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Verletztenrente – Nachweis eines Gesundheitserstschadens

Ein Arbeitsunfall und seine Folgen: Streit um die Verletztenrente

Es ist der 6. Dezember 2017. Ein Mechaniker, geboren im Jahr 1971, ist mit seiner täglichen Arbeit beschäftigt – dem Abkleben einer defekten Scheibe an einem Fahrzeug. Während seiner versicherten Tätigkeit kommt es zu einem unglücklichen Zwischenfall. Ein weiteres Unfallfahrzeug wird mit einem Gabelstapler neben dem Fahrzeug abgesetzt, an dem der Mechaniker arbeitet. Die Fahrzeuge berühren sich, was zu einem Anprall an der Außenseite des rechten Kniegelenks des Mechanikers führt. Das Knie wird zusätzlich durch einen seitlichen Sprung verdreht. Ein verhängnisvoller Arbeitsunfall, der den Mechaniker nicht nur körperlich, sondern auch juristisch auf eine lange Reise schickt. Es entsteht ein Streit um die Gewährung weiterer Leistungen aufgrund dieses Arbeitsunfalles und die Anerkennung weiterer Unfallfolgen.

Direkt zum Urteil Az: L 2 U 54/20 springen.

Ein Unfall mit weitreichenden Folgen

Unmittelbar nach dem Unfall wird eine Kontusion und ein Distorsionstrauma des rechten Kniegelenks festgestellt. Trotz anhaltender Schmerzen wird der Mechaniker bereits am 15. Dezember 2017 wieder arbeitsfähig geschrieben. Bei einer MRT-Untersuchung werden diverse Vorerkrankungen des Knies festgestellt, darunter ein erosiver Defekt der zentralen Trochlea femoris und eine fokale Knorpelerosion. Die Mediziner berichten von einer Zerrung des medialen Kollateralbandes, jedoch ohne frische Verletzungszeichen.

Die medizinische Behandlung und ihre Herausforderungen

Trotz der Diagnosen klagt der Mechaniker weiterhin über Schmerzen und eine Schwellung des Knies. Ein stationärer Aufenthalt in einem Unfallkrankenhaus vom 24. bis zum 27. April 2018 bringt ebenfalls keine Besserung. Der Mechaniker gibt an, neben den Knieschmerzen auch starke Schmerzen in der linken Leiste und der Brustwirbelsäule zu verspüren.

Der Streit um die Verletztenrente

Die juristische Auseinandersetzung beginnt. Es geht um die Frage, ob der Mechaniker Anspruch auf weitere Leistungen aufgrund des Arbeitsunfalls hat und ob weitere Unfallfolgen anerkannt werden müssen. Der Fall wird vor das Landessozialgericht Hamburg gebracht. Nach eingehender Prüfung kommt das Gericht zu einem Urteil. Die Berufung des Mechanikers wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet und eine Revision wird nicht zugelassen.

Trotz aller medizinischen und juristischen Bemühungen bleibt die Anerkennung der Unfallfolgen und die Gewährung weiterer Leistungen eine Herausforderung. Eine Auseinandersetzung, die zeigt, wie komplex die Folgen eines Arbeitsunfalls sein können und wie schwierig es ist, rechtliche Ansprüche geltend zu machen.


Das vorliegende Urteil

Landessozialgericht Hamburg – Az.: L 2 U 54/20 – Urteil vom 20.10.2021

1. Die Berufung wird zurückgewiesen.

2. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

3. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Gewährung weiterer Leistungen aufgrund des Arbeitsunfalles vom 6. Dezember 2017 über den 29. April 2018 hinaus sowie um die Anerkennung weiterer Unfallfolgen.

Der 1971 in P. geborene Kläger erlitt am 6. Dezember 2017 gegen 14 Uhr einen Arbeitsunfall, als er bei seiner versicherten Tätigkeit als Mechaniker mit dem Abkleben einer defekten Schreibe an einem Fahrzeug beschäftigt war. Als neben diesem Fahrzeug ein weiteres Unfallfahrzeug mit einem Gabelstapler abgesetzt wurde, berührten sich die Fahrzeuge, wodurch es zu einem Anprall an der Außenseite des rechten Kniegelenkes des Klägers kam, und dieses zusätzlich durch einen seitlichen Sprung verdreht wurde. Der Kläger beendete seine Arbeitszeit um 17:00 Uhr und stellte sich am nächsten Tag beim Durchgangsarzt vor, der eine Kontusion und ein Distorsionstrauma des rechten Kniegelenkes feststellte. Voraussichtliche Arbeitsfähigkeit bestehe ab 15. Dezember 2017.

Am 15. Dezember 2017 wurde bei anhaltenden Schmerzen am Kniegelenk ein MRT durchgeführt, bei welchem eine regelrechte femorotibiale und femoropatellare Gelenkstellung festgestellt wurde. Es bestehe kein posttraumatisches Knochenmarködemkorrelat, vorbestehend seien ein rinnenförmig erosiver Defekt der zentralen Trochlea femoris sowie eine etwa 2,5 mm tiefe fokale Knorpelerosion retropatellar im zentralen Drittel der medialen Facette. Innenseitig femoral bestehe eine leichte ödematöse Imbibierung des medialen Kollateralbandes im Ansatzbereich und eine hämorrhagisch ödematöse partielle Maskierung des Ligamentum meniskofemorale. Insgesamt zeige sich eine stattgehabte Zerrung des medialen Kollateralbandes im femoralen Ansatz, wobei die Kniebinnenstrukturen ohne frische Verletzungszeichen seien. Vorbestehend sei eine Chondromalazie im Stadium III femoropatellar.

Im Nachschaubericht vom 8. Januar 2018 heißt es, der Patient beklage weiterhin einen lateralen Knieschmerz sowie einen anhaltenden Belastungsschmerz. Im Nachschaubericht vom 9. Februar 2018 wird berichtet, dass das rechte Knie noch eine deutliche Schwellung und Ergussbildung sowie Druckschmerz über dem lateralen Kompartiment aufweise.

Vom 24. April 2018 bis zum 27. April 2018 befand sich der Kläger in stationärer Behandlung im Unfallkrankenhaus B.. Im Entlassungsbericht vom 27. April 2018 berichtet Professor E., der Kläger habe mitgeteilt, er habe unmittelbar nach dem Unfall neben den Schmerzen im Knie auch starke Schmerzen in der linken Leiste und der Brustwirbelsäule verspürt. Der Versicherte habe in raumgreifendem Schritt das Untersuchungszimmer betreten. Keine Gangunsicherheit. Keine Hilfsmittel. Im Seitenvergleich erscheine das rechte Kniegelenk als frei beweglich ohne Bewegungseinschränkungen. Kein Anhalt eines Ergusses. Das Gelenk sei ligamentär stabil. Die Leistenschmerzsymptomatik sei als Leistenhernie befundet worden. Die Röntgendiagnostik der Brustwirbelsäule habe keinen Anhalt für frische ossäre Traumafolgen ergeben. Es liege eine Spondylosis deformans mäßigen Grades im Brustwirbelkörper (BWK) 8-10 rechts lateral vor. Ein MRT des Kniegelenks zeige keine Ödeme der ossären Strukturen. Kontinuierliche, intakte Darstellung des Kollateralbandes und der Kreuzbänder sowie der Retinacula Patellae. Es bestehe eine drittgradige Chondropathie im FP-Kompartiment. Ab dem 30. April 2018 bestehe Arbeitsfähigkeit.

Mit Bescheid vom 22. Mai 2018 erkannte die Beklagte das Ereignis vom 6. Dezember 2017 als Versicherungsfall an und stellte unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit und Behandlungs-bedürftigkeit bis 29. April 2018 fest. Leistungen über diesen Tag hinaus wurden abgelehnt. Zur Begründung führte die Beklagte aus, der Kläger habe am 6. Dezember 2017 einen Arbeitsunfall mit einer Distorsion des rechten Kniegelenkes erlitten. Diese Verletzung sei spätestens mit dem 29. April 2018 ausgeheilt gewesen. Alle weiteren Behandlungsnotwendigkeiten seien auf degenerative Veränderungen im Bereich des rechten Kniegelenkes sowie auf einen unfallunabhängigen Leistenbruch links und schicksalhafte Beschwerden der Brustwirbelsäule (BWS) zurückzuführen.

Im Rahmen des Widerspruchsverfahrens holte die Beklagte ein Zusammenhangsgutachten ein, welches der Unfallchirurg und Orthopäde Professor Dr. E. erstellte. Dieser führte am 7. November 2018 aus, in Zusammenschau der Befunde einschließlich der gutachterlichen Untersuchung sei davon auszugehen, dass das Unfallereignis vom 6. Dezember 2017 mit hinreichender Wahrscheinlichkeit Ursache der Zerrung des medialen Kollateralbandes und der damit einhergehenden Kniegelenksbeschwerden gewesen sei. Im MRT vom 24. April 2017 sehe man dabei keinen Nachweis weiterer Traumafolgen, die Kollateralbänder zeigten sich in Kontinuität vollständig erhalten, nicht elongiert. Es werde daher empfohlen, die Behandlung zulasten der Berufsgenossenschaft bis zum 29. April 2018 durchzuführen, die weiteren Behandlungen sollten dann zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung erfolgen. Bezüglich der BWS-Beschwerden zeige sich der Unfallmechanismus als ungeeignet zum Auslösen einer diskoligamentären Verletzung. Morphologisch zeigten sich multisegmentale degenerative Veränderungen mit Bandscheibenherniation in Deck- und Grundplatten der BWS und der Lendenwirbelsäule (LWS). Insgesamt sei hier von einem degenerativen Vorschaden auszugehen. Akute Traumafolgen ließen sich nicht nachweisen. Auf unfallchirurgischem Fachgebiet seien die Unfallfolgen mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von unter 10 vom Hundert (v.H.) zu bewerten. Ein Zusatzgutachten auf allgemeinchirurgischem Fachgebiet des Dr. T1 vom 14. Januar 2019 führt aus, hinsichtlich der operativ versorgten beidseitigen Leistenhernie sei ein Zusammenhang mit dem Unfallereignis aus allgemein- und viszeralchirurgischer Fachsicht nicht erkennbar. Nach Akten- und Anamneselage bestehe kein adäquates Trauma, um eine beiderseitige Leistenhernie hervorzurufen.

Mit Widerspruchsbescheid vom 27. März 2019 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers zurück. Ein ursächlicher Zusammenhang der vorliegenden Erkrankungen im Bereich der BWS sowie des linksseitigen Leistenbruches sei nicht hinreichend wahrscheinlich. Nachdem ärztlicherseits Arbeitsfähigkeit ab dem 30. April 2018 attestiert worden sei, habe die Gewährung von Leistungen über diesen Zeitraum hinaus nicht erfolgen können.

Mit der hiergegen erhobenen Klage hat der Kläger deutschsprachige Befunde seiner polnischen Ärzte eingereicht, in welchen es unter anderem heißt:

„Gesundheitszustand nach Prellung und Verstauchung des rechten Kniegelenkes. Chondromalazie der Kniescheibe III/IV und Trochlea osis femoris IV“ (Befundbericht vom 11. September 2018 des Orthopäden Dr. S.)

„Das Anfahren eines Fußgängers von einem Auto und dessen Stoßen für den Abstand von etwa 1,5 m, wobei der Fußgänger 180° rotierte und auf einen harten Boden gefallen ist, wobei er gleichzeitig einen schweren Gegenstand – in dem Fall eine technische Folie mit einem Gewicht von etwa 10 kg und der Länge von 80 cm in den Armen gehalten hat, kann als große körperliche Anstrengung angesehen werden, bei der es zu dem Entstehen der beiderseitigen Leistenhernien kommen könnte…“ (Befundbericht vom 7. Juli 2018 des Chirurgen Dr. S1)

„Die Änderung ist absolut auf das posttraumatische Änderung hinzuweisen, was ihr isolierter Charakter bezeugt sowie das Bild der anderen Wirbelkörper, wo man keine größeren Veränderungen sehen kann, bis auf die aufs Alter bezogenen“ (Befundbericht vom 20. November 2018 des Neurochirurgen Dr. B2)

„Am 6. Dezember 2017 erlitt Herr L. einen Arbeitsunfall auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland. Infolge einer schweren Verletzung entstanden Leistenhernien beidseits.“ (Befundbericht vom 2. Juli 2018 des Chirurgen Dr. D.)

Das Sozialgericht hat weitere Befundberichte der behandelnden Ärzte des Klägers eingeholt. Die Fachärztin für Psychiatrie Dr. R. hat die führende Diagnose F 43 (Reaktionen auf schwere Belastungen, Anpassungsstörungen) vermerkt und weiter ausgeführt:

„Seit einigen Monaten könne er nicht mit der eigenen Person klarkommen, bekomme gewaltige Anfälle von Wut und verbaler Aggressivität. Es lässt sich auf den vor ca. einem Jahr erlebten Unfall zurück zu führen – er sei von einem geparkten Auto überfahren worden, ohne Fahrer – ein Polytrauma, zahlreiche Körperverletzungen, ist nach Operation, eine orthopädische-neurologische Behandlung sei bereits abgeschlossen worden, klagt über Körperschmerzen… Die für den Unfall verantwortliche Firma fälsche die Dokumentation, wenn die Angelegenheit nicht der Kompetenz der Gewerkschaftsbunde zugeordnet werde, bekomme er keine Leistung, dabei habe der Patient eine Kompressionsfraktur von 3 Wirbeln und leicht gebrochene Deckplatte des BWK 8 sowie Verschmälerung des Bandscheibenfaches LWK/SWK 1-2.“

Des Weiteren hat das Sozialgericht Beweis erhoben durch Einholung eines chirurgischen Sachverständigengutachtens nach Aktenlage, welches Dr. T. am 19. Juni 2020 erstellt hat. Dieser hat ausgeführt, der Kläger habe bei dem Unfall eine Weichteil- und Blutergussschwellung am rechten Kniegelenk nach Prellung ohne Diskontinuität von sichernden ligamentären Strukturen beziehungsweise einer knöchernen Schädigung erlitten. In allen anfänglichen Befunden sei von weiterer Beschwerdesymptomatik an den Leisten oder der Wirbelsäule nicht berichtet worden. Bildgebende Verfahren vom 24. April 2018 hätten strukturelle Verletzungen am Kniegelenk nicht gezeigt, an der BWS seien degenerativ bedingte multisegmentale Veränderungen mit Bandscheibenvorwölbungen in Deck- und Grundplatte der BWS und LWS dokumentiert. Bei den im Verlauf berichteten Leistenbeschwerden handele es sich um Zufallsbefunde. Eine traumatische Genese eines Leistenbruchs sei nur dann zu diskutieren, wenn es aufgrund einer massiven Krafteinwirkung mit einem stumpfen Bauchtrauma, welches immer zu einer erheblichen intraabdominellen Begleitverletzung führe, gekommen sei. Ein solches Trauma habe hier aber nicht vorgelegen, weshalb weder der Leistenbruch noch die Bandscheibenschäden auf das Unfallereignis zurückzuführen seien. Eine Arbeitsunfähigkeit und Behandlungsbedürftigkeit könne im Zusammenhang mit der Prellung und Zerrung am rechten Kniegelenk für sechs Wochen angenommen werden. Eine MdE sei nicht eingetreten.

Das Sozialgericht hat mit Gerichtsbescheid vom 21. September 2020 die Klage abgewiesen und ausgeführt, der Arbeitsunfall, welchen der Kläger erlitten habe, habe maximal bis zum 29. April 2018 unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit und Behandlungsbedürftigkeit verursacht. Dies hätten alle im Verfahren gehörten Sachverständigen so bestätigt. Weitere Unfallfolgen als eine Kniegelenksdistorsion rechts seien durch den Unfall nicht eingetreten, insbesondere seien die geltend gemachten Wirbelsäulenerkrankungen und die beidseitige Leistenhernie nicht auf den Unfall mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zurückzuführen.

Der Kläger hat gegen den am 2. Dezember 2020 erneut abgesendeten Gerichtsbescheid am 22. Dezember 2020 Berufung eingelegt, mit welcher er sinngemäß vorträgt, das Gutachten des Dr. T. beruhe ausschließlich auf der Beurteilung der B. Klinik, wo man ihn fehlerhafter Weise ab dem 30. April 2018 wieder für arbeitsfähig gehalten habe. Dies sei schon deshalb fehlerhaft, weil die AOK B1 eine Weiterführung der Rehabilitation auch aufgrund der Knieverletzung für angeraten gehalten habe. Er sei vor dem Unfall völlig gesund gewesen, nur deshalb habe er für seinen Arbeitgeber schwere körperliche Arbeit leisten können. Degenerative Veränderungen hätte aber über Jahre entstehen und sich auch bemerkbar machen müssen. Da dies aber nicht der Fall sei, sei es bewiesen, dass diese Veränderungen auf den Unfall zurückzuführen seien. Dies habe auch die H. AG, von welcher er Leistungen auch wegen dieser Verletzungen erhalten habe, bestätigt.

Der Kläger beantragt, den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Hamburg und den Bescheid der Beklagten vom 22. Mai 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. März 2019 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger über den 29. April 2018 hinaus Leistungen aufgrund des Arbeitsunfalles vom 6. Dezember 2017 zu erbringen, sowie einen Wirbelsäulenschaden und eine Leistenhernie als Folgen des Unfalls vom 6. Dezember 2017 anzuerkennen.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend.

Der Senat hat eine ergänzende Stellungnahme des Dr. T. angefordert, welcher am 13. April 2021 ausgeführt hat, in allen anfänglichen ärztlichen Befundberichterstattungen sei über eine Beschwerdesymptomatik, zum Beispiel in den Leisten oder auch an der Wirbelsäule nicht berichtet worden. Dies habe der Durchgangsarzt Dr. G1 auch im Klageverfahren nochmals bestätigt. Die Kernspintomografie des rechten Kniegelenkes vom 13. Dezember 2017 zeige ödematöse Inhibierungen in den Weichteilen des Kniegelenkes außenseitig mit einer Ödematisierung des femoralen Ansatzes des Innenseitenbandes, sodass von Prellungen und Zerrungen auch anhand kernspintomografischer Untersuchungsergebnisse mit der hinreichenden Wahrscheinlichkeit ausgegangen werden könne. Zu einer strukturellen Verletzung im Sinne einer Kontinuitätsunterbrechung sei es jedoch am rechten Kniegelenk nicht gekommen und eine dann im Verlauf durchgeführte Kernspintomografie des rechten Kniegelenkes vom 24. April 2018 habe dies bestätigt. Die an diesem Tag zusätzlich durchgeführte Röntgenuntersuchung der Brustwirbelsäule habe Verschleißumformungen mit Betonung der Segmente BWK 8/9 sowie BWK 9/10 ohne knöcherne Traumafolgen dokumentiert. Damit seien degenerative Veränderungen der Wirbelsäule eindeutig bewiesen.

Eine traumatische Genese eines Leistenbruches sei überhaupt nur dann zu diskutieren, wenn es zu einer massiven Krafteinwirkung auf den Bauchraum gekommen sei, welche dann regelhaft zu einer intraabdominellen Begleitverletzung führe. Eine solche könne aus allen Unfallschilderungen nicht abgeleitet werden. Bei degenerativen Veränderungen handele es sich um langsam progrediente Prozesse, die dann zum Beispiel durch ein Anlassgeschehen in den Mittelpunkt rückten, wenngleich eine Kausalität zu einem bestimmten Ereignis nicht hergestellt werden könne.

Hinsichtlich des weiteren Vorbringens der Beteiligten und des Sachverhalts im Übrigen wird Bezug genommen auf den Inhalt der ausweislich der Sitzungsniederschrift vom 20. Oktober 2021 zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten Akten und Unterlagen.

Entscheidungsgründe

Die Berufung des Klägers ist statthaft (§§ 143, 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG)) und auch im Übrigen zulässig, insbesondere form- und fristgerecht (§ 151 SGG) erhoben. Sie ist indes nicht begründet.

Streitgegenstand ist, wie sich aus dem Vortrag des Klägers ergibt, auch wenn es sich im vom Sozialgericht formulierten Antrag des Klägers nicht widerspiegelt, nicht lediglich die Gewährung von Leistungen über den 29. April 2018 hinaus, sondern auch die Feststellung weiterer Unfallfolgen. Das Sozialgericht hat allerdings, wie sich aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung ergibt, hierüber mitentschieden, indem es ausgeführt hat, es seien die geltend gemachten Wirbelsäulenerkrankungen und die beidseitige Leistenhernie nicht auf den Unfall mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zurückzuführen. Da es das Sozialgericht nicht unterlassen hat, dieses Anliegen zu prüfen, handelt es sich insoweit nicht um ein „Heraufholen von Prozessresten“, welches regelmäßig nur mit Zustimmung der Beteiligten möglich wäre. Auch ein Fall des § 140 SGG liegt bei einer solchen Konstellation nicht vor, es handelt sich vielmehr um eine bloße Anpassung des klägerischen Antrags durch den Senat. Denn das LSG hat insoweit entsprechend § 133 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) durch eigene Auslegung des Vorbringens des Klägers in der ersten Instanz zu ermitteln, welchen Anspruch er wirklich erhoben hat und über dieses Begehren im Berufungsverfahren zu entscheiden, wenn der förmliche Antrag, über den das SG entschieden hat, damit nicht übereinstimmt (vgl. Bundessozialgericht <BSG>, Beschluss vom 2. April 2014 – B 3 KR 3/14 B, juris).

Jedoch hat der Kläger weder einen Anspruch auf Feststellung weiterer Unfallfolgen, noch auf Gewährung von Leistungen über den 29. April 2018 hinaus.

Ein Anspruch auf Feststellung einer Gesundheitsstörung als Unfallfolge nach § 102 des Siebten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VII) besteht, soweit jemand einen Gesundheitsschaden erlitten hat, der im Wesentlichen durch den Gesundheitserstschaden verursacht oder einem Versicherungsfall aufgrund besonderer Zurechnungsnormen zuzurechnen ist. Nach ständiger Rechtsprechung des BSG müssen die anspruchsbegründenden Tatsachen, nämlich die versicherte Tätigkeit, die schädigende Einwirkung und der Gesundheitserstschaden bzw. der Tod erwiesen sein. Dies bedeutet, dass bei vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens der volle Beweis für das Vorliegen der genannten Tatsachen als erbracht angesehen werden kann (BSG, Urteil vom 30. April 1985 – 2 RU 43/84, juris). Dagegen genügt hinsichtlich des ursächlichen Zusammenhangs eine hinreichende Wahrscheinlichkeit (BSG, Urteil vom 18. Januar 2011 – B 2 U 5/10 R, juris). Eine hinreichende Wahrscheinlichkeit ist dann anzunehmen, wenn bei vernünftiger Abwägung aller wesentlichen Gesichtspunkte des Einzelfalls mehr für als gegen einen Ursachenzusammenhang spricht, wobei dieser nicht schon dann wahrscheinlich ist, wenn er nicht auszuschließen oder nur möglich ist (BSG, a.a.O.). Die Kausalitätsbeurteilung hinsichtlich zunächst klar zu definierender Gesundheitsstörungen hat auf der Basis des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes über die Möglichkeit von Ursachenzusammenhängen zwischen bestimmten Ereignissen und der Entstehung bestimmter Krankheiten zu erfolgen. Das schließt eine Prüfung ein, ob ein Ereignis nach wissenschaftlichen Maßstäben überhaupt geeignet ist, eine bestimmte körperliche oder seelische Störung hervorzurufen, ob also die behauptete Ursache-Wirkungs-Beziehung durch wissenschaftliche Erkenntnisse untermauert plausibel ist. Kann ein behaupteter Sachverhalt nicht nachgewiesen oder der ursächliche Zusammenhang nicht wahrscheinlich gemacht werden, so geht dies nach dem Grundsatz der objektiven Beweislast zu Lasten des Beteiligten, der aus diesem Sachverhalt Rechte ableitet (BSG, Urteil vom 27. Juni 1991 – 2 RU 31/90, juris).

Im vorliegenden Verfahren sind Wirbelsäulen- und Leistenbeschwerden erstmals im April 2018 und somit über 4 Monate nach dem Unfallereignis dokumentiert, so dass es bezüglich dieser geltend gemachten Gesundheitsschäden bereits am Vorliegen eines im Vollbeweis festzustellenden Gesundheitserstschadens fehlt. „Gesundheitserstschaden“ ist jeder abgrenzbare Gesundheitsschaden, der unmittelbar durch eine versicherte Einwirkung objektiv und rechtlich wesentlich verursacht wurde, die durch ein- und dieselbe versicherte Verrichtung objektiv und rechtlich wesentlich verursacht wurde. Es handelt sich also um die ersten voneinander medizinisch abgrenzbaren Gesundheitsschäden (oder den Tod), die „infolge“ ein- und derselben versicherten Verrichtung eintreten (BSG, Urteil vom 24. Juli 2012 – B 2 U 9/11 R, juris). Dies kann hier bereits wegen des Fehlens entsprechender Feststellungen im Durchgangsarztbericht vom 15. Dezember 2017 (Dr. G1) und in den Nachschauberichten vom 8. Januar 2018 (Dr. G1) und vom 9. Februar 2018 (Dr. S2) nicht konstatiert werden. Wenn der Kläger nun vorträgt, er habe bereits unmittelbar nach dem Unfall entsprechend Schmerzen verspürt und dies auch angegeben, so ist dies zumindest nicht dokumentiert und geht damit zu Lasten des insoweit beweispflichtigen Klägers. Es ist aber auch nicht schlüssig, wenn man bedenkt, dass über vier Monate hinweg mehrere Ärzte diese Information über nicht ganz unerhebliche Beschwerden übersehen oder unterschlagen haben müssten. Andererseits ist nicht zu verkennen, dass im Verlauf des Verfahrens seit dem Unfall eine sich steigernde Dramatisierung des Unfallgeschehens und der Unfallfolgen durch den Kläger zu beobachten ist.

Darüber hinaus haben alle Gutachter, Professor Dr. E., Dr. T1 und Dr. T., übereinstimmend darauf hingewiesen, dass sowohl die Umformungen der Brustwirbelsäule als auch die beiderseitigen Leistenhernien degenerativer Natur seien und nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit auf den Arbeitsunfall zurückzuführen seien. Überzeugend und nachvollziehbar wird ausgeführt, dass die bildgebenden Verfahren an der Wirbelsäule eine Spondylosis deformans, also degenerative Veränderungen an den Wirbelkörpern (und Intervertebralräumen), die sich röntgenologisch als Unregelmäßigkeiten darstellen, hätten erkennen lassen. Ossäre Traumafolgen haben sich dagegen nicht finden lassen. Hinsichtlich der Leistenhernien fehlt es an weiteren intraabdominellen Bauchverletzungen infolge eines stumpfen Bauchtraumas, welche mit einer traumatischen Genese einhergehen müssten. Zu solchen Bauchverletzungen konnte indes das Unfallereignis auch nicht führen, weil der Kläger ausschließlich am Bein getroffen wurde und es zu einem schweren Sturz, einem Überrollen durch ein Fahrzeug oder einem anderen Geschehen, welches schwere Bauchverletzungen bewirken könnte, nicht gekommen ist. Soweit die vom Kläger überreichten Befunde polnischer Ärzte von einer Möglichkeit derartigen Folgen berichten, beruht dies zum einen auf dramatisierenden Unfallschilderungen des Klägers. Zum anderen führte die bloße Möglichkeit einer Verursachung, wie sie von Dr. S1 erörtert wird, noch nicht zu einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit und wäre damit unfallversicherungsrechtlich nicht relevant.

Ist weder der Wirbelsäulenschaden noch die beidseitige Leistenhernie Folge des Unfalls vom 6. Dezember 2017, so ist die Beklagte auch nicht wegen der alleinigen Unfallfolge, einer Distorsion des rechten Kniegelenks, zur Gewährung von Leistungen über den 29. April 2018 hinaus verpflichtet. Nach § 26 Abs. 1 SGB VII haben Versicherte nach Maßgabe der § 26 Abs. 2 ff. SGB VII und unter Beachtung der Vorschriften des SGB IX Anspruch auf u.a. Heilbehandlung, Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, Verletztengeld oder Verletztenrente. Anspruch besteht jedoch nur hinsichtlich solcher Gesundheitsstörungen, die mit der im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung notwendigen hinreichenden Wahrscheinlichkeit rechtlich wesentlich durch einen (entschädigungspflichtigen) Versicherungsfall nach § 8 SGB VII verursacht worden sind. Dies ist bei den persistierenden Kniebeschwerden des Klägers indes nicht der Fall. Allen gutachterlichen Einschätzungen zur Folge und auch unter Berücksichtigung der sich in den bildgebenden Verfahren zeigenden Befunde, war die Distorsion des rechten Kniegelenks spätestens mit Ablauf des 29. April 2018 vollständig ausgeheilt. Soweit also bei dem Kläger überhaupt ein Beschwerdebild verblieben ist, ist dieses auf die gleichfalls degenerative Chondromalazie des rechten (wie auch des linken) Kniegelenkes zurückzuführen, welche von allen Gutachtern wie auch von mehreren polnischen Ärzten des Klägers (Dr. S3, Dr. S.) festgestellt worden ist.

Dem steht weder entgegen, dass der Kläger über den 29. April 2018 hinaus Leistungen der Krankenversicherung erhalten hat, noch, dass eine private Versicherung dem Kläger wegen der geltend gemachten Beschwerden an Wirbelsäule und Leiste eine Entschädigung gezahlt hat. Dass die AOK B1 die weitere Rehabilitation des Klägers übernommen hat, ohne die Kosten bei der Beklagten geltend zu machen, spricht vielmehr dafür, dass zwar möglicherweise weiter Arbeitsunfähigkeit vorlag, diese aber gerade nicht mehr durch den Unfall bedingt war. Die Leistungsgewährung privater Versicherungsunternehmen folgt dagegen gänzlich anderen Maßstäben als die der gesetzlichen Unfallversicherung, zumal hier schon nicht ersichtlich ist, welche Art von Gesundheitsschäden in dem Versicherungsvertrag, den der Kläger mit der H. AG geschlossen hatte, überhaupt erfasst waren.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ausgang des Rechtsstreits. Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 SGG liegen nicht vor.

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