komme darin für die Kammer schon nicht hinreichend deutlich ein konkreter Fremdschutzgedanke zum Ausdruck. Wesentlicher aber sei, dass bisher in keinen Aussagen und Unterlagen die Bedrohung der Frau S zum Ausdruck gekommen sei – und dies noch nicht einmal in der Aussage der Zeugin S selbst. In ihrer Aussage vom 24.05.2016, ergänzt und unterschrieben am 02.06.2016, fänden sich dazu keine Anhaltspunkte. Nach all dem halte es die Kammer für wahrscheinlich, dass die den anwaltlichen Vortrag aufnehmende Angabe des Klägers zum Schutzgedanken hinsichtlich der Frau S wesentlich davon getragen worden sei, den Ausgang des Rechtsstreits positiv zu beeinflussen.

Die Einwände des Prozessbevollmächtigten des Klägers zur Unverwertbarkeit der Aussage der Zeugin S teile die Kammer nicht. Insbesondere habe der Beklagtenvertreter keinerlei Einfluss auf die erfolgten handschriftlichen Ergänzungen der Zeugin gehabt. Auch fänden sich keinerlei Hinweise auf „angreifbare Befragungstechniken“. Ohnehin habe es für die obige rechtliche Bewertung des Falles nicht auch noch ihrer Aussage bedurfte. Im Wesentlichen hätten sich die Rückschlüsse allein aus den Aussagen und Angaben des Klägers ergeben. In diesem Zusammenhang aber weise die Kammer darauf hin, dass schon durch die Aussagen des Klägers der Vortrag in der Klageschrift vom 22.07.2016 nicht habe bestätigt werden können. Danach hätte der Kläger selbst nicht angegriffen, weil dies aufgrund seiner Behinderung — ihm fehle eine Hand — völlig unsinnig sei. Dabei sei der Kläger nach seinen eigenen Angaben in der Lage, den Angreifer am Hals zu packen und zu schütteln und ihm dann einen Faustschlag zu versetzen. Letztlich sei auch der Prozessbevollmächtigte des Klägers im Rahmen des weiteren Vortrages von einem „Abwehrschlag“ des Klägers ausgegangen. Überdies habe der Kläger selbst auf Befragen in der mündlichen Verhandlung am 07.08.2019 angegeben, dass er am 01.03.2015 möglicherweise auch aufbrausend gewesen sei; er sei auch privat so und eben sehr direkt. Ferner sei dem Prozessbevollmächtigten keine (nochmalige) Stellungnahmefrist zur Aussage der Zeugin S einzuräumen. Denn ihm sei unter ausdrücklicher Nennung gerade dieser Zeugenaussage verbunden mit der Bitte um Stellungnahme bereits im Mai 2017 die Verwaltungsakte übersandt worden.

Gegen das ihm am 26. September 2019 zugestellte Urteil hat der Kläger am 24. Oktober 2019 Berufung eingelegt. Dem Kläger sei rechtliches Gehör verweigert worden, da ihm das Sozialgericht in der mündlichen Verhandlung keine Stellungnahmefrist auf die Aussage der Zeugin S gewährt habe. Die Verwaltungsakte habe er am 19.5.2017 erhalten, die Aussage der Zeugin S vor dem Sozialgericht sei jedoch am 07.08.2019 erfolgt.

Die Aussage der Zeugin S sei nicht verwertbar, das Sozialgericht teile nur lapidar mit, dass es diesem Einwand nicht folge. Der Sachverhalt sei im Urteil unvollständig dargestellt die Beklagte sei auch für den Schutz von Verbrechensopfern zuständig der Kläger habe nicht selbst eingegriffen, er habe nur schlichten wollen, weshalb das Urteil des SG Berlin (Aktenzeichen S 68 Q9 127/08) nicht anwendbar sei. Der Kläger sei vom Täter mit der Faust geschlagen worden.

Der Kläger, der die Beiladung des Landesamtes für Soziales und Versorgung Frankfurt (Oder) beantragt, hat zunächst in der Sache (erneut) die Gewährung von Leistungen beantragt. Auf den rechtlichen Hinweis des Senats vom 06.05.2020 hat der Kläger den auf Leistungsgewährung gerichteten Berufungsantrag zu 4. zurückgenommen.

Der Kläger beantragt zuletzt sinngemäß, das Urteil des Sozialgerichts Neuruppin vom 07.08.2019 sowie den Bescheid der Beklagten vom 30.03.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.06.2016 aufzuheben und das Ereignis vom 01.03.2015 als Versicherungsfall der gesetzlichen Unfallversicherung / Arbeitsunfall anzuerkennen.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Sie verweist auf die erstinstanzliche Entscheidung, die sie für zutreffend hält.

Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte, die beigezogene Verwaltungsakte der Beklagten und die Strafverfahrensakte (Az.: ) Bezug genommen, die Vorlagen und Gegenstand der Entscheidungsfindung waren.

Entscheidungsgründe

Die Berufung des Klägers, über die der Senat mit dem Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden kann (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG -), ist form- und fristgerecht (§ 151 Abs. 1 SGG) eingelegt worden sowie im Übrigen zulässig, insbesondere statthaft (§ 143, § 144 SGG). Sie ist jedoch unbegründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen.

Gegenstand des Berufungsverfahrens ist das klageabweisende Urteil des Sozialgerichts Neuruppin vom 7.9.2009 sowie der im Klageantrag benannte Bescheid der Beklagten vom 30.03.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.06.2016, mit dem die Beklagte es abgelehnt hat, das Ereignis vom 01.03.2015 als Arbeitsunfall anzuerkennen.

Nach sachgerechter Auslegung der Berufungsbegründung (§ 123 SGG) betrachtet es der Senat als das Berufungsbegehren des Klägers, dass er zunächst ausschließlich die Anerkennung des Ereignisses vom 01.03.2015 als Arbeitsunfall begehrt. Soweit der Kläger darüber hinaus bei Einlegung der Berufung auch einen auf Leistungsgewährung durch die Beklagten gerichteten Antrag gestellt hatte, war dieser unzulässig, da die Beklagte im angegriffenen Bescheid über einzelne, konkret in Betracht kommende Leistungen nach dem SGB VII keine Entscheidung getroffen hat und diesbezüglich keine Beschwer des Klägers gegeben sein dürfte (BSG, Urteil vom 17.12.2015, B 2 U 17/14 R, juris). Insoweit handelt es sich bei der Formulierung im angefochtenen Bescheid „Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung können daher nicht in Anspruch genommen werden.“ um eine bloße „Leerformel“ (vgl. zustimmend Landessozialgericht <LSG> Berlin-Brandenburg vom 23.05.2012, L 3 U 78/09, juris) bzw. eine inhaltlich unbestimmte „Annexfloskel“ (BSG, Urteil vom 16.03.2021, B 2 U 7/19, juris Rn. 12). Aus der Begründung im Bescheid wird ersichtlich, dass letztlich nur eine Entscheidung über die Anerkennung eines Arbeitsunfalls ergangen ist. Der Leistungsantrag war insoweit unzulässig und wurde – nach rechtlichem Hinweis des Senats vom 06.05.2020 – vom Kläger zurückgenommen, so dass der Senat darüber nicht mehr zu entscheiden hat.

Auch wenn ausdrücklich im Berufungsverfahren kein schriftlicher Antrag mehr auf Feststellung des Ereignisses vom 01.03.2015 als Arbeitsunfall gestellt wurde, geht der Senat nach Auslegung der Berufungsbegründung (§ 123 SGG) davon aus, dass dies das eigentliche Begehren des Klägers ist und er dies mit seinem Berufungsantrag, der seinem Wortlaut nach lediglich auf Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils gerichtet ist, weiterverfolgt.

Die so verstandene Berufung ist zulässig aber unbegründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der angefochtene Bescheid ist rechtmäßig und beschwert den Kläger nicht. Er hat keinen Anspruch auf Feststellung des Ereignisses vom 01.03.2015 als Versicherungsfall der gesetzlichen Unfallversicherung/Arbeitsunfall.

Nach § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII sind Arbeitsunfälle Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2,3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit.

Der Kläger gehört – im Zeitpunkt der zur Verletzung führenden Handlung – nicht zu dem bei der Beklagten versicherten Personenkreis.

Gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 13 Buchst. a SGB VII sind Personen kraft Gesetzes versichert, die bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not Hilfe leisten oder einen anderen aus erheblicher gegenwärtiger Gefahr für seine Gesundheit retten. Die Einbeziehung dieses Personenkreises in den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung sollte das gemäß § 323c StGB strafbewehrte Gebot absichern, bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not Hilfe zu leisten (vgl. hierzu ausführlich BSG vom 12.12.2006, B 2 U 39/05 R, juris Rn. 14 ff.).

a) Ein Unglücksfall ist ein plötzlich auftretendes Ereignis, das eine erhebliche Gefahr für Menschen oder Sachen mit sich bringt oder hervorzurufen droht (vgl. BSG vom 15.06.2010, B 2 U 12/09 R, juris Rn. 19 m.w.N.; BSG vom 10.10.2002, B 2 U 8/02 R, juris Rn. 22). Für einen Unglücksfall genügt es, dass ein Schaden an anderen Individualrechtsgütern als der körperlichen Unversehrtheit eingetreten ist oder unmittelbar bevorsteht; auch muss ein Schaden noch nicht eingetreten sein; vielmehr genügt, dass er einzutreten droht (vgl. BSG ebenda). Zwar sollen bloße Bagatellschäden an Sachen demgegenüber nicht genügen (vgl. Bieresborn in Juris Praxiskommentar zu § 2 SGB VII Rn. 180); anders wird dies aber bei bedeutenden Sachwerten beurteilt (vgl. hierzu BSG vom 13.09.2005, B 2 U 6/05 R, juris Rn. 21).

Eine gemeine Gefahr liegt vor, wenn nach den objektiv gegebenen Umständen wegen einer ungewöhnlichen (akuten) Gefahrenlage ohne sofortiges Eingreifen eine erhebliche Schädigung von Personen oder bedeutenden Sachwerten unmittelbar droht und eine unbestimmte Vielzahl von Personen (Allgemeinheit) betroffen ist, die in den Gefahrenbereich gelangen oder sich in ihm befinden (vgl. BSG vom 15.06.2010, B 2 U 12/09 R, juris Rn. 18; vgl. BSG vom 13.09.2005, B 2 U 6/05 R, juris Rn. 21). Dies ist bereits dann der Fall, wenn die Gefahr in einem Bereich droht, welcher der Allgemeinheit zugänglich ist, wobei es genügt, dass nur eine einzige Person in diesen Bereich gerät oder gefährdet erscheint (vgl. BSG vom 29.09.1998, 2 RU 44/91, juris Rn. 21).

Da die Einbeziehung dieses Personenkreises das durch § 323c StGB strafbewehrte Gebot absichern soll, bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not Hilfe zu leisten, ist der Versicherungsschutz auf solche Notsituationen beschränkt, in denen aufgrund der Art und des Ausmaßes der Gefährdung jedermann von Gesetzes wegen zur Hilfeleistung verpflichtet ist (vgl. BSG vom 13.09.2005, B 2 U 6/05 R, juris Rn. 20). Dagegen greift das Hilfegebot des § 323c StGB nicht schon bei alltäglichen Gefahrensituationen, deren Risiken die Betroffenen kennen und auf die sie sich einrichten können, sondern erst dann, wenn es aufgrund ungewöhnlicher Umstände zu einer nicht vorhersehbaren und ohne fremde Hilfe nicht beherrschbaren Gefahrenlage kommt, wenn also die Selbstschutzmöglichkeiten deutlich vermindert sind (vgl. BSG ebenda). Dabei setzt der Tatbestand der gemeinen Gefahr nicht voraus, dass objektiv eine gemeine Gefahr vorgelegen hat, verlangt jedoch, dass die Einschätzung des Handelnden bei lebensnaher Betrachtung anhand der objektiven Sachlage nachvollziehbar ist; eine ohne objektive Anhaltspunkte rein subjektive Vorstellung des Handelnden, es bestehe eine gemeine Gefahr und er wolle insoweit Hilfe leisten, kann den Versicherungsschutz hingegen nicht begründen (vgl. BSG vom 13.09.2005, B 2 U 6/05 R, juris Rn. 23).

Dabei steht dem Versicherungsschutz des Klägers selbst grob fahrlässiges Mitwirken an der Entstehung der Gefahr bzw. das Vorliegen einer Ordnungswidrigkeit nicht entgegen (§ 7 Abs. 2 SGB VII; vgl. BSG vom 11.12.1973, B 2 RU 30/73, juris Rn. 20).

Dies zugrunde gelegt steht zur Überzeugung des Senats fest, dass der Kläger sich die Verletzung im Bereich der linken Hand nicht im Rahmen seiner Hilfeleistung als Versicherter nach § 2 Abs. 1 Nr. 13a SGB VII zugezogen hat. Zur Begründung wird von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe gemäß § 153 Abs. 2 SGG zunächst abgesehen, weil die Berufung aus den zutreffenden und ausführlichen Gründen der angegriffenen Entscheidung zurückzuweisen ist. Lediglich ergänzend weist der Senat auf folgendes hin:

