Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 2. September 2021 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte erstattet der Klägerin ein Viertel ihrer notwendigen außergerichtlichen Kosten im ersten Rechtszug. Im Übrigen sind außergerichtliche Kosten nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ab welchem Zeitpunkt bei der Klägerin die Voraussetzungen des gesundheitlichen Merkmals (im Folgenden auch: Merkzeichen) „aG“ festzustellen sind.
Die am xxxxx 1932 geborene Klägerin beantragte am 7. August 1990 erstmals die Feststellung einer Schwerbehinderung. Mit Neufeststellungsbescheid vom 28. Oktober 2003 wurde das Vorliegen eines Grades der Behinderung (im Folgenden: GdB) von 50 ab dem 17. Januar 2003 festgestellt.
Am 23. August 2010 beantragte die Klägerin neben einer Erhöhung des mit Bescheid vom 29. Januar 2010 festgestellten GdB von 70 die Feststellung der Merkzeichen „G“, „aG“, „H“ und „RF“ wegen einer Verschlechterung insbesondere des Zustandes der Wirbelsäule. Mit Bescheid vom 3. Januar 2011 lehnte die vormalige Beklagte –F. (im Folgenden: F.) – diesen Antrag nach Einholung von Befund- und Behandlungsberichten der die Klägerin behandelnden Ärzte sowie gutachtlicher Stellungnahmen (Bl. 437 ff., 448 ff. der Verwaltungsakte des Beklagten) zunächst ab. Auf den Widerspruch der Klägerin und nach Einholung sowohl von Befund- und Behandlungsberichten als auch weiteren gutachtlichen Stellungnahmen (Bl. 463 ff., 472 ff. der Verwaltungsakte des Beklagten) stellte die F. sodann mit Widerspruchsbescheid vom 30. Juni 2011 einen GdB von 80 fest und erkannte die Voraussetzungen für das Merkzeichen „G“ ab 23. August 2010 an. Hierbei berücksichtigte die F. zusätzlich zu den bestehenden und mit unveränderten Einzel-GdB bewerteten gesundheitlichen Einschränkungen einen Kniegelenkverschleiß beidseits. Hieraus begründe sich auch die Zuerkennung des Merkzeichens „G“; die Voraussetzungen für die Zuerkennung weiterer Merkzeichen sah die F. jedoch als nicht erfüllt an.
Ein Antrag der Klägerin vom 2. September 2011, mit welchem sie u.a. erneut die Feststellung der Voraussetzungen für das gesundheitliche Merkmal „aG“ begehrte, blieb im Ergebnis erfolglos (Bescheid vom 4. Januar 2012, Widerspruchsbescheid vom 23. März 2012).
Mit Neufeststellungsantrag vom 21. August 2012 sowie weiterem Antrag vom 18. Januar 2013 beantragte die Klägerin die Erhöhung des bis dahin festgestellten GdB von 80 sowie die Zuerkennung u.a. des Merkzeichens „aG“. Nach Einholung von Befund- und Behandlungsberichten der die Klägerin behandelnden Ärzte sowie einer gutachtlichen Stellungnahme (Bl. 554 ff. der Verwaltungsakte des Beklagten) lehnte die F. den Antrag mit Bescheid vom 23. Januar 2013 ab. Den allein hinsichtlich der Ablehnung des ebenfalls geltend gemachten Merkzeichens „RF“ erhobenen Widerspruch der Klägerin wies die F. mit Widerspruchsbescheid vom 20. Februar 2013 zurück. Das Sozialgericht Hamburg wies die nachfolgende Klage ab (Urteil vom 25. Mai 2016, Aktenzeichen: S 12 SB 515/13). Die hiergegen gerichtete Berufung blieb erfolglos (Urteil vom 7. Februar 2017, Aktenzeichen: L 3 SB 19/16).
Im Rahmen des vorgenannten Gerichtsverfahrens stellte die F. mit Neufeststellungsbescheid vom 1. Oktober 2015 (Bl. 193 der Gerichtsakte S 12 SB 515/13) ab 21. April 2015 einen Gesamt-GdB von 100 fest. Der nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) gehörte Urologe Dr. K. beschrieb die Klägerin in seinem Sachverständigengutachten vom 8. Juni 2015 nach Untersuchung der Klägerin am 21. April 2015 als „am Rollator gehfähig“.
Den von der Klägerin bereits mit Schreiben vom 3. Februar 2015 am 9. Februar 2015 gestellten Antrag auf Zuerkennung des gesundheitlichen Merkmals „aG“ lehnte die F. nach Einholung einer gutachterlichen Stellungnahme (Bl. M2 f. der Verwaltungsakte des Beklagten) mit Bescheid vom 24. April 2017 ab. Nach Einlegung des Widerspruchs vom 22. Mai 2017 – Eingang bei der F. am 26. Mai 2017 – erhob die Klägerin am 25. Oktober 2017 Untätigkeitsklage vor dem Sozialgericht Hamburg (Aktenzeichen: S 43 SB 573/17), erklärte diese jedoch kurz darauf für erledigt, da die F. nach Einholung einer weiteren gutachtlichen Stellungnahme (Bl. M 17 ff. der Verwaltungsakte des Beklagten) bereits mit Widerspruchsbescheid vom 20. Oktober 2017 den Bescheid vom 24. April 2017 aufgehoben und festgestellt hatte, dass ein Gesamt-GdB von 100 sowie die Voraussetzungen der Merkzeichen „G“ und „B“ ab 21. April 2015 vorlägen, nicht aber die Voraussetzungen des Merkzeichens „aG“. Die F. berücksichtigte hierbei verschiedene ärztliche Atteste, nach denen die der Klägerin mögliche Gehstrecke stark reduziert sei. Zwar sei eine Claudicatio spinalis festzustellen, eine Schmerztherapie erfolge jedoch nicht. Dieses ergebe sich aus den von der F. eingeholten Befundberichten sowie der Stellungnahme des versorgungsärztlichen Dienstes.
Am 13. November 2017 erhob die Klägerin Klage zum Sozialgericht Hamburg (Aktenzeichen: S 11 SB 608/17). Sie war weiterhin der Auffassung, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens „aG“ vorlägen. Sie fügte der Klage Atteste bei, nach denen sie lediglich eine Wegstrecke von ca. 10 m zurücklegen könne. Ihre Krankenkasse habe im Dezember 2017 die Kostenübernahme eines E-Rollstuhls übernommen. Am 7. März 2018 ist die Klägerin nach H1 im S. umgezogen.
Der Beklagte legte eine gutachtliche Stellungnahme des Orthopäden Dr. S3 vom 8. Januar 2018 vor (Bl. 43 ff. der Gerichtsakte), derzufolge sich auch unter Auswertung der Befund- und Behandlungsberichte der die Klägerin behandelnden Ärzte keine Änderung ergebe. Der GdB sei mit 100 zutreffend bemessen, anzuerkennen seien die gesundheitlichen Merkmale „G“ und „B“, nicht aber „aG“. Höhergradige Funktionseinschränkungen der Knie seien bei den vorhandenen Befunden fraglich. Hieran ändere auch die Verordnung eines E-Rollstuhls nichts. Die gutachtliche Stellungnahme des versorgungsärztlichen Dienstes vom 23. Juli 2018 hatte das gleiche Ergebnis (Bl. 145 ff. der Gerichtsakte).
Das Sozialgericht holte Befund- und Behandlungsberichte der die Klägerin behandelnden Ärzte ein (Bl. 52 ff. der Gerichtsakte). Die Praxis N. gab die mögliche Wegstrecke der Klägerin am 2.12.2016 mit „25-50 m“ an. Dr. M2 gab sie am 10.8.2017, am 23.11.2017 und am 26.2.2018 mit „weniger als 10 m“ an. Nach einer Infiltration sei die Klägerin „auf dem Weg zum Parkplatz“ gestürzt. Die Orthopädische Gemeinschaftspraxis S2 (Dr. S1) gab die Gehstrecke am 24.2.2017 mit „unter 10 m“ bzw. „maximal 10 m“ an, am 6.3.2018 für die Zeit bis 3.5.2017 mit „unter 100 m“. Veränderungen der Erkrankung verliefen langsam. Anamnestisch wurde festgehalten, die Klägerin könne „nicht mehr größere Strecken zurücklegen“. Die M. führte am 9.6.2017 zum orthopädischen Status aus, dass Rumpfbeweglichkeit und die Hüftgelenke in ihrer Beweglichkeit eingeschränkt, die übrigen Gelenke der unteren Extremitäten aber altersentsprechend frei beweglich seien. Zum neuroorthopädischen Status wurde ausgeführt, die Klägerin gehe am Rollator, das Gangbild sei verlangsamt, es liege aber keine Parese oder objektive Sensibilitätsstörung vor, Muskeltonus und Muskelkraft lägen im Normalbereich. Empfohlen wurde die Durchführung von Krankengymnastik. Dr. B. äußerte sich nicht zu einer eingeschränkten Wegstrecke. Er befürwortete am 12.5.2017 aber die Zuerkennung der Merkzeichen „aG“ und „B“. Dr. K1 führte aus, die Klägerin sei durch die Wirbelsäulenproblematik mit einer Einschränkung der schmerzfreien Gehstrecke auf wenige Meter erheblich beeinträchtigt. Das Merkzeichen „aG“ wäre – so der behandelnde Arzt am 17.5.2017 – „ratsam“. In Unterlagen aus dem Rehabilitationsverfahren in den H. (28.9.2017 bis 19.10.2017) wurde festgestellt, dass die Klägerin zügig am Rollator zur Abschlussuntersuchung erschienen sei. Es bestünden keine wesentlichen Bewegungseinschränkungen der Gelenke. Empfohlen wurde u.a. Krankengymnastik. Das Uniklinikum des S. befundete ein „schmerzbedingt langsames Gangbild“.
Auf Veranlassung des Sozialgerichtes untersuchte der Orthopäde Dr. M1 die Klägerin am 7. März 2019 ambulant. In seinem Gutachten vom selben Datum (Bl. 178 ff. der Gerichtsakte) kam der Sachverständige zu dem Ergebnis, dass die Voraussetzungen für das Merkzeichen „aG“ bei der Klägerin erfüllt seien. Für die Beeinträchtigung der Wirbelsäule sei ein Einzel-GdB von 60, für die Beeinträchtigung der oberen Extremitäten (Rotatorenmanschettenläsion sowie Polyarthrose beider Hände) mit einem Einzel-GdB von jeweils 20, für die Beeinträchtigung beider Kniegelenke mit einem Einzel-GdB von 40 sowie der Beeinträchtigung der Hüften beidseits mit einem Einzel-GdB von 20 festzustellen. Hinsichtlich des begehrten Merkzeichens „aG“ führte der Sachverständige aus, dass die Klägerin lediglich noch einige Meter mit fremder Hilfe und Begleitperson gehen könne. Sie sei fast vollständig auf einen Rollstuhl angewiesen. Ausweislich bildgebender Aufnahmen vom 26. Februar 2018 sei von einer Zunahme der Spinalkanalstenose auszugehen. Zusätzlich sei eine Rotatorenmanschettenruptur mit einer Kraftabschwächung des rechten Armes festzustellen. Die Nutzung eines Rollators auch nur für kurze Strecken sei nicht mehr möglich. Die außergewöhnliche Gehbehinderung bestehe „wahrscheinlich seit Anfang 2018“.
Am 17. Juli 2019 hat der Beklagte nach Einholung einer gutachtlichen Stellungnahme des versorgungsärztlichen Dienstes vom 25. Juni 2019 (Bl. 190 ff. der Gerichtsakte) ein Teilanerkenntnis erklärt und dabei u.a. das Merkzeichen „aG“ ab 31. Januar 2019 anerkannt. Die Klägerin hat dieses Teilanerkenntnis angenommen. Zugleich hat sie die Feststellung der gesundheitlichen Merkmale „G“, „B“, „aG“, „Bl“, „H“ und „RF“ sowie des Gesamt-GdB von 100 seit Antragstellung beantragt.
Der Beklagte hat das angenommene Teilanerkenntnis nach Einholung einer weiteren gutachtlichen Stellungnahme vom 9. September 2019 (Bl. 218 ff. der Gerichtsakte) mit Bescheid vom selben Tag (Bl. 208 ff. der Gerichtsakte) ausgeführt und ab diesem Datum bei der Klägerin einen Gesamt-GdB von 100 sowie die Voraussetzungen für die Merkzeichen „G“, „B“, „aG“, „Bl“, „H“ und „RF“ anerkannt. Der Bescheid sei nach § 96 Abs. 1 SGG Gegenstand des Klagverfahrens.
In einer ergänzenden Stellungnahme des Sachverständigen Dr. M1 vom 3. November 2019 hat dieser seine Vermutung bestätigt, dass die außergewöhnliche Gehbehinderung seit Januar 2018 bestehe. Ein genauer Zeitpunkt ließe sich retrospektiv nicht genau festlegen (Bl. 214 der Gerichtsakte).
Der Beklagte anerkannte nach Einholung einer gutachtlichen Stellungnahme vom 4. März 2020 (Bl. 244 ff. der Gerichtsakte) daraufhin mit Schreiben vom 5. März 2020 – weitergehend – das Merkzeichen „aG“ ab Januar 2018. Die Klägerin nahm dies als weiteres „Teilanerkenntnis“ an, verblieb jedoch bei ihrem weitergehenden Antrag auf Feststellung des Gesamt-GdB von 100 sowie sämtlicher Merkzeichen ab Antragstellung.
Das Sozialgericht erhob anschließend Beweis durch Einholung eines Gutachtens nach Aktenlage des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. G. vom 28. Juli 2020 (Bl. 267 ff. der Gerichtsakte). Der Sachverständige gelangte zu dem Ergebnis, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens „aG“ ausweislich des Gutachtens von Dr. M1 lediglich wahrscheinlich seit Anfang 2018 eingetreten seien.
Das Sozialgericht entschied im Einverständnis der Beteiligten gemäß § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung. Mit Urteil vom 2. September 2021 wies es die über die „Anerkenntnisse“ und Bescheide des Beklagten hinausgehende Feststellung der medizinischen Voraussetzungen für die gesundheitlichen Merkmale „G“, „B“, „aG“, „RF“, „H“ und „Bl“ ab. Hinsichtlich des Merkzeichens „G“ sei die Klage mangels Rechtsschutzbedürfnis unzulässig, da der Beklagte die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens „G“ bereits mit Widerspruchsbescheid vom 30. Juni 2011 ab 23. August 2010 anerkannt habe. Im Übrigen sei die Klage zulässig, insbesondere auch die Klagerweiterung, da sie sachdienlich sei und ein weiterer Prozess vermieden werden könne. Der Beklagte habe zutreffend einen Gesamt-GdB von 100 erst ab 21. April 2015, dem Datum der ambulanten Untersuchung der Klägerin bei dem Sachverständigen Dr. K., festgestellt. Ein Nachweis darüber, dass ein Gesamt-GdB von 100 bereits zu einem früheren Zeitpunkt vorlag, sei nicht erbracht. Das Merkzeichen „aG“ sei erst ab dem 1. Januar 2018 anzuerkennen, da der Nachweis eines früheren Vorliegens der medizinischen Voraussetzungen für dieses Merkzeichen nicht vorliege. Das Sozialgericht bezog sich insoweit auf das Gutachten des Sachverständigen Dr. M1 vom 7. März 2019. Der Beklagte habe die vom Sachverständigen geäußerte Vermutung aufgegriffen und zugunsten der Klägerin gewertet. Die diesbezüglichen Ausführungen des Sachverständigen Dr. G. überzeugten das Sozialgericht hingegen nicht. Hinsichtlich der übrigen gesundheitlichen Merkmale sah das Sozialgericht ebenfalls keinen Nachweis über das frühere Vorliegen der medizinischen Voraussetzungen als erbracht an.
Gegen das ihr am 3. September 2021 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 26. September 2021 Berufung eingelegt. Sie trägt verschiedene Mängel des Sachverständigengutachtens von Dr. G. vor. Der Sachverständige verfüge auch nicht über die notwendige Kompetenz zur Beurteilung mobilitätsbedingter Einschränkungen. Er stelle seine Aussage über die vorliegenden Arztberichte. Maßgebend für die nicht vorhandene Gehfähigkeit sei die Rotatorenmanschettenruptur mit Sehnenabriss der rechten Schulter, die seit 2014 belegt sei. Hierdurch sei der Klägerin die Armhebung nicht mehr möglich und daher auch nicht die Bedienung des Rollators. Die fehlende Gehfähigkeit sei vielfach dokumentiert. Bis 2016 habe die Klägerin die Pflegestufe II gehabt. Ab Januar 2017 sei dies in den Pflegegrad 2 umgewandelt worden. Zum 1. August 2017 habe die Klägerin den Pflegegrad 3 gehabt, ab 1. September 2019 den Pflegegrad 4 und ab 1. April 2022 den Pflegegrad 5. Die Klägerin hat ergänzend verschiedene Unterlagen, u.a. ärztliche Verordnungen für einen E-Rollstuhl und ein Pflegebett sowie Befund- und Behandlungsberichte der die Klägerin behandelnden Ärzte, zur Gerichtsakte gereicht.
Die Klägerin beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 2. September 2021 sowie den Bescheid des Beklagten vom 24. April 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Oktober 2017, beide in der Fassung des Bescheides vom 9. September 2019 abzuändern und den Beklagten zu verpflichten, bei ihr das gesundheitliche Merkmal „aG“ ab dem 9. Februar 2015 festzustellen.
Der Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Es seien keine Gesichtspunkte erkennbar, dass die Voraussetzungen des gesundheitlichen Merkmals „aG“ vor dem Jahr 2018 vorgelegen hätten. Der Beklagte legt eine weitere gutachtliche Stellungnahme des versorgungsärztlichen Dienstes vom 14. Februar 2023 vor (Bl. 552 ff. der Gerichtsakte). Für die Bewertung einer Mobilitätseinschränkung sei der 2014 bezüglich des rechten Schultergelenks erhobene MRT-Befund ohne Relevanz.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten sowie den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsakten verwiesen, die sämtlich Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe
Streitgegenstand des Berufungsverfahrens ist – hierauf hat die Klägerin ihren Antrag zuletzt ausdrücklich beschränkt – lediglich die Feststellung der medizinischen Voraussetzungen des gesundheitlichen Merkmals „aG“ ab dem 9. Februar 2015, dem Datum des Antragseingangs bei der Behörde, bis zum 31. Dezember 2017. Bei sachgerechter Auslegung des klägerischen Antrags (vgl. § 123 SGG) nicht Gegenstand des Verfahrens ist die Feststellung der Voraussetzungen des gesundheitlichen Merkmals „aG“ für die Zeit ab dem 1. Januar 2018, denn für diesen Zeitraum hat der Beklagte bereits in der Vorinstanz ein Teilanerkenntnis abgegeben und wäre eine entsprechende Klage bzw. Fortführung des Rechtsstreits mangels Rechtsschutzbedürfnis unzulässig.
Die Feststellung der Voraussetzungen weiterer gesundheitlicher Merkmale ist ebenfalls nicht Gegenstand des hier geführten Rechtsstreits.
Es kann dabei offenbleiben, ob – wie das Sozialgericht offenbar meint – eine Klagerweiterung im Sinne von § 99 SGG als sachdienlich anzusehen wäre. Hiergegen spricht allerdings bereits, dass eine Klagerweiterung dann nicht als sachdienlich betrachtet werden kann, wenn ein (notwendiges) Vorverfahren bezüglich des jeweiligen Verwaltungsakts nicht durchgeführt worden ist (vgl. BSG, Urt. v. 8.5.2007 – B 2 U 14/06 R, BSGE 98, 229, 231; LSG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 17.4.2013 – L 4 KR 48/12, juris; Schmidt in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl. 2020, § 99 Rn. 10a). Unabhängig davon kommt es auf die Zulässigkeit einer Klagänderung nicht an, wenn die geänderte Klage selbst nicht zulässig ist. Es müssen für die geänderte Klage sämtliche Sachurteilsvoraussetzungen vorliegen (Bieresborn in: Roos/Wahrendorf/M1, BeckOGK-SGG, 3. Aufl. 2023, § 99 Rn. 42). Dies hat das Sozialgericht nicht geprüft und insoweit ist seinem Ergebnis auch nicht zu folgen, denn die geänderte Klage erwiese sich hinsichtlich weiterer Merkzeichen als „aG“ mangels Durchführung eines Vorverfahrens im Sinne der §§ 77 ff. SGG als unzulässig. Mit ihrem bei der Verwaltung gestellten Antrag vom 9. Februar 2015 hat die Klägerin weitere gesundheitliche Merkmale nicht geltend gemacht und sind zuvor erfolgte oder nachfolgende Ablehnungen hinsichtlich anderer Merkzeichen als „aG“ zwischenzeitlich in Bestandskraft erwachsen.
Nachdem die Klägerin ihre Klage bzw. Berufung zulässigerweise auf die Feststellung der Voraussetzungen des gesundheitlichen Merkmals „aG“ beschränkt hat, hat der Senat lediglich hierüber zu entscheiden. Bei gesundheitlichen Merkmalen handelt es sich um einen vom GdB unabhängigen und getrennt gerichtlich verfolgbaren Streitgegenstand (vgl. BSG, Urt. v. 16.2.2012 – B 9 SB 48/11 B, juris; BSG Beschl. v. 12.12.1995 – 9 BVs 28/95, juris; LSG Hamburg, Beschl. v. 4.4.2022 – L 3 SB 2/20, juris; LSG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 18.11.2016 – L 13 SB 127/16, juris). Dies ist auch hier zu beachten. Soweit der Beklagte außerhalb dieses Verfahrens und aufgrund anderer eingetretener Umstände weitere gesundheitliche Merkmale anerkennt bzw. deren Voraussetzungen feststellt, werden etwaige weitere Bescheide und „Anerkenntnisse“ des Beklagten außerhalb des Prozessgegenstandes nicht allein deswegen selbst Prozessgegenstand. Insbesondere handelt es sich hierbei – anders als der Beklagte im Bescheid vom 9. September 2019 offenbar meint – nicht um Folgebescheide im Sinne des § 96 SGG, weil sie den prozessgegenständlichen angefochtenen Verwaltungsakt insoweit inhaltlich weder geändert noch ersetzt haben.
Die so zulässige Berufung ist jedoch unbegründet.
Das Sozialgericht hat die Klage auf Feststellung der medizinischen Voraussetzungen des gesundheitlichen Merkmals „aG“ für den Zeitraum vor dem 1. Januar 2018 mit Urteil vom 2. September 2021 zu Recht abgewiesen, denn der Bescheid des Beklagten vom 24. April 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Oktober 2017, beide in der Fassung des Bescheides des Beklagten vom 9. September 2019 sowie des vom Beklagten in diesem Verfahren abgegebenen Teilanerkenntnisses vom 5. März 2020 bezüglich des gesundheitlichen Merkmals „aG“ ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Klägerin hat gegenüber dem Beklagten keinen Anspruch auf Feststellung der medizinischen Voraussetzungen des gesundheitlichen Merkmals „aG“ für die Zeit vor dem 1. Januar 2018.
Rechtsgrundlage für die Feststellung der Voraussetzungen gesundheitlicher Merkmale ist im hier zu beurteilenden Fall § 69 Abs. 4 i.Vm. Abs. 1 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) in der bis zum 31. Dezember 2017 geltenden Fassung des Gesetzes. § 152 SGB IX in der Fassung des Gesetzes zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen vom 23.12.2016 (Bundesteilhabegesetz – BTHG, BGBl. I 2016, 3234), welcher § 69 SGB IX abgelöst hat, ist erst zum 1. Januar 2018 in Kraft getreten und findet dagegen keine Anwendung. Das BTHG misst sich insoweit keine Rückwirkung für Zeiträume vor dem 1. Januar 2018 bei. Mangels spezieller Übergangsregelungen ist zur Bestimmung des anwendbaren Rechts auf die Grundsätze intertemporalen Rechts zu rekurrieren (vgl. BSG, Urt. v. 10.12.1991 – 1/3 RK 9/90, juris; BSG, Urt v. 4.9.2013 – B 10 EG 6/12 R, SozR 4-7837 § 2 Nr. 24; Stölting/Greiser, SGb 2015, 135, 136). Bezieht sich ein erstrebter Verwaltungsakt allein auf einen vollständig in der Vergangenheit liegenden Zeitraum, ist ausschließlich die Sach- und Rechtslage in diesem Zeitraum maßgeblich (vgl. Groß in Berchtold, SGG, 6. Aufl. 2021, § 54 Rn. 49). Dies gilt auch hier, denn in Streit steht das Vorliegen der Voraussetzungen des gesundheitlichen Merkmals „aG“ im Zeitraum 9. Februar 2015 bis 31. Dezember 2017 und damit in einem vollständig vor Inkrafttreten des § 152 SGB IX in der Fassung des BTHG liegenden Zeitraum. Das Begehren der Klägerin auf Feststellung der geltend gemachten Voraussetzungen für die Erteilung eines bestimmten gesundheitlichen Merkmals richtet sich daher nach den Vorschriften des SGB IX in der bis einschließlich des 31. Dezember 2017 geltenden Fassung.
Die Klägerin hat keinen Anspruch auf die Feststellung der Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens „aG“ bereits ab Antragstellung am 9. Februar 2015 bis zum 31. Dezember 2017 Eine außergewöhnliche Gehbehinderung im Sinne des Gesetzes lag mangels eines Nachweises derselben im genannten Zeitraum nicht vor.
Hinsichtlich des Zeitraums vom 9. Februar 2015 bis zum 29. Dezember 2016 wird der hier maßgebliche Rechtsbegriff der außergewöhnlichen Gehbehinderung in Teil D Nr. 3 lit. b und lit. c der als Anlage zu § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) am 1. Januar 2009 in Kraft getretenen und insoweit bis zum 29. Dezember 2016 geltenden „Versorgungsmedizinischen Grundsätze“ (VMG a.F.) ausgeformt, die in Übernahme der Vorgängerregelungen in Abschnitt II Nr. 1 zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zur Straßenverkehrs-Ordnung (VwV-StVO) und in Nr. 31 Abs. 3 der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz bzw. -recht (AHP) bestimmten:
„Als schwerbehinderte Menschen mit außergewöhnlicher Gehbehinderung sind solche Personen anzusehen, die sich wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können. Hierzu zählen Querschnittgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüftexartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außerstande sind, ein Kunstbein zu tragen, oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind, sowie andere schwerbehinderte Menschen, die nach versorgungsärztlicher Feststellung, auch auf Grund von Erkrankungen, dem vorstehend angeführten Personenkreis gleichzustellen sind.
Die Annahme einer außergewöhnlichen Gehbehinderung darf nur auf eine Einschränkung der Gehfähigkeit und nicht auf Bewegungsbehinderungen anderer Art bezogen werden. Bei der Frage der Gleichstellung von behinderten Menschen mit Schäden an den unteren Gliedmaßen ist zu beachten, dass das Gehvermögen auf das Schwerste eingeschränkt sein muss und deshalb als Vergleichsmaßstab am ehesten das Gehvermögen eines Doppeloberschenkelamputierten heranzuziehen ist. Dies gilt auch, wenn Gehbehinderte einen Rollstuhl benutzen: Es genügt nicht, dass ein solcher verordnet wurde; die Betroffenen müssen vielmehr ständig auf den Rollstuhl angewiesen sein, weil sie sich sonst nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung fortbewegen können. Als Erkrankungen der inneren Organe, die eine solche Gleichstellung rechtfertigen, sind beispielsweise Herzschäden mit schweren Dekompensationserscheinungen oder Ruheinsuffizienz sowie Krankheiten der Atmungsorgane mit Einschränkungen der Lungenfunktion schweren Grades anzusehen.“
Diese Bestimmungen differenzieren zwischen Regelbeispielen und Gleichstellungsfällen: Beim Vorliegen eines der in Teil D 3 lit. b Satz 2 Halbs. 1 VMG a.F. genannten Regelbeispiele wird unwiderleglich vermutet, dass sich der dort aufgeführte schwerbehinderte Mensch wegen der Schwere seines Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb seines Kraftfahrzeuges bewegen kann (vgl. BSG, Urt. v. 11.8.2015 – B 9 SB 2/14 R, SozR 4-3250 § 69 Nr. 19). Ist bei einem schwerbehinderten Menschen hingegen kein Regelbeispiel erfüllt, muss nach Teil D 3 lit. b Satz 2 Halbs. 2 VMG a.F. im Einzelfall geprüft werden, ob er den dort genannten Gruppen gleichzustellen ist (vgl. BSG, Urt. v. 11.3.1998 – B 9 SB 1/97 R, BSGE 82, 37 m.w.N.). Diese unter Gesamtwürdigung aller Einzelfallumstände (BSG, Beschl. v. 11.5.2016 – B 9 SB 94/15 B, juris) zu treffende Entscheidung hat sich strikt an dem Obersatz in Teil D Nr. 3 lit. b Satz 1 VMG a.F. zu orientieren (so BSG, Urt. v. 11.8.2015 – B 9 SB 2/14 R, SozR 4-3250 § 69 Nr. 19, juris; LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 17.12.2019 – L 13 SB 187/17, juris). In der Rechtsprechung war darüber hinaus teilweise ausgeführt worden, dass eine Gleichstellung nur in Betracht komme bei Personen, bei denen sich auf die Fortbewegungsfähigkeit auswirkende Funktionsstörungen mit einem Mindest-GdB von 80 vorlägen (vgl. LSG Bayern, Urt. v. 30.6.2009 – L 15 SB 118/08, juris; s. auch Wendler/Schillings, Versorgungsmedizinische Grundsätze, 10. Aufl. 2020, S. 497 f.).
Ab dem 30. Dezember 2016 richtet sich der Begriff der außergewöhnlichen Gehbehinderung nach der durch Art. 2 Nr. 13 des BTHG eingefügten Bestimmung des § 146 Abs. 3 SGB IX, die dem aktuell und seit 1. Januar 2018 geltenden § 229 Abs. 3 SGB IX textlich entspricht. Schwerbehinderte Menschen mit außergewöhnlicher Gehbehinderung sind danach Personen mit einer erheblichen mobilitätsbezogenen Teilhabebeeinträchtigung, die einem Teil-GdB von mindestens 80 entspricht. Eine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung liegt vor, wenn sich schwerbehinderte Menschen wegen der Schwere ihrer Beeinträchtigung dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeugs bewegen können. Hierzu zählen insbesondere schwerbehinderte Menschen, die aufgrund der Beeinträchtigung der Gehfähigkeit und Fortbewegung – dauerhaft auch für sehr kurze Entfernungen – aus medizinischer Notwendigkeit auf die Verwendung eines Rollstuhls angewiesen sind. Verschiedenste Gesundheitsstörungen (insbesondere Störungen bewegungsbezogener, neuromuskulärer oder mentaler Funktionen, Störungen des cardiovaskulären oder des Atmungssystems) können die Gehfähigkeit erheblich beeinträchtigen. Diese sind als außergewöhnliche Gehbehinderung anzusehen, wenn nach versorgungsärztlicher Feststellung die Auswirkung der Gesundheitsstörungen sowie deren Kombination auf die Gehfähigkeit dauerhaft so schwer ist, dass sie der unter § 146 Abs. 3 Satz 1 SGB IX genannten Beeinträchtigung gleichkommt.
In der Gesetzesbegründung zu § 146 Abs. 3 SGB IX bzw. § 229 SGB IX (BT-Drucks. 18/9522 vorl., S. 317) werden Beispielsfälle genannt, die auf Vorarbeiten einer Arbeitsgruppe zurückgehen, welche aus Vertreterinnen und Vertretern der Verkehrs- und Sozialressorts von Bund und Ländern, einzelnen Mitgliedern des ärztlichen Sachverständigenbeirats Versorgungsmedizin und vom Deutschen Behindertenrat benannten Personen bestand. Danach können die genannten Voraussetzungen erfüllt sein bei zentralnervösen, peripher-neurologischen oder neuromuskulär bedingten Gangstörungen mit der Unfähigkeit, ohne Unterstützung zu gehen oder wenn eine dauerhafte Rollstuhlbenutzung erforderlich ist (insbesondere bei Querschnittlähmung, Multipler Sklerose, ALS, Parkinson-Erkrankung, Para- oder Tetraspastik in schwerer Ausprägung), einem Funktionsverlust beider Beine ab Oberschenkelhöhe oder einem Funktionsverlust eines Beines ab Oberschenkelhöhe ohne Möglichkeit der prothetischen oder orthetischen Versorgung (insbesondere bei Doppeloberschenkelamputierten und Hüftexartikulierten), schwerster Einschränkung der Herzleistungsfähigkeit (insbesondere bei Links-Herzschwäche Stadium NYHA IV), – schwersten Gefäßerkrankungen (insbesondere bei arteriellen Verschlusskrankheiten Stadium IV), Krankheiten der Atmungsorgane mit nicht ausgleichbarer Einschränkung der Lungenfunktion schweren Grades, schwersten Beeinträchtigungen bei metastasierenden Tumorleiden (mit starker Auszehrung und fortschreitendem Kräfteverfall). Im Einzelfall kann ein mobilitätsbezogener GdB von 80 auch gegeben sein bei einer Funktionseinschränkung der Arme sowohl wegen fehlender Gleichgewichtskoordination als auch wegen einer fehlenden Möglichkeit, eine Gehhilfe oder einen Rollator kompensierend zu nutzen (LSG Sachsen, Urt. v. 29.1.2021 – L 9 SB 99/19, juris).
Bei der Interpretation dieser Bestimmungen ist zudem der Zweck des Regelungsgefüges zu beachten. Das Merkzeichen „aG“ soll lediglich eine stark eingeschränkte Gehfähigkeit durch Verkürzung der Wege mithilfe der gewährten Parkerleichterungen ausgleichen, wobei wegen der begrenzten städtebaulichen Möglichkeiten, Raum für Parkerleichterungen zu schaffen, hohe Anforderungen zu stellen sind, um den Kreis der Begünstigten kleinzuhalten (vgl. BSG, Urt. v. 16.3.2016 – B 9 SB 1/15 R, SozR 4-3250 § 69 Nr. 22; BSG, Urt. v. 29.3.2007 – B 9a SB 1/06 R, juris; BSG, Urt. v. 11.3.1998 – B 9 SB 1/97 R, BSGE 82, 37; BSG, Urt. v. 10.12.2002 – B 9 SB 5/05 R, juris; vgl. BT-Drucks. 8/3150, S. 9 f.). Mit einer Vermehrung der Parkflächen würde dem gesamten Personenkreis eine durchschnittlich längere Wegstrecke zugemutet, weil ortsnaher Parkraum nicht beliebig geschaffen werden kann. Daher würde bei einer an sich wünschenswerten Ausweitung des begünstigten Personenkreises der in erster Linie zu begünstigende Personenkreis wieder benachteiligt (BSG, Urt. v. 13.12.1994 – 9 RVs 3/94, SozR 3-3870 § 4 Nr. 11). Ausgehend hiervon hat das Bundessozialgericht die Regelung über die Feststellung der Voraussetzungen für das Merkzeichen „aG“ stets eng ausgelegt.
Ansatzpunkt für die Feststellung der Voraussetzungen des gesundheitlichen Merkmals „aG“ bildet das Restgehvermögen der betroffenen Person. Allerdings lässt sich ein anspruchsausschließendes Restgehvermögen weder genau quantifizieren noch qualifizieren (so BSG, Urt. v. 10.12.2002 – B 9 SB 5/05 R, juris), weshalb ein an einer bestimmten Wegstrecke und an einem bestimmten Zeitmaß orientierter Maßstab ausscheidet (vgl. BSG, Urt. v. 29.3.2007 – B 9a SB 1/06 R, juris). Vielmehr ist darauf abzustellen, unter welchen Bedingungen es dem schwerbehinderten Menschen noch möglich war, sich außerhalb seines Kraftfahrzeuges zu bewegen: Vermochte er dies – praktisch von den ersten Schritten außerhalb seines Kraftfahrzeuges an – nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung, sind die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens aG selbst dann erfüllt, wenn er gezwungenermaßen auf diese Weise längere Wegstrecken zurücklegt (st. Rspr., z.B. BSG, Urt. v. 16.3.2016 – B 9 SB 1/15 R, SozR 4-3250 § 69 Nr. 22 m.w.N.; LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 17.12.2019 – L 13 SB 187/17, juris).
In der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (z.B. BSG, Urt. v. 10.12.2002 – B 9 SB 7/01 R, BSGE 90, 180; BSG, Urt. v. 29.3.2007 – B 9a SB 5/05 R, juris; BSG, Urt. v. 11.8.2015 – B 9 SB 2/14 R, SozR 4-3250 § 69 Nr. 19) ist anerkannt, dass die Zuerkennung des Merkzeichens „aG“ nicht voraussetzt, dass ein schwer behinderter Mensch nahezu unfähig sein muss, sich auf seinen Beinen fortzubewegen. Vielmehr ist stattdessen weiterhin erforderlich, aber auch ausreichend, dass schwerbehinderte Menschen – selbst unter Einsatz orthopädischer Hilfsmittel – praktisch von den ersten Schritten außerhalb eines Kraftfahrzeugs an nur mit fremder Hilfe (damit nicht gemeint sind Hilfsmittel, wie z.B. ein Rollstuhl oder ein Rollator, vgl. LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 23.9.2004 – L 6 SB 122/04, juris) oder nur mit äußerster Anstrengung gehen können oder ihr restliches Gehvermögen so unbedeutend ist, dass sie schon nach kürzester Strecke schmerz- und/oder erschöpfungsbedingt eine Pause einlegen müssen, bevor sie weitergehen können.
Ausgehend von diesen Grundsätzen erfüllt die Klägerin die Voraussetzungen für die Feststellung des streitigen Merkzeichens „aG“ im zuletzt noch geltend gemachten Zeitraum nicht.
Zwar ist die Grundvoraussetzung einer festgestellten Schwerbehinderung seit Langem erfüllt, denn bereits mit Bescheid vom 28. Oktober 2003 ist bei der Klägerin ein Gesamt-GdB von 50 festgestellt worden. Es besteht bei der Klägerin darüber hinaus eine erhebliche Beeinträchtigung der Gehfähigkeit. Dieser Beeinträchtigung ist seit Erteilung des Widerspruchsbescheides vom 30. Juni 2011 mit der Zuerkennung des Merkzeichens „G“ Rechnung getragen worden. Es steht jedoch nicht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass im hier gegenständlichen Zeitraum 9. Februar 2015 bis 31. Dezember 2017 eine außergewöhnliche Gehbehinderung vorlag.
Das Gesetz fordert für die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für Merkzeichen als Beweismaß nicht nur eine bloße Wahrscheinlichkeit oder eine begründete Vermutung, gestützt auf einzelne ärztliche Befundberichte, sondern den sogenannten Vollbeweis. Dieser verlangt grundsätzlich die volle Überzeugung vom Vorliegen oder Nichtvorliegen einer Tatsache. Da eine absolute Gewissheit so gut wie nie möglich und vom Gesetz auch nicht gefordert ist, muss aber wenigstens eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit vorliegen. Diese ist gegeben, wenn eine Tatsache in so hohem Maße wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen und verbleibenden Zweifeln Schweigen geboten ist (vgl. Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl. 2020, § 128 Rn. 3b m.N. aus der Rspr. des BSG). Einen Rechtssatz wie z.B. „Im Zweifel für die/den Versicherte/n“ gibt es im Sozialrecht nicht.
Eine Überzeugung im vorgenannten Sinn ist angesichts der teilweise widersprüchlichen medizinischen Berichte sowie mit Blick auf die Ausführungen der gerichtlich bestellten Sachverständigen für die Zeit vor dem 1. Januar 2018 aber nicht zu gewinnen. Selbst für das Jahr 2017 ist nicht mit an Gewissheit grenzender Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass die Mobilitätseinschränkungen der Klägerin bereits solchen Ausmaßes waren, dass sie die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen „aG“ rechtfertigen könnten. So wird beispielsweise die der Klägerin mögliche Gehstrecke sehr unterschiedlich beschrieben. Zwar wird in einzelnen Attesten und Berichten der behandelnden Ärzte – teilweise auch nur anamnestisch, d.h. ausgehend von den Angaben der Klägerin selbst – die Gehstrecke mit 10 m oder weniger angegeben (z.B. U. 19.1.2017, ähnlich Radiologische Praxis 12.1.2017; Gemeinschaftspraxis S2 24.2.2017). Dagegen wird an anderer Stelle angegeben, die der Klägerin mögliche Gehstrecke betrage 25-50 m (z.B. N. 2.12.2016). Dies wird auch in verschiedenen Attesten aus dem Jahr 2017 so angegeben (z.B. Dr. M2 23.11.2017). Für das Jahr 2017 finden sich ebenso Arztberichte, in denen die noch mögliche Gehstrecke – deutlich länger – mit „unter 100 m“ angegeben wird (z.B. Orth. Gemeinschaftspraxis S2 6.3.2018 [für 2017]) bzw. ein Gehvermögen nur „für längere Strecken“ verneint wird (z.B. Orth. Gemeinschaftspraxis S2 24.2.2017). Zudem wird in anderen medizinischen Berichten beschrieben, dass sich die Gelenke der oberen und unteren Extremitäten altersentsprechend frei beweglich gezeigt haben, Muskelkraft und Muskeltonus im Normalbereich lägen, eine Parese nicht vorliege (z.B. M. 9.6.2017; ganz ähnlich auch H. 19.10.2017). Das Gangbild sei unauffällig (M. 21.4.2017), die Klägerin sei „zügig am Rollator“ zur Abschlussuntersuchung gekommen (H. 19.10.2017).
Aus diesen Attesten und sonstigen ärztlichen Befund- und Behandlungsberichten geht jedoch in keiner Weise hervor, ob die Klägerin die jeweils genannten und teilweise auch bezifferten Strecken nur mit einem Hilfsmittel, z.B. einem Rollator, zurücklegen konnte. Die behandelnden Ärzte haben für eine Fortbewegung mit Hilfsmitteln weder eine zeitliche noch eine streckenmäßige Begrenzung angegeben. Dass mit einem Rollator nicht noch Strecken zurückgelegt werden konnten, die das Vorliegen der Voraussetzungen des gesundheitlichen Merkmals „aG“ nicht nahelegen, ist nicht wahrscheinlicher, als dass es unwahrscheinlich ist. Zudem ist aus den Attesten bzw. Befund- und Behandlungsberichten nicht für einen Außenstehenden nachvollziehbar ersichtlich, aus welchen medizinischen Gründen und aufgrund welcher Untersuchung mit welchen Mitteln genau die noch mögliche Gehstrecke gerade bei der jeweils angegebenen Distanz liegen soll. Das uneinheitliche Bild von den der Klägerin noch möglichen Wegstrecken für die Zeit vor dem 1. Januar 2018 steht einer Überzeugung des Senats vom Vorliegen der Voraussetzungen des gesundheitlichen Merkmals „aG“ mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit entgegen.
Auch aus rückschauender Perspektive steht nicht zur Überzeugung fest, dass die Voraussetzungen des gesundheitlichen Merkmals „aG“ bereits vor dem 1. Januar 2018 vorgelegen haben. Für die Zeit ab Januar 2018 häufen sich jedoch die Anzeichen dafür, dass sich die mögliche Gehstrecke der Klägerin weiter reduziert hat (siehe z.B. die Berichte von Dr. M2 26.2.2018; Dr. B. 26.3.2018, Dr. K1 7.6.2018 [für Januar 2018]). Dies erscheint deswegen plausibel, weil die Spinalkanalstenose sich in der Computertomographie der Lendenwirbelsäule vom 26. Februar 2018 im Vergleich zu den Vorbefunden weiter verschlechtert hatte. Dies ist hinzugetreten zu weiteren Erkrankungen der Klägerin, die ihr das Gehen erschwert haben dürften. Dies war dies letztlich auch für den Sachverständigen Dr. M1 in dessen Gutachten vom 7. März 2019 ausschlaggebend, vom Vorliegen der Voraussetzungen für das Merkzeichen „aG“ auszugehen.
Der Sachverständige Dr. M1 ist in seinem in sich schlüssigen und für das Gericht nachvollziehbaren Gutachten zu dem Ergebnis gelangt, dass die Voraussetzungen für das gesundheitliche Merkmal „aG“ erst ab Januar 2018 vorlagen, weil gesundheitliche Einschränkungen, die dies nahelegen (insbesondere die Beeinträchtigungen der Wirbelsäule), erst ab frühestens Januar 2018 nachweisbar waren. Für die Richtigkeit dieses Ergebnisses spricht, dass dem Sachverständigen Dr. M1 sämtliche der vorgenannten Atteste sowie Befund- und Behandlungsberichte vorgelegen haben und dieser sie ausgewertet hat. Maßgebend für ihn war indes nicht, wie die Klägerin meint, die aufgrund einer stattgehabten Rotatorenmanschettenruptur mit Bizeps-Sehnenabriss aktuell fehlende Fähigkeit zur Anhebung des rechten Armes, sondern die Spinalkanalstenose, die sich erst in einer Computertomografie vom 26. Februar 2018 so deutlich zeigte, dass von einer signifikanten Verschlechterung des Gangbildes auszugehen war. Erst aus ihr ergab sich ein sicherer Nachweis einer merklichen Zunahme der Kniegelenksarthrose und der Hüftgelenksarthrose. Zudem wurde erst dort eine Irritation der Nervenwurzel L5 beidseits beschrieben, was die mittlerweile bestehenden Lähmungen am linken Fuß erklärt. Die Rotatorenmanschettenruptur hingegen führt zu einer „langfristigen“ Kraftabschwächung im rechten Arm – so der Sachverständige Dr. M1 – und hat damit logischerweise nicht bereits ab dem Ereignis der Ruptur Relevanz für die Gehfähigkeit der Klägerin. Zudem ist belegt, dass die Nutzung eines Rollators im Jahr 2017 noch nicht ausgeschlossen war, denn die Klägerin hat einen solchen noch benutzt, z.B. in den H., um damit „zügig“ zur Abschlussuntersuchung zu gelangen. Dass ihre (Rest-)Armkraft nicht ausgereicht habe, um den Rollator zu bewegen, ist nicht nachgewiesen.
Die Klägerin erfüllte tatsächlich nicht die Voraussetzungen eