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Voraussetzungen der Zuerkennung des Merkzeichens aG

SG Hamburg – Az.: S 12 SB 518/15 – Urteil vom 13.09.2017

Die Klage wird abgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um das Merkzeichen aG (außergewöhnliche Gehbehinderung).

Der 1998 geborene und unter gesetzlicher Betreuung seiner Eltern stehende Kläger beantragte 2002 erstmals die Feststellungen nach dem Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch (SGB IX) bei der Beklagten. Mit Feststellungsbescheid vom 10.4.2003 wurden wegen einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung ein Grad der Behinderung (GdB) von 70 und die Merkzeichen B (Berechtigung zur ständigen Begleitung) und H (Hilfslosigkeit) festgestellt. Aufgrund eines Neufeststellungsantrags im August 2013 stellte die Beklagte mit Bescheid vom 17.4.2014 einen GdB von 100 wegen einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung und zusätzlich das Merkzeichen G (erhebliche Gehbehinderung) fest. Mit seinem Neufeststellungsantrag vom 4.3.2015 beantragte der Kläger auch die Feststellung des Merkzeichens aG. Zur Begründung legte er eine Stellungnahme seines behandelnden Arztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie Dr. C. bei. Dieser führte aus, aufgrund der besonderen Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der autistischen Erkrankung des Klägers ergäben sich Probleme an der Teilnahme des öffentlichen Lebens, insbesondere auf der Straße. Der Kläger gerate teils massiv unter Druck, wenn er Dinge nicht verstehe oder wenn Dinge längere Zeit in Anspruch nähmen. Er schmeiße sich beispielsweise auf den Boden und lasse sich nicht aufheben. Er werde auf den Fußwegen mitunter sehr aggressiv und betrete dann unvermittelt die Fahrbahn. Um die Zeit von der Wohnung zum Auto zuverlässig zu verkürzen, empfiehlt Herr Dr. C., die Einrichtung einer Parkerleichterung und die Gewährung des Merkmals aG, weil beim Kläger jederzeit die Gefahr bestehe, dass er weglaufe und sich dadurch erheblich in Gefahr bringe. Nachdem die Beklagte das Pflegegutachten des Klägers, einen Befundbericht von Herrn Dr. C. und eine Stellungnahme ihres ärztlichen Dienstes eingeholt hatte, stellte sie mit Bescheid vom 10.6.2015 fest, dass weiterhin ein GdB von 100 wegen einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung bestehe. Ebenso seien die Merkzeichen G, B, H und zusätzlich RF (Ermäßigung der Rundfunkgebühr) festzustellen. Die Voraussetzungen für das Merkzeichen aG seien nicht erfüllt. Hiergegen legte der Kläger am 1.7.2015 Widerspruch ein, der mit Widerspruchsbescheid vom 6.7.2015 zurückgewiesen wurde.

Am 3.8.2015 hat der Kläger Klage erhoben mit dem Ziel der Feststellung der Voraussetzungen für das Merkzeichen aG. Zur Begründung trägt er vor, er sei außergewöhnlich gehbehindert, weil er sich wegen der Schwere seines Leidens nur mit fremder Hilfe fortbewegen könne. Er leide an einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung. Es lägen geistige und körperliche Einschränkungen seiner Gehfähigkeit vor. Unter Berücksichtigung der UN-Behindertenrechtskonvention sei bei ihm das Merkzeichen aG festzustellen.

In der mündlichen Verhandlung hat der Betreuer des Klägers, sein Vater, geschildert, dass der Kläger zunehmend aggressiv werde und auch weglaufe, wenn er, der Vater, wegen des Mangels an Parkplätzen das Auto weiter entfernt als von dem geplanten Ziel parken müsse. Wenn z.B. geplant sein, mit dem Kläger zum Schwimmen zu gehen und er müsse wegen des Parkplatzmangels nahe beim Schwimmbad weiter entfernt bei einem Supermarkt parken, werde der Kläger aggressiv.

Der Kläger beantragt, den Bescheid der Beklagten vom 10.06.2015 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 06.07.2015 zu ändern und die Beklagte zu verpflichten, auch die Voraussetzungen für das Merkzeichen aG (außergewöhnliche Gehbehinderung) festzustellen.

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Zur Begründung ihres Antrags nimmt sie Bezug auf ihre Ausführungen in den angefochtenen Bescheiden und den Inhalt ihrer Verwaltungsakte. Ergänzend weist die Beklagte daraufhin, dass nach Einholung der Befundbericht deutlich werde, dass der Kläger den ganzen Tag herumlaufe. Eine relevante motorische Störung liege nicht vor.

Das Gericht hat zur weiteren Ermittlung des Sachverhalts Befundberichte der behandelnden Ärzte des Klägers eingeholt. Es liegen vor Berichte der Ärzte für Kinder- und Jugend-psychiatrie Dres. H. und C. sowie der Ärztin für Allgemein Medizin I …

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird verwiesen auf den Inhalt der Prozessakte der Kammer und der Verwaltungsakte der Beklagten. Diese haben vorgelegen und sind zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht worden.

Entscheidungsgründe

Die Klage ist zulässig, aber nicht begründet. Zu Recht hat es die Beklagte mit den angefochtenen Bescheiden abgelehnt, die gesundheitlichen Merkmale für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs aG (außergewöhnliche Gehbehinderung) festzustellen.

Für die Kammer bedurfte es hinsichtlich der Schwere und des Umfangs der Behinderung des Klägers keiner weiteren Sachaufklärung, denn der Kläger leidet an einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung mit einem GdB von 100 (vgl. Teil B 3.5.1 der Anlage zu § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung, VersMedV, in Verbindung mit §§ 69 Abs. 1 Satz 5, 70 Abs.2, 157 Abs. 7 SGB IX), die ihn in allen Bereichen des täglichen Lebens erheblich beeinträchtigt und ihm die Teilnahme am Leben der Gemeinschaft erheblich erschwert, wenn nicht gar unmöglich macht.

Dennoch sind die Voraussetzungen für die Feststellung des Merkzeichens aG nicht erfüllt. Sind neben dem Vorliegen der Behinderung weitere gesundheitliche Merkmale Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen, so treffen die zuständigen Behörden die hierfür erforderlichen Feststellungen (§ 69 Abs. 4 SGB IX), wenn die persönlichen Voraussetzungen erfüllt sind. Durch das Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung vom 23.12.2016 (Bundesteilhabegesetz, BTHG) ist in § 146 Abs. 3 SGB IX mit Wirkung ab 30.12.2016 (persönliche Voraussetzungen) eine Legaldefinition für den Nachteilsausgleich aG eingeführt worden. Ursprünglich fand sich diese Regelung in der Verwaltungsvorschrift zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 Straßenverkehrsordnung.

Schwerbehinderte Menschen mit außergewöhnlicher Gehbehinderung sind Personen mit einer erheblichen mobilitätsbezogenen Teilhabebeeinträchtigung, die einen GdB von mindestens 80 entspricht (§ 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX). Eine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung liegt vor, wenn sich die schwerbehinderten Menschen wegen der Schwere ihrer Beeinträchtigung dauernd nur mit fremder Hilfe oder großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können (§ 146 Abs. 1 Satz 2 SGB IX). Hierzu zählen insbesondere schwerbehinderte Menschen, die aufgrund der Beeinträchtigung der Gehfähigkeit und Fortbewegung – dauerhaft auch für sehr kurze Entfernungen – aus medizinischer Notwendigkeit auf die Verwendung eines Rollstuhls angewiesen sind. Verschiedenste Gesundheitsstörungen (insbesondere Störungen bewegungsbezogener, neuromuskulärer oder mentaler Funktionen, Störungen des kardiovaskulären oder Atmungs-systems) können die Gehfähigkeit erheblich beeinträchtigen (§ 146 Abs. 1 Satz 3 SGB IX). Diese sind als außergewöhnliche Gehbehinderungen anzusehen, wenn nach versorgungs-ärztlicher Feststellung die Auswirkung der Gesundheitsstörungen sowie deren Kombination auf die Gehfähigkeit dauerhaft so schwer ist, dass sie der unter Satz 1 genannten Beeinträchtigung gleichkommt (§ 146 Abs. 1 Satz 4 SGB IX).

Gleichzeitig mit der Einordnung der Regelung in das SGB IX ist eine Anpassung des zugrunde liegenden Behindertenbegriffs an die zwischenzeitliche Entwicklung im internationalen Bereich erfolgt, wie sie als Standard in der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der Weltgesundheitsorganisation niedergelegt ist (vgl. hierzu Spiolek in GK-SGB IX, Stand Juni 2017, § 146 Rdnr. 19 a). Der neue Begriff entspricht dem Verständnis von Behinderung, das in der UN-Behindertenrechtskonvention zum Ausdruck kommt (z.B. in Art 1 Abs. 2, vgl. Spiolek, a.a.O.). Die Neuregelung übernimmt den bewährten geltenden Grundsatz, dass das Recht, Behindertenparkplätze zu benutzen, wegen ihrer begrenzten Anzahl nur unter engen Voraussetzungen eingeräumt werden darf, wofür auch politische Erwägung sprechen, denn Behinderten-parkplätze müssen denjenigen schwerbehinderten Menschen vorbehalten bleiben, die sich dauernd nur mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeugs bewegen können (vgl. Spiolek, a.a.O.). Eine starke Ausweitung des Kreises der Berechtigten würde dazu führen, dass die eigentliche Zielgruppe längere Wege zurücklegen müsste, weil dann Parkplätze belegt wären, die zurzeit noch frei sind (vgl. Spiolek, a.a.O. und Bundestagsdrucksache 18/9522, S. 318).

Unter Berücksichtigung dieses gesetzgeberischen Ziels der Neuregelung in § 146 Abs. 3 SGB IX und des Grundsatzes, dass das Recht Behindertenparkplätze zu benutzen, wegen ihrer begrenzten Anzahl nur unter strengen Voraussetzungen zur vergeben ist, erfüllt der Kläger die Voraussetzungen für das Merkzeichen aG nicht, denn der Kläger hat keine mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung, die einem GdB von 80 entspricht. Schon deshalb brauchte die Kammer nicht aufzuklären, ob die von Herrn Dr. C. und dem Vater des Klägers beschriebenen Verhaltensstörungen des Klägers dauernd oder nicht vorliegen. Vielmehr ist der Kläger, wie sich auch aus den ärztlichen Befundberichten und dem Pflegegutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung ergibt, ständig fähig, umher zu laufen. Zum Teil wird beschrieben, dass er den ganzen Tag am Laufen sei. Beim Kläger damit liegt auch keine Störung bewegungsbezogener mentaler Funktionen im Sinne von § 146 Abs. 3 Satz 3 SGB IX vor. Die Auswirkungen seiner Behinderung sind nicht funktionell gleich zu stellen mit denen, die in § 146 Abs. 3 SGB IX nunmehr genannt sind. Dem Kläger ist einzuräumen, dass er -gerade unter Berücksichtigung der Schilderung seines Betreuers in der mündlichen Verhandlung – nicht in der Lage ist, ohne sich und andere Verkehrsteilnehmer an Leib und Leben zu gefährden, selbständig am Straßenverkehr teilzunehmen. Er bedarf wegen der Behinderung und der damit verbundenen Orientierungslosigkeit der Begleitung. Deshalb sind auch zu Recht die Merkmale G (erhebliche Gehbehinderung) und B (Berechtigung zu Begleitung) festgestellt worden. Die gewünschte Parkerleichterung wäre ihm aber keine Hilfe, sein Ziel ungefährdet zu erreichen, weil er auch auf dem verkürzten Weg überwacht und geleitet werden muss (vgl. hierzu Urteil des Bundessozialgerichts, BSG, vom 13.12.1994, 9 RVs 3/94, juris, Rdnr. 12). Die durch den Nachteilsausgleich aG vermittelten Parkvergünstigungen würden allerdings der Begleitperson ihre Aufgabe erleichtern, weil sie den Kläger nur auf einem verkürzten Weg zu überwachen und zu leiten hätte (vgl. BSG, a.a.O.). Dies ist aber nicht Sinn des Nachteilsausgleichs, er soll allein die neben der Kraftfahrzeugbenutzung unausweichliche Wegstrecke für Schwerbehinderte verkürzen, die sich nur mit außergewöhnlicher Anstrengung zu Fuß fortbewegen können (vgl. BSG, a.a.O.). Hieran hat sich auch mit der Legaldefinition in § 146 SGB IX nichts geändert, vielmehr könnte hierin unter dem Gesichtspunkt des beschränkten Parkraums und in Hinblick auf den ausdrücklichen Bezug zur erheblichen mobilitätsbezogenen Teilhabebeeinträchtigung sogar die vom BSG 1994 noch für möglich gehaltene Feststellung des Merkzeichens aG, wenn der Betroffene, weil er durch die Begleitperson nicht mehr sicher wegen Selbstgefährdung und der Gefährdung anderer geführt werden kann, regelmäßig nur noch im Rollstuhl fortbewegt werden könne (vgl. BSG, a.a.O., Rdnr. 13), auch ausgeschlossen sein. Darauf kommt es aber zurzeit nicht an, da sich der Kläger nicht mit einem Rollstuhl fortbewegt.

Auch die Voraussetzungen für die Zuerkennung der sogenannten Nachteilsausgleiche „aG-light“ (Ausnahmegenehmigungen für Parkerleichterungen nach der Verwaltungsvorschrift zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 StVO) erfüllt der Kläger nicht. Anders als beim Nachteilsausgleich aG kommt eine Gleichstellung mit den dort abschließend aufgezählten Behinderungen (blinde Menschen, schwerbehinderte Menschen mit beidseitiger Amelie oder Phokomelie oder mit vergleichbaren Funktionseinschränkungen, schwerbehinderte Menschen mit den Merkzeichen G und B und GdB von wenigstens 80 allein für Funktionsstörungen an den unteren Gliedmaßen (und der Lendenwirbelsäule, soweit sich diese auf das Gehvermögen auswirken), schwerbehinderte Menschen mit den Merkzeichen G und B und einem GdB von wenigstens 70 allein für Funktionsstörungen an den unteren Gliedmaßen (und der Lendenwirbelsäule, soweit sich diese auf das Gehvermögen auswirken) und gleichzeitig einem GdB von wenigstens 50 für Funktionsstörungen des Herzens oder der Atmungsorgane, schwerbehinderte Menschen, die an Morbus Crohn oder Colitis ulcerosa erkrankt sind, wenn hierfür ein GdB von wenigstens 60 vorliegt und schwerbehinderte Menschen mit künstlichem Darmausgang und zugleich künstlicher Harnableitung, wenn hierfür ein GdB von wenigstens 70 vorliegt) schon vom Wortlaut der Verwaltungsvorschrift her nicht in Betracht.

Nach alledem war die Klage abzuweisen. Bei allem Verständnis für die schwierige Situation der Betreuer des Klägers kann es nicht Aufgabe der Gerichte sein, durch die über den Wortlaut der gesetzlichen Regelung hinausgehende Auslegung des § 146 Abs. 3 SGB IX dazu beizutragen, dass der begrenzte Parkraum für alle Behinderte innerhalb einer Großstadt, noch geringer wird, wenn weitere Personenkreis in den Nachteilsausgleich mit aufgenommen werden.

Die Kostentscheidung folgt aus § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Die Entscheidung ergeht für den Kläger gerichtskostenfrei, da er zum Personenkreis des § 183 SGG gehört.

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