Landessozialgericht Berlin-Brandenburg – Az.: L 9 KR 233/20 – Urteil vom 27.04.2022
Die Berufung wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Übernahme der Kosten für cannabishaltige Arzneimittel.
Der am 1983 geborene Kläger ist bei der Beklagten krankenversichert. Seit dem zehnten Lebensjahr wird bei ihm eine Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) diagnostiziert. Zu seinen Symptomen zählen unter anderem Hyperaktivität, Schlafstörungen, Unruhe, Nervosität und Aufmerksamkeitsprobleme (ADHS vom kombinierten Typ).
Der Kläger war zunächst von April 1995 bis Mai 2002 beim Kinder- und Jugendtherapeuten W-D S in Behandlung. Die Behandlung erfolgte durch die Verordnung des Medikaments Ritalin (Wirkstoff: Methylphenidat), dessen regelmäßige Einnahme eine Besserung der Symptomatik des Klägers bewirkte. Es traten jedoch auch Nebenwirkungen in Form von Appetitlosigkeit auf.
Nach eigenen Angaben konsumierte der Kläger im Alter von 14 Jahren erstmals Cannabis, anhaltend bis heute, wobei er es gegenwärtig täglich in Form von cannabishaltigen Arzneimitteln einnimmt. Eine anderweitige regelmäßige medikamentöse Behandlung erfolgte zwischen 2002 und 2018 nicht mehr. Eine im Januar 2018 begonnene Behandlung mit dem Medikament Strattera (Wirkstoff Atomoxetin) wurde noch im selben Monat aufgrund von Nebenwirkungen abgebrochen.
Der Kläger beantragte mit bei der Beklagten am 3. Mai 2018 eingegangenem, formlosem Schreiben die Kostenübernahme für eine Therapie mit cannabishaltigen Arzneimitteln, ohne ein konkretes Präparat oder eine konkrete Dosierung zu benennen. Er begründete seinen Antrag im Wesentlichen damit, er habe im mittlerweile 18 Jahre andauernden Selbstversuch festgestellt, dass ihm der Konsum von Cannabis besser helfe als jedes Medikament. Der Konsum von Cannabis führe zu einer erheblichen Linderung seiner Symptome und zu einer enormen Steigerung seiner Lebensqualität. Seine als schwerwiegend einzustufende Erkrankung könne außerdem nicht mit Standardtherapien behandelt werden. Denn die Einnahme der Medikamente Ritalin und Concerta habe bei ihm zu erheblichen Nebenwirkungen geführt. Neben der unstreitig gegebenen Appetitlosigkeit habe die Behandlung auch zu Nebenwirkungen in Form von Schlafstörungen und Müdigkeit geführt. Er sei regelrecht ruhig gestellt worden und habe negative Auswirkungen auf seine Persönlichkeit bemerkt. Er fügte dem Antrag eine Schilderung seines Krankheitsverlaufs aus seiner Sicht, eine Bescheinigung des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. AK vom 19. Februar 2018 sowie einen ärztlichen Bericht seines früheren Kinderarztes W-D S vom 26. Februar 2018 bei. Bezüglich des Inhalts jener Dokumente wird auf Bl. 2 bis 9 ff des Verwaltungsvorgangs der Beklagten Bezug genommen. Eine ärztliche Verordnung von cannabishaltigen Arzneimitteln legte der Kläger zu diesem Zeitpunkt nicht vor.
Die Beklagte beauftragte daraufhin den Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) mit der Prüfung der vorgelegten ärztlichen Stellungnahmen sowie der Voraussetzungen für eine Kostenübernahme. Der MDK befürwortete die Kostenübernahme nicht; es handele sich um keine schwerwiegende Erkrankung und es stehe eine allgemein anerkannte und dem medizinischen Standard entsprechende medikamentöse Therapie zur Verfügung, der der Kläger sich seit Jahren entziehe; es bestehe eine Cannabis-Abhängigkeit mit Krankheitswert.