Nach der aktenkundigen Aussagen der Zeugin M. H gegenüber der Polizei und auch der Aussage des Klägers stellt sich dem Senat der äußere Ablauf der Geschehnisse am 01.03.2015 so dar, wie es das Amtsgericht Prenzlau im Beschluss vom 09.10.2015 festgestellt hat: Am 01.03.2015 gegen 01:15 Uhr kam es in der Wohnung, Gstraße 13 in P zunächst zu einer Auseinandersetzung zwischen dem Angeklagten und den Zeuginnen S. und S. W sowie nachfolgend zwischen dem Angeklagten und seiner Ehefrau. Der Kläger wollte den Streit schlichten und ging zwischen die Rangelei. Sodann wollte der Angeklagte die PkW-Schlüssel ergreifen, um mit dem Auto wegzufahren. Als der Kläger versuchte, den Angeklagten daran zu hindern, mit dem Fahrzeug loszufahren, schlug der Angeklagte dem Kläger ohne Vorankündigung in die rechte Gesichtshälfte. Der Kläger wehrte sich dagegen mittels eines Schlages in Richtung des Angeklagten. Bei diesem Schlag verletzte sich der Kläger und erlitt eine Fraktur der linken Mittelhand. In der weiteren Folge des Streits holte der Angeklagte ein Küchenmesser und richtete es auf den Kläger.

Diese Darstellung hat der Kläger auch in der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht vom 07.08.2019 bestätigt und mit eigenen Worten ebenso wiedergegeben. Nicht zu folgen vermag der Senat hingegen der Darstellung der von der Beklagten am 25.05.2016 vernommenen Zeugin S, die über ein Geschehen auch außerhalb der Wohnung, im Treppenhausflur und über eine selbstverletzende Handlung des Klägers berichtete. Zum einen ist die Aussage mit erheblicher zeitlicher Verzögerung zum Unfallereignis erfolgt, mehr als ein Jahr später. Zum anderen haben sowohl die Zeugin M. H als auch der Kläger übereinstimmend unmittelbar nach dem Unfall ausgesagt, dass der Hergang sich ausschließlich im Wohnungsbereich, wie vom Senat festgestellt, stattgefunden hatte.

Der Unglücksfalls – ein bevorstehender Übergriff des Angeklagten A. H auf seine Ehefrau, die Zeugin M. W– war zur Überzeugung des Senats im Zeitpunkt der Verletzungshandlung jedoch bereits beendet.

Der Versicherungsschutz nach § 2 Abs. 1 Nr. 13 Buchst. a SGB VII besteht nur, solange der Unglücksfall oder die erhebliche Gesundheitsgefahr andauert und zu dessen bzw. deren Abwehr gehandelt wird (BSG, Urteil vom 18.11.2008, B 2 U 27/07 R, juris). Einen tätlichen Übergriffe/Angriff des erheblich alkoholisierten Angeklagten A. H auf dessen Ehefrau konnte der Kläger durch sein Eingreifen verhindern, verletzte sich jedoch nicht dabei.

Danach änderte sich die Handlungstendenz des Angeklagten, womit zwar keine zeitliche und räumliche, jedoch hinsichtlich der Angriffsrichtung eine hier maßgebliche Zäsur eintrat. Der Angeklagte A. H wollte – so alle Zeugenaussagen übereinstimmend – die Wohnung verlassen, was objektiviert wird durch seinen Griff nach den Pkw-Schlüsseln. Alle gehörten Zeugen schlossen darauf, dass er die Wohnung verlassen und mit dem Auto fortfahren wollte. Damit änderte der Angeklagte A. H seine Handlungsrichtung, die sich nicht mehr gegen seine Ehefrau richtete.

Hieran schloss sich ein neuer Handlungsstrang an, der sich nunmehr seitens des Angeklagten A. H direkt gegen den Kläger richtete, da dieser ihm angekündigt hatte, wenn er jetzt mit dem Auto fahre, dann ruf er die Polizei. Daraufhin richtete sich die Angriffsrichtung des Angeklagten A. H mit einem Faustschlag direkt gegen den Kläger, der sich im Sinne seiner Selbstverteidigung und dem Selbstschutz vor weiteren Schlägen mit einem gezielten Stoß seiner linken Hand in Richtung des Angeklagten A. H vor weiteren Schlägen zu schützen versuchte, jedoch hierbei mit der Faust am Angeklagten vorbeistreifte und in der Folge den Türrahmen traf, was zu den bekannten Verletzungsfolgen im Bereich der linken Hand führte.

Während dieses unmittelbar zur Verletzung führenden Handlungsablaufs stand der Kläger im Unfallzeitpunkt nicht unter dem Versicherungsschutz nach § 2 Abs. 1 Nr. 13 Buchst. a SGB VII. Soweit der Kläger den Angeklagten A. H von einer Trunkenheitsfahrt abhalten und damit die öffentliche Sicherheit schützen wollte, ist zwar in der konkreten Situation eine erhebliche abstrakte Gefahr zu erkennen. Das Ergreifen der Pkw-Schlüssel durch den alkoholisierten Angeklagten A. H stellt jedoch noch keine konkrete, d.h. Gefahr dar. Dies ist nur dann der Fall, wenn zur Zeit der Hilfeleistung eine akute Gefahr besteht (Bieresborn in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VII, 3. Aufl., § 2 SGB VII RdNr. 40; Stand: 15.01.2022). Zutreffend (§ 153 Abs. 2 SGG) hat das Sozialgericht insoweit darauf abgestellt, dass diese Gefahr zwar grundsätzlich abstrakt erheblich, jedoch nicht gegenwärtig war.

Ob eine gemeine Gefahr i.S.d. § 2 Abs. 1 Nr. 13a SGB VII „gegenwärtig“ ist und die zur Abwehr derselben ausgeführte Verletzungshandlung dem persönlichen Schutzbereich des SGB VII unterliegt, beurteilt sich korrespondierend zum persönlichen Anwendungsbereich des § 323c StGB. Danach ist als ein die Hilfspflicht auslösender Unglücksfall insbesondere die Straftat eines Dritten einzustufen, wenn ein erheblicher Schaden droht (BGH 3,66, 30,397, NJW 12, 1239, Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, 30. Auflage 2019, § 323c Rn. 7).

Nach diesen Kriterien geht der Senat nicht davon aus, dass im Zeitpunkt der Verletzungshandlung des Klägers die Gefahr einer Trunkenheitsfahrt durch den Angeklagten (§ 316 Abs. 1 und 2 StGB) bereits gegenwärtig war. Der Angeklagte A. H befand sich in diesem Zeitpunkt noch räumlich entfernt vom PKW in seiner Wohnung, hatte nach Überzeugung des Senats noch nicht die Wohnungstür durchschritten, noch nicht den Treppenflur des Hauses passiert und auch noch nicht den Pkw erreicht. Zum anderen hatte sich auch die Zeugin S vor die Wohnungstür gestellt, damit der Angeklagte die Wohnung mit dem Schlüssel nicht verlassen konnte.

Sofern der Angeklagte A. H den Kläger nach dessen Aufforderung, nicht mit dem Auto zu fahren, mit der Faust in die rechte Gesichtshälfte traf, erfolgte der danach mit der linken Hand vom Kläger geführte und zur Verletzung am Türrahmen führende Fausthieb in erster Linie zur Selbstverteidigung vor weiteren Schlägen des Angeklagten und in diesem konkreten Moment nicht zur Vereitelung eines gegen Dritte gerichteten Angriffs. So hatte es der Kläger bei seiner polizeilichen Vernehmung selbst bekundet: „Ich wollte ja nicht noch einmal geschlagen werden. Da der A sich diesmal heftig wehrte und wieder zum Schlag ausholte habe ich ihn dann auch ins Gesicht geschlagen. Ich glaube ich habe den hierbei am Kinn getroffen. Meine Faust ging jedenfalls an seinem Kinn vorbei und traf mit voller Wucht den Türrahmen. Dabei habe ich mir dann die Knochen in der linken Hand verletzt.“

Soweit der Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht auf Befragen weiterhin angegeben hatte, dass er am Tatabend „alle allgemein schützen“ wollte, folgt der Senat der Wertung des Sozialgerichts hierzu unter Verweis auf § 153 Abs. 2 SGG. Zudem sieht der Senat – wie ausgeführt – eine Zäsur hinsichtlich der einzelnen Angriffsrichtungen des Angeklagten, denen der Kläger zuerst durch unfallversicherte Hilfeleistung (für Dritte) und sodann mit nicht-unfallversicherter Selbstverteidigung begegnete. Die Berufung war deshalb zurückzuweisen.

Eine Beiladung des Landesamtes für Soziales und Versorgung hatte der Senat nicht vorzunehmen, da weder ein Fall des § 75 Abs. 1 noch des Abs. 2 SGG vorliegt. Streitgegenständlich im vorliegenden Gerichtsverfahren waren keine Leistungsansprüche des Klägers, sondern nur die (Nicht-)Feststellung eines (nicht) unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung stehenden Ereignisses.

Die Entscheidung über die Kosten stützt sich auf § 193 SGG und folgt der Entscheidung in der Hauptsache.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 Nr.1 und 2 SGG liegen nicht vor.

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