Skip to content
Menü

Voraussetzung für die Erhöhung eines Einzel-GdB bei der Bildung des Gesamt-GdB

Landessozialgericht Berlin-Brandenburg – Az.: L 13 SB 32/08 – Urteil vom 19.12.2011

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt (Oder) vom 30. Oktober 2007 wird zurückgewiesen.

Eine Kostenerstattung findet auch für das Berufungsverfahren nicht statt.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Höhe des Grades der Behinderung (GdB).

Der Beklagte hatte bei der 1950 geborenen Klägerin ab August 2004 einen GdB von 40 festgestellt. Deren Verschlimmerungsantrag vom 20. Oktober 2005 lehnte er nach versorgungsärztlicher Auswertung der eingeholten ärztlichen Unterlagen mit Bescheid vom 14. Februar 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Oktober 2006 ab. Dem legte er folgende (verwaltungsintern mit den aus den Klammerzusätzen ersichtlichen Einzel-GdB bewertete) Funktionsbeeinträchtigungen zugrunde:

a) Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, Osteoporose (40),

b) Funktionsbehinderung des Ellenbogengelenks beidseitig (10).

Mit der Klage bei dem Sozialgericht Frankfurt (Oder) hat die Klägerin die Feststellung eines GdB von mindestens 50 begehrt. Das Sozialgericht hat u.a. das im Rentenstreitverfahren erstattete Gutachten des Chirurgen Dr. B vom 1. September 2006 beigezogen und dessen Gutachten vom 6. März 2007 eingeholt. Der Sachverständige hat den GdB auf 30 eingeschätzt. Als Behinderungen hat er degenerative Veränderungen und Fehlhaltung der Wirbelsäule mit wiederkehrenden muskulären Reizzuständen und Osteoporose festgestellt.

Mit Urteil vom 30. Oktober 2007 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen: Bei der Klägerin liege kein GdB von 50 vor. Unabhängig von der Einschätzung des Wirbelsäulenleidens durch den Gutachter sei hierfür jedenfalls kein Einzel-GdB von mehr als 40 angemessen. Die Ellenbogenerkrankung der Klägerin sei nach der Operation nicht mehr als Behinderung einzustufen.

Mit der Berufung verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Sie ist der Ansicht, dass nicht alle Erkrankungen berücksichtigt worden seien.

Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung des Gutachtens des Orthopäden Dr. Z vom 4. Mai 2010, der nach Untersuchung der Klägerin einen Gesamt-GdB von 40 für gerechtfertigt gehalten hat. Hierbei seien hauptsächlich die funktionellen Ausfälle und Beschwerden an der Wirbelsäule zu berücksichtigen.

Auf den Antrag der Klägerin nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ist der Orthopäde Dr. A gehört worden. In seinem Gutachten vom 7. Juni 2010 hat er den GdB bei der Klägerin auf 50 eingeschätzt, den er aus folgenden Einzel-GdB gebildet hat:

a) chronisches Schmerzsyndrom mit überwiegend körperlichen Folgen, Hals-, Brust- und Lendenwirbelsäulen-Syndrom, Lendenwirbelsäulenskoliose (Seitausbiegung) mit Drehgleitphänomenen (40),

b) schmerzhafter Umgebungsreizzustand beider Schultergelenke mit endgradiger Bewegungseinschränkung, Zustand nach beidseitiger Tennisellenbogen-Operation mit Bewegungseinschränkungen des rechten Ellenbogengelenks (10),

c) Hüftverschleiß beidseits, Knieverschleiß mit Streckhemmung, Spreizfußbeschwerden (20),

d) chronischer Schmerz mit psychischen Veränderungen, Firbromyalgiesyndrom (20),

e) Krampfaderbildung der Beine, links mehr als rechts (20).

Der Senat hat ferner das Gutachten der Urologin D vom 29. Oktober 2011 eingeholt, die nach Untersuchung der Klägerin für die von ihr festgestellte Behinderung

Entleerungsstörung der Blase

einen Einzel-GdB von 10 vorgeschlagen hat.

Ergänzend hat die Klägerin neben einem Miktionsprotokoll (für den Zeitraum vom 24. bis zum 26. Oktober 2011) den Arztbrief der Kardiologischen Klinik des Klinikums B vom 12. September 2011 zu den Akten gereicht und vorgebracht, dass ihr Geruchs- und Geschmackssinn seit einem Fahrradunfall im August 2008 eingeschränkt sei.

In der mündlichen Verhandlung vom 19. Dezember 2011 hat der Senat das Verfahren mit Wirkung vom 1. September 2011 abgetrennt.

Die Klägerin beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt (Oder) vom 30. Oktober 2007 aufzuheben sowie den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 14. Februar 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Oktober 2006 zu verpflichten, bei ihr für den Zeitraum vom 20. Oktober 2005 bis zum 31. August 2011 einen Grad der Behinderung von 50 festzustellen.

Der Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen, soweit der Rechtsstreit nicht abgetrennt ist.

Er hält an seiner Entscheidung unter Verweisung auf die von ihm vorgelegten versorgungsärztlichen Stellungnahmen, insbesondere der Chirurgin Dr. W vom 1. Dezember 2010, fest.

Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Ferner wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs der Beklagten verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Berufung ist hinsichtlich des Zeitraums vom 20. Oktober 2005 bis zum 31. August 2011, der nach Abtrennung des Verfahrens mit Wirkung zum 1. September 2011 allein streitgegenständlich ist, unbegründet.

Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Festsetzung eines GdB von 50.

Nach den §§ 2 Abs. 1, 69 Abs. 1 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch (SGB IX) sind die Auswirkungen der länger als sechs Monate anhaltenden Funktionsstörungen nach Zehnergraden abgestuft entsprechend den Maßstäben des § 30 Bundesversorgungsgesetz zu bewerten. Hierbei sind als antizipierte Sachverständigengutachten die vom Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung herausgegebenen Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit (AHP) heranzuziehen, und zwar entsprechend dem streitgegenständlichen Zeitraum in den Fassungen von 2005 und – zuletzt – 2008. Seit dem 1. Januar 2009 sind die in der Anlage zur Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) festgelegten „Versorgungsmedizinischen Grundsätze“ in Form einer Rechtsverordnung in Kraft, welche die AHP – ohne dass hinsichtlich der medizinischen Bewertung eine grundsätzliche Änderung eingetreten wäre – abgelöst haben.

Es ist nicht zu beanstanden, dass der Beklagte in den angefochtenen Bescheiden für die Wirbelsäulenschäden einschließlich der Osteoporose einen Einzel-GdB von 40 angesetzt hat. Nach den gutachterlichen Erhebungen besteht bei der Klägerin ein Wirbelsäulenleiden mit mittelgradigen bis schweren funktionellen Auswirkungen an der Lenden- und Brustwirbelsäule sowie leichten funktionellen Auswirkungen an der Halswirbelsäule. Die Lenden- und die Brustwirbelsäule zeigten bei der Untersuchung durch den Sachverständigen Dr. Z eine skoliotische Fehlhaltung, deren Folgen wegen der allgemeinen Bindegewebsschwäche nicht ausgeglichen werden konnten. Der Gutachter stellte daneben im Bereich der Halswirbelsäule eine funktionelle Blockwirbelbildung mit Versteifung, Steilstellung und kompensatorischer Überbeugung sowie im Bereich der Brustwirbelsäule einen fixierten Rundrücken mit Einschränkung der Beweglichkeit und Belastbarkeit fest. Für Wirbelsäulenschäden mit mittelgradigen bis schweren funktionellen Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten schreibt Teil B Nr. 18.9 (Bl. 90) der Anlage zu § 2 VersMedV einen GdB von 30 bis 40 vor. Entgegen der Einschätzung des im Klageverfahren gehörten Gutachters Dr. B ist, dem Vorschlag des Sachverständigen Dr. Z folgend, das Wirbelsäulenleiden unter Berücksichtigung der schmerzbedingten Bewegungseinschränkungen und der fortgeschrittenen Osteoporose bei einer vorzeitig einsetzenden Verringerung der Körperlänge mit einem Einzel-GdB von 40 zu würdigen.

Für die Bewegungseinschränkungen des rechten Ellenbogengelenks einschließlich der endgradigen Bewegungseinschränkungen beider Schultergelenke ist ein Einzel-GdB von 10 anzusetzen. Hierüber besteht zwischen den Beteiligten zu Recht kein Streit.

Entsprechend dem Vorschlag der Versorgungsärztin Dr. H vom 7. März 2007, der von der Chirurgin Dr. W in deren versorgungsärztlicher Stellungnahme vom 1. Dezember 2010 geteilt wird, ist das Krampfaderleiden der Klägerin, d.h. die chronisch-venöse Insuffizienz beider Beine, mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten.

Hinsichtlich der unteren Extremitäten ist ein höherer GdB auch im Hinblick auf die Ausführungen des nach § 109 SGG gehörten Orthopäden Dr. A, bei der Klägerin lägen ein beidseitiger Hüftverschleiß, ein beidseitiger Knieverschleiß mit Streckhemmung und Spreizfußbeschwerden vor, nicht gerechtfertigt. Die von diesem Gutachter festgestellten Bewegungsausmaße zeigen keine wesentlichen Abweichungen von den Normalwerten (im Folgenden in Klammern mitgeteilt): Im Bereich der Hüftgelenke war eine Streckung/Beugung rechts von 0-0-110° und links von 0-0-120° möglich (10-0-130°), ein Abspreizen/Anführen rechts von 30-0-20° und links von 30-0-20° (30 bis 45-0-20-30°) sowie eine Drehung auswärts/einwärts bei um 90° gebeugtem Hüftgelenk rechts von 30-0-20° und links von 20-0-30° (40 bis 50-0-30-45). Nach Teil B Nr. 18.4 der Anlage zur VersMedV setzt die Zuerkennung eines GdB eine Bewegungseinschränkung der Hüftgelenke geringen Grades (z. B. Streckung/Beugung bis zu 0-10-90 mit entsprechender Einschränkung der Dreh- und Spreizfähigkeit) voraus, die vorliegend nicht erreicht wird.

Der Senat folgt dem Gutachter Dr. A auch insoweit nicht, als er das Fibromyalgiesyndrom und die psychischen Veränderungen der Klägerin im Rahmen des chronischen Schmerzes zusammengefasst mit einem Einzel-GdB von 20 bewertet. Nach Teil B Nr. 18.4 der Anlage zur VersMedV ist eine Fibromyalgie im Einzelfall entsprechend der funktionellen Auswirkungen analog zu beurteilen. Da sich die Fibromyalgie nach den Feststellungen des Gutachters teilweise mit den Funktionsstörungen der Wirbelsäule, der Arme und der Beine überlagert, verbietet sich eine separate Bewertung. Anzeichen für psychische Veränderungen sind dem mitgeteilten Befund nicht einmal ansatzweise zu erkennen. Die von der Klägerin angegebene Traurigkeit und Unausgeglichenheit sowie der Umstand, dass sie affektiv hinabgestimmt wirkte, deuten angesichts des klar strukturierten Tagesablaufs nicht auf eine eingeschränkte Teilhabe der Klägerin am Leben in der Gesellschaft hin. Die Zuerkennung eines Einzel-GdB kommt insoweit nicht in Betracht.

Aus dem Gutachten der Urologin D vom 29. Oktober 2011 ergibt sich, dass die Klägerin an Entleerungsstörung der Harnblase leidet. Die auf der Grundlage der gutachterlichen Untersuchung der Klägerin und der bekannten urologischen Befundberichte einschließlich der Mitteilung der am 25. Oktober 2011 in der urologischen Praxis Dipl. med. H festgestellten Restharnmenge von 47 ml getroffene Einschätzung der Sachverständigen, dass es sich um eine Störung mit intermittierender geringgradiger Restharnbildung handelt, ist überzeugend. Teil B Nr. 12.2.2 der Anlage zur VersMedV sieht hierfür einen Einzel-GdB von 10 vor.

Die Zuerkennung eines Einzel-GdB für die von der Klägerin vorgetragenen Einschränkungen des Geruch- und Geschmackssinnes ist nicht möglich. Nach Teil B Nr. 6.3 der Anlage zur VersMedV ist für den völliger Verlust des Riechvermögens mit der damit verbundenen Beeinträchtigung der Geschmackswahrnehmung ein Einzel-GdB von 15 und für den völligen Verlust des Geschmackssinns ein Einzel-GdB von 10 anzusetzen. Ein völliger Verlust der genannten Sinne liegt nach dem eigenen Vortrag der Klägerin nicht vor.

Bei der Klägerin ist der Gesamt-GdB nicht höher als 40 festzusetzen. Der Einzel-GdB für die Wirbelsäulenschäden von 40 ist unter Berücksichtigung des Krampfaderleidens der Klägerin, das mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten ist, nicht auf 50 heraufzusetzen, da es nach Teil A Nr. 3d der Anlage zu § 2 VersMedV bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 vielfach – so auch hier – nicht gerechtfertigt ist, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen. Die weiteren Behinderungen der Klägerin, die jeweils mit einem Einzel-GdB von 10 anzusetzen sind, führen ebenso wenig zu einer Heraufsetzung des Gesamt-GdB. Denn nach Teil A Nr. 3d der Anlage zu § 2 VersMedV führen (von hier nicht einschlägigen Ausnahmefällen abgesehen) zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ausgang des Rechtsstreits.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.

Hinweis: Informationen in unserem Internetangebot dienen lediglich Informationszwecken. Sie stellen keine Rechtsberatung dar und können eine individuelle rechtliche Beratung auch nicht ersetzen, welche die Besonderheiten des jeweiligen Einzelfalles berücksichtigt. Ebenso kann sich die aktuelle Rechtslage durch aktuelle Urteile und Gesetze zwischenzeitlich geändert haben. Benötigen Sie eine rechtssichere Auskunft oder eine persönliche Rechtsberatung, kontaktieren Sie uns bitte.

Unsere Hilfe im Sozialrecht

Wir sind Ihr Ansprechpartner in Sachen Sozialrecht. Wir beraten uns vertreten Sie in sozialrechtlichen Fragen. Jetzt Ersteinschätzung anfragen.

Rechtsanwälte Kotz - Kreuztal

Urteile und Beiträge aus dem Sozialrecht

Unsere Kontaktinformationen

Rechtsanwälte Kotz GbR

Siegener Str. 104 – 106
D-57223 Kreuztal – Buschhütten
(Kreis Siegen – Wittgenstein)

Telefon: 02732 791079
(Tel. Auskünfte sind unverbindlich!)
Telefax: 02732 791078

E-Mail Anfragen:
info@ra-kotz.de
ra-kotz@web.de

Rechtsanwalt Hans Jürgen Kotz
Fachanwalt für Arbeitsrecht

Rechtsanwalt und Notar Dr. Christian Kotz
Fachanwalt für Verkehrsrecht
Fachanwalt für Versicherungsrecht
Notar mit Amtssitz in Kreuztal

Bürozeiten:
MO-FR: 8:00-18:00 Uhr
SA & außerhalb der Bürozeiten:
nach Vereinbarung

Für Besprechungen bitten wir Sie um eine Terminvereinbarung!