Mit Bescheid vom 18. Mai 2018 lehnte die Beklagte daraufhin die Kostenübernahme ab. Die Voraussetzungen für die Kostenübernahme lägen nicht vor. Die Kosten für cannabishaltige Arzneimittel seien nur unter sehr engen Voraussetzungen übernahmefähig. Es müsse sich einerseits um eine schwerwiegende Erkrankung handeln, für die keine alternative Behandlungsweise neben der Behandlung mit Cannabisarzneimitteln bestehe. Weiterhin müsse durch die Behandlung die Aussicht auf eine spürbar positive Beeinflussung des Krankheitsverlaufs oder schwerwiegender Symptome bestehen. Überdies müsse der Patient an einer anonymisierten Begleitstudie teilnehmen. Nach dem Ergebnis der Prüfung des MDK lägen die Voraussetzungen beim Kläger nicht vor. Insbesondere bestehe für seine Erkrankung eine alternative Behandlungsmethode in Form einer speziellen medikamentösen Therapie. Der Kläger werde seit Jahren nicht mehr medikamentös therapiert, obwohl diese Therapie in der Vergangenheit zu einer deutlichen Befundverbesserung geführt habe.
Zur Begründung seines hiergegen eingelegten Widerspruchs führte der Kläger an, die Ablehnung seines Antrags sei rechtsfehlerhaft. Die Voraussetzungen des § 31 Abs. 6 SGB V lägen vor. Ferner sei der Anspruch auf Kostenerstattung cannabishaltiger Arzneimittel nur in begründeten Ausnahmen abzulehnen. Es bestehe ein intendiertes Ermessen hinsichtlich der Stattgabe. Das Gutachten des MDK sei jedenfalls zur Begründung der Leistungsablehnung ungeeignet. Der MDK könne ohne die Prüfung des Heilmittelverzeichnisses, d.h. ohne Kenntnis der genauen medikamentösen Behandlung des Klägers, kaum beurteilen, ob eine ausreichende medikamentöse Standard-Therapie existiere. Das Vorliegen der Anspruchsvoraussetzungen ergebe sich außerdem deutlich aus den vorgelegten ärztlichen Stellungnahmen. Dr. K habe das Vorliegen einer schwerwiegenden Krankheit sowie die erheblichen Nebenwirkungen der Standard-Therapie bestätigt. Die Ausführungen des früheren Behandlers S zu den nur geringen Nebenwirkungen seien unzutreffend. Darüber hinaus werde um die Mitteilung konkreter Bedenken der Beklagten hinsichtlich der Verordnung der cannabishaltigen Arzneimittel durch einen Vertragsarzt gebeten.
Der MDK nahm im Auftrag der Beklagten eine erneute Prüfung des Antrags des Klägers vor. In seiner Stellungnahme vom 2. Oktober 2018 lehnte er das Vorliegen der Anspruchsvoraussetzungen für die Kostenübernahme erneut ab. Es fehle an einer schwerwiegenden Erkrankung sowie an der Alternativlosigkeit der Behandlung. Des Weiteren solle nach den interdisziplinären Evidenz- und konsensbasierten Therapierichtlinien „ADHS bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen“ (AWMF-Registernummer 028-045) Cannabis gerade nicht zur Behandlung von ADHS eingesetzt werden. Es bestünden weiterhin erhebliche Widersprüche zwischen den Darstellungen der Nebenwirkungen von Ritalin seitens des Klägers bzw. seines früheren Kinderarztes S. Diese könne auch das Gutachten des derzeitigen Behandlers Dr. K nicht auflösen.
Die Beklagte wies den Widerspruch des Klägers mit Bescheid vom 7. November 2018 unter Verweis auf die Feststellungen des MDK zurück.
Mit der am 10. Dezember 2018 beim Sozialgericht Berlin eingegangenen Klage verfolgt der Kläger sein Ziel der Kostenübernahme durch die Beklagte weiter. Einen Hinweis des Sozialgerichts, wonach für einen Anspruch auf Kostenübernahme der Nachweis der ärztlichen Verordnung cannabishaltiger Arzneimittel erforderlich sei, hat der Kläger für unrichtig gehalten; die Ausstellung einer vertragsärztlichen Verordnung sei keine Anspruchsvoraussetzung. Dies sei in Anbetracht der kurzen Gültigkeit eines entsprechenden Betäubungsmittelrezepts von nur sieben Tagen nach der Ausstellung und der zu erwartenden Dauer des Genehmigungsverfahrens sinnlos. Es müsse ohnehin nach Erteilung der Genehmigung durch die Beklagte ein neues Rezept ausgestellt werden. Darüber hinaus habe er einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch, denn die Beklagte sei im Widerspruchsverfahren explizit darum gebeten worden, Bedenken hinsichtlich der korrekten vertragsärztlichen Verordnung mitzuteilen. Später hat der Kläger fünf auf ihn zwischen dem 20. März 2019 und dem 4. November 2019 ausgestellte Rezepte des Dr. K für unterschiedliche Cannabisblüten vorgelegt.
Das Sozialgericht Berlin hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 8. Januar 2020 abgewiesen. Die zulässige Klage sei unbegründet. Das Gericht hat seine Entscheidung im Wesentlichen damit begründet, dass die Voraussetzungen des § 31 Abs. 6 SGB V nicht vorlägen. Es fehle bereits an einer schwerwiegenden Erkrankung des Klägers. Der Begriff der schwerwiegenden Erkrankung könne wie der beim sogenannten Off-Label-Use verwendete Erkrankungsbegriff in § 35c Abs. 2 Satz 1 SGB V verstanden werden. Es müsse sich um eine Erkrankung handeln, die sich durch ihre Schwere oder Seltenheit vom Durchschnitt der Erkrankungen abhebe und die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtige. Auch bei einem weiten Begriffsverständnis sei im vorliegenden Fall keine entsprechende Erkrankung anzunehmen. Außerdem bestehe für die Erkrankung des Klägers eine alternative Behandlungsmethode in Form der medikamentösen Therapie. Das Argument des Klägers, er habe im Selbstversuch festgestellt, dass Cannabisprodukte eine gute Linderung seiner Symptome bewirkten, verfange nicht. Eine solche Feststellung reiche bei einer diagnostizierten Suchterkrankung nicht aus, da es jedem Suchterkrankten aus seiner subjektiven Sicht mit der suchtauslösenden Substanz besser gehe als ohne diese.
Der Gerichtsbescheid ist dem Prozessbevollmächtigten des Klägers am 13. Januar 2020 von der Geschäftsstelle des Sozialgerichts als elektronisches Dokument (besonderes elektronisches Anwaltspostfach, beA) übersandt worden. Die Beklagte hat den Erhalt des Gerichtsbescheides mit Empfangsbekenntnis am 14. Januar 2020 bestätigt. Ein Rücklauf des Empfangsbekenntnisses seitens des Prozessbevollmächtigten des Klägers war zunächst trotz dreifacher Erinnerung nicht zu verzeichnen. Später gelangte ein elektronisches Empfangsbekenntnis des Prozessbevollmächtigten des Klägers zu den Akten, das den 16. April 2020 als Zustellungstag angibt.
Am 13. Mai 2020 hat der Kläger gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin Berufung eingelegt. Es liege entgegen der Ansicht des Sozialgerichts Berlin eine schwerwiegende Erkrankung vor. Dr. K habe ausdrücklich das Vorliegen einer solchen bestätigt. Dies ergebe sich aus den unüberlegten, unreflektierten Handlungen, der wechselhaften Gemütslage mit fehlender Affektkontrolle, der ausgeprägten Stresssensibilität, der insgesamt stark verminderten Leistungsfähigkeit und den Schwierigkeiten bei der Selbstorganisation des Klägers. Diese Symptome ließen sich durch die Behandlung mit cannabishaltigen Arzneimitteln auf ein erträgliches Maß reduzieren. Weiterhin liege eine nachhaltige und andauernde Beeinträchtigung der Lebensqualität vor. Ohne entsprechende Medikation mit Cannabis werde es zu einer kurzfristigen erheblichen Verschlechterung seiner Symptome kommen. Er könne dann seinen Beruf nicht mehr ausüben und es drohe eine soziale Isolation. Überdies fehle es an einer alternativen Behandlungsmethode. Die standardmäßige medikamentöse Behandlung sei entgegen den Feststellungen des Sozialgerichts Berlin in seinem Falle nicht möglich. Er sei bereits damit behandelt worden, ohne dass es zu einer wesentlichen Symptomverbesserung gekommen sei. Er habe darüber hinaus erhebliche Nebenwirkungen in Form von Bluthochdruck erlitten. Zudem sei er auch nicht suchterkrankt. Es bestehe keine Cannabis-Abhängigkeit. Im Februar 2020 sei auf Veranlassung des Landesamtes für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten Berlin eine medizinisch-psychologische Fahreignungsprüfung vorgenommen worden. Im Rahmen dieser Untersuchung sei festgestellt worden, dass neben der täglichen Einnahme der vertragsärztlich verordneten cannabishaltigen Arzneimittel kein Beigebrauch anderer Substanzen, insbesondere nicht von illegal erlangtem Cannabis, erfolge und dass die Cannabistherapie zu einer deutlichen Besserung der Symptome des Klägers geführt habe.
Der Kläger beantragt sinngemäß, den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 8. Januar 20 sowie den Bescheid der Beklagten vom 18. Mai 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. November 2018 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die Kosten für eine Therapie des Klägers mit cannabishaltigen Arzneimitteln zu übernehmen.
Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Sie verweist im Wesentlichen auf ihren bisherigen Vortrag sowie auf die Begründung des Gerichtsbescheids des Sozialgerichts Berlin. Ergänzend führt sie aus, dass das Vorliegen einer schwerwiegenden Erkrankung durch den MDK nicht bestätigt worden sei. Es sei vom Kläger ferner nicht glaubhaft gemacht worden, dass keine alternative Behandlungsmethode bestehe. Insbesondere ergebe sich aus der Stellungnahme des Facharztes S, dass die Behandlung mit Ritalin nebenwirkungsarm und erfolgreich verlaufen sei. Die Standardtherapien seien vom Kläger in der Vergangenheit nur unzureichend in Anspruch genommen worden. Die Stellungnahme von Dr. K genüge außerdem nicht den Anforderungen an die inhaltliche Qualität einer „begründeten Einschätzung“ des behandelten Vertragsarztes im Sinne des § 31 Abs. 6 SGB V. Sie enthalte keine konkrete Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen unter Berücksichtigung des Krankheitszustands des Klägers und keine hinreichende Darstellung, wieso die anerkannten Behandlungsmethoden im vorliegenden Fall nicht zur Anwendung kommen können. Irgendwelche medikamentösen oder nicht-medikamentösen Therapiemaßnahmen seien aus den Leistungsdaten der letzten Jahre nicht ersichtlich.
Mit Beschluss vom 4. März 2021 hat der Senat den Rechtsstreit dem Berichterstatter übertragen, damit dieser mit den ehrenamtlichen Richtern entscheide.
Die Beteiligten haben der Entscheidung ohne mündliche Verhandlung schriftlich zugestimmt.
Wegen des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird im Übrigen auf den Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs der Beklagten Bezug genommen, der, soweit wesentlich, Gegenstand der Beratung und der Entscheidungsfindung war.
Entscheidungsgründe
Der Senat hat über die Berufung gemäß § 153 Abs. 5 Sozialgerichtsgesetz (SGG) in der Besetzung durch den Berichterstatter und die ehrenamtlichen Richter entschieden, weil das Sozialgericht über die Klage durch Gerichtsbescheid entschieden und der Senat die Berufung durch Beschluss vom 4. März 2021 dem Berichterstatter zur Entscheidung zusammen mit den ehrenamtlichen Richtern übertragen hat. Zwar haben die Beteiligten auch ihr Einverständnis zu einer Entscheidung durch den Berichterstatter (welcher hier der Senatsvorsitzende ist) allein erklärt, § 155 Abs. 4 SGG; angesichts der Bedeutung der Sache für den Kläger übt der Berichterstatter sein Ermessen (vgl. hierzu Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Auflage 2020, RdNr. 13 zu § 155) in Bezug auf die Senatsbesetzung aber dahingehend aus, die ehrenamtlichen Richter in die Entscheidungsfindung einzubeziehen. Hiervon hatten die Beteiligten auch Kenntnis.
Aufgrund des Einverständnisses der Beteiligten durfte der Senat gemäß § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheiden.
Die Berufung des Klägers hat keinen Erfolg.
Es bestehen bereits gravierende Bedenken hinsichtlich der Zulässigkeit der Berufung, denn viel spricht dafür, dass sie nicht fristgemäß innerhalb eines Monats gemäß § 151 Abs. 1 SGG eingegangen ist. Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts wurde laut Ab-Vermerk am 13. Januar 2020 per beA an den Prozessbevollmächtigten des Klägers übermittelt. Trotz dreier Aufforderungen des Sozialgerichts zur Rückübersendung des elektronischen Empfangsbekenntnisses und entgegen seiner anwaltlichen Pflichten aus § 14 Satz 1 BORA und § 31a Abs. 6 BRAO sandte der Prozessbevollmächtigte des Klägers das Empfangsbekenntnis erst am 16. April 2020 an das Sozialgericht zurück. Ob das im Empfangsbekenntnis angegebene Zustellungsdatum unrichtig ist und sich eine Zustellung zu einem früheren Zeitpunkt derart nachweisen lässt, dass die Beweiskraft des Empfangsbekenntnisses gem. § 174 Abs. 4 Satz 3 ZPO vollständig entkräftet wird (vgl. LSG Bayern, Beschluss vom 13.04.2017, Aktenzeichen L 11 AS 842/16, zitiert nach juris, dort Rdnr. 12), kann jedoch dahinstehen.
Weiter lässt der Senat zugunsten des Klägers offen, ob der aus dem Vortrag des Klägers ermittelbare Antrag dem Bestimmtheitsgrundsatz genügt, da insbesondere bei cannabishaltigen Arzneimitteln wegen der unterschiedlichen medizinischen Indikationen eine Konkretisierung des klägerischen Begehrens (Bezeichnung und Dosierung des begehrten Präparats) zu verlangen ist (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 18. November 2020, L 4 KR 490/19; LSG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 26. Juni 2019, L 5 KR 71/19 B ER; SG Hannover, Urteil vom 12. August 2019, S 10 KR 1421/16). Da der anwaltlich vertretene Kläger trotz entsprechender gerichtlicher Hinweise weder im erstinstanzlichen Verfahren noch im Berufungsverfahren einen konkreten Antrag formuliert hat, ist das Begehren des Klägers gem. § 123 SGG i.V.m. § 133 BGB auszulegen. Aus dem formlosen Schreiben des Klägers an die Beklagte vom 3. Mai 2018, der Klageschrift und der Berufungsbegründung wird eindeutig ersichtlich, dass der Kläger „die Kostenübernahme für eine Therapie mit Cannabis bzw. Cannabinoiden nach § 31 Abs. 6 SGB V“ begehrt. Ein konkretes Präparat und eine entsprechende Dosierung werden hingegen nicht genannt. Auch die Stellungnahme des Arztes Dr. K lässt diese Frage unbeantwortet. Darin heißt es, dass „die optimale Darreichungsform und die Dosierung erst im Laufe der Therapie ermittelt werden (müsse), so dass hierzu bisher keine Angaben möglich“ seien. Aus den später „zur Kenntnisnahme“ vom Prozessbevollmächtigten des Klägers übersandten Rezepten lässt sich nur eine regelmäßige Verordnung von 5g Cannabisblüten verschiedener Art (Orange No. 11, 5 g, 4 x 25 mg/d; Bedrobinol 13/1, 5 g, 4 x 25 mg/d; Bedrocan 22/1, 5 g, 4 x 250 mg; Pedanios 22/1, 5 g, 4 x 25 mg/d) entnehmen. Ob dies zu einer hinreichenden Konkretisierung des klägerischen Begehrens führt, kann offen bleiben.
Denn die Berufung ist jedenfalls unbegründet. Die Ablehnung der Kostenübernahme durch die Beklagte ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger hat gegenüber der Beklagten nach derzeitiger Rechtslage keinen Anspruch auf Übernahme der Kosten einer Therapie mit cannabishaltigen Arzneimitteln.
Rechtliche Grundlage des Anspruchs auf Kostenübernahme für cannabishaltige Arzneimittel ist § 31 Abs. 6 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V). Danach haben Versicherte mit einer schwerwiegenden Erkrankung Anspruch auf Versorgung mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten in standardisierter Qualität und auf Versorgung mit Arzneimitteln mit den Wirkstoffen Dronabinol oder Nabilon, wenn
1. eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung
a. nicht zur Verfügung steht oder
b. im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung der behandelnden Vertragsärztin oder des behandelnden Vertragsarztes unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes der oder des Versicherten nicht zur Anwendung kommen kann,
2. eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht.
Die Leistung bedarf bei der ersten Verordnung für eine Versicherte oder einen Versicherten zudem der nur in begründeten Ausnahmefällen abzulehnenden Genehmigung der Krankenkasse, die vor Beginn der Leistung zu erteilen ist.
Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 31 Abs. 6 SGB V liegen zur Überzeugung des Senats in mehrfacher Hinsicht nicht vor.
Es fehlt zunächst bereits an einer schwerwiegenden Erkrankung des Klägers. Eine solche ist gegeben, wenn die Erkrankung lebensbedrohlich ist oder sie aufgrund der Schwere der durch sie verursachten Gesundheitsstörungen die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigt (vgl. BSG, Urteil vom 15. Dezember 2015, B 1 KR 30/15). Diese in der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zum sog. Off-Label-Use entwickelte Definition ist auch im Rahmen von § 31 Absatz 6 SGB V anwendbar (vgl. Senat, Urteil vom 14. April 2021, L 9 KR 402/19; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 19. September 2017, L 11 KR 3414/17 ER-B; LSG Hessen, Beschluss vom 21. November 2017, L 8 KR 406/17 B ER; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 1. Dezember 2020, L 16 KR 424/20 B ER). ADHS ist jedenfalls keine lebensbedrohliche Erkrankung (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 25. Februar 2019, L 11 KR 240/18 B ER). Ob die Schwere der durch ADHS verursachten Gesundheitsstörungen „die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigt“, ist vom Einzelfall abhängig; vorliegend spricht nichts dafür. Zwar leidet der Kläger nach eigenen Angaben ohne Eigen-Medikation mit Cannabis unter Symptomen wie erheblichen Aufmerksamkeitsproblemen, einer gesteigerten Impulsivität und einer erhöhten Risikobereitschaft. Nach dem Erhalt des Realschulabschlusses brach er zudem sowohl eine Ausbildung zum Elektroinstallateur als auch den Versuch der Erlangung des Fachabiturs nach wenigen Monaten ab. Zu diesem Zeitpunkt brach er auch die ärztliche Behandlung ab. Andererseits gelang es dem Kläger ab seinem 19. Lebensjahr dreieinhalb Jahre erfolgreich bei der Luftwaffe zu arbeiten, bis er aufgrund seines Cannabiskonsums entlassen wurde. Er begann nach der Entlassung eine Ausbildung als Fachinformatiker, die er im Jahr 2010 erfolgreich abschloss. Seitdem ist er bis heute ohne Unterbrechungen beruflich tätig. Er war demnach durchgehend im Stande, sich durch Erwerbstätigkeit eine Lebensgrundlage zu schaffen. Er führt überdies seit Jahren eine feste Beziehung und hat eine Familie gegründet. Der Lebenslauf des Klägers zeigt mithin trotz der belastenden Einschränkungen eine positive Entwicklung sowie seine Fähigkeit, dauerhafte menschliche Beziehungen aufrecht zu erhalten, sich ausreichende Strukturen für eine selbstbestimmte Lebensführung zu schaffen und sich im Berufsleben zu bewähren. Zudem ist im Falle des Klägers gerade im Vergleich mit den Fällen, in denen in der Rechtsprechung bei ADHS-Erkrankten eine schwerwiegende Erkrankung angenommen wurde (vgl. SG Frankfurt a. M., Gerichtsbescheid vom 11. Oktober 2021, S 25 KR 313/18; SG Koblenz, Beschluss vom 5. Oktober 2017, S 11 KR 558/17 ER), keine ausreichende Schwere der Einschränkungen gegeben. Es fehlt im Gegensatz zu diesen Fällen bspw. an entsprechenden Indizien für die Schwere der Beeinträchtigung wie dem Zusammentreffen mehrerer Erkrankungen mit dem ADHS, fehlendem Schulabschluss, häufigem Jobwechsel, der Eintragung eines Behinderungsgrades, häufigen ADHS-bedingten Unfällen und Verletzungen oder einem erheblichen Ausschluss vom sozialen Umfeld. Eine Schwere der Beeinträchtigungen ergibt sich auch nicht aus der Stellungnahme von Dr. K, die signifikant oberflächlich bleibt. Die Frage, ob eine schwerwiegende Erkrankung vorliege, beantwortete jener mit einem knappen „Ja“ und einer anschließenden Wiedergabe der Definition der schwerwiegenden Erkrankung ohne jeglichen Bezug auf den konkreten Einzelfall. Eine derart unbegründete Einschätzung ohne Einzelfallbezug ist als Nachweis einer besonderen Belastung des Klägers von vornherein ungeeignet. Insbesondere belegt die Stellungnahme auch nicht, dass der Kläger, wie von ihm vorgetragen, nur aufgrund seines dauerhaften Cannabiskonsums in der Lage gewesen sei, sein Leben so erfolgreich zu führen. Dies ergibt sich aus keiner der vorgelegten ärztlichen Stellungnahmen und ist demnach nicht ärztlich belegt. Zusammenfassend besteht daher keine ausreichend massive Einschränkung der Lebensqualität des Klägers, um eine „schwerwiegende Erkrankung“ annehmen zu können.
Unabhängig davon liegt keine „begründete Einschätzung“ eines behandelnden Vertragsarztes vor, wonach die allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung für ADHS im konkreten Einzelfall nicht zur Anwendung kommen kann, § 31 Abs. 6 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b) SGB V. Das Gesetz überantwortet damit die Verantwortung für den Therapieversuch dem behandelnden Arzt und begründet für diesen eine Einschätzungsprärogative. Kehrseite davon ist allerdings, dass der behandelnde Arzt/die Ärztin die entsprechende Einschätzung begründet nach außen darlegt und damit vor allem die (ärztliche) Verantwortung für den Therapieversuch wahrnimmt (vgl. Senat, Urteil vom 14. April 2021, L 9 KR 402/21, zitiert nach juris, dort Rdnr. 28).
Davon ausgehend genügt die Stellungnahme des Dr. K wiederum nicht den gesetzlichen Erfordernissen. Erforderlich ist insoweit eine Beurteilung des behandelnden Arztes unter Auseinandersetzung mit den individuellen Verhältnissen des Versicherten, des Krankheitszustandes und der bisherigen Therapieversuche sowie unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen (vgl. BT-Drucks. 18/10902, S. 19; BT-Drucks. 18/8965, S. 24; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 1. Oktober 2018, L 11 KR 3114/18 ER-B; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 30. Januar 2019, L 11 KR 442/18 B ER; LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 20. Dezember 2018, L 5 KR 125/18; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 25. März 2019, L 1 KR 168/18). Schließlich muss die Einschätzung in sich schlüssig und nachvollziehbar sein; sie darf nicht im Widerspruch zum Akteninhalt im Übrigen stehen (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 25. Februar 2019, L 11 KR 240/18 B ER; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 17. Februar 2021, L 11 KR 3869/20 ER-B).
Hier fehlt es an diesen Voraussetzungen: Zunächst werden die Nebenwirkungen der medikamentösen Therapie von ADHS in der Stellungnahme nur ganz allgemein nach Art eines Textbausteins über die grundsätzlichen Erfahrungen mit von ADHS Betroffenen und damit nur unzureichend abgehandelt (Frage 10 des Fragebogens, Bl. 5 der Verwaltungsakte). Auf eine Analyse oder auch nur Skizzierung der individuellen Situation des Antragsstellers wird gänzlich verzichtet. Insoweit beschränkt sich der behandelnde Arzt Dr. K auf die Annahme, dass der Antragsteller zu dem Drittel der schwer von Nebenwirkungen betroffenen ADHS-Erkrankten zähle und bei männlichen Patienten Nebenwirkungen in Form von Bluthochdruck zu berücksichtigen seien. Konkrete Nebenwirkungen und die Umstände ihres Auftretens werden nicht genannt. Die Stellungnahme lässt auch jegliche Auseinandersetzung des behandelnden Arztes mit den früheren Therapieversuchen vermissen. Fachärztliche Angaben zur Frage des Verlaufs früherer Therapien, zu deren Erfolg und zu deren ggf. bestehenden Nebenwirkungen fehlen gänzlich (Frage 9 des Fragebogens, Bl. 5 der Verwaltungsakte). Insbesondere werden auch die Widersprüche zwischen den vom Kläger geschilderten starken Nebenwirkungen und den vom früheren Behandler geschilderten milden Nebenwirkungen nicht angesprochen oder aufgeklärt. Auf den vom Kinderarzt gesehenen Behandlungserfolg mit Ritalin wird nicht eingegangen. Stattdessen wird in knappen feststellenden Sätzen ohne weitere Begründung der Schilderung des Klägers gefolgt. Warum entgegen der Einschätzung des früheren behandelnden Arztes S, dass die Behandlung mit Ritalin erfolgreich und nebenwirkungsarm verlaufen sei, ein erfolgloses Ausschöpfen der Standardtherapien gegeben sein soll, erschließt sich nicht. In das Gesamtbild fügt sich auch ein, dass weder Angaben zur Erstvorstellung des Klägers bei Dr. K noch zu den bisher erfolgten Sitzungen oder zu den konkreten bisherigen Therapieversuchen gemacht werden. Es lässt sich folglich nicht erkennen, auf welcher Grundlage die frühere Diagnose des seit 2002 nicht mehr behandelten Patienten durch Dr. K überprüft und die vom Kläger geschilderten Symptome ärztlich festgestellt wurden.
Auf die weiteren Tatbestandsvoraussetzungen kommt es nicht mehr an. Es kann daher auch offen gelassen werden, ob der Kläger suchterkrankt ist oder nicht und ob dies eine Kontraindikation für eine Cannabistherapie darstellt (vgl. LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 17. Februar 2021, L 11 KR 3869/20 ER-B; LSG Bayern, Beschluss vom 7. November 2019, L 4 KR 397/19 B ER).
Die Kostenentscheidung beruht auf §193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision gem. § 160 Abs. 2 SGG sind nicht ersichtlich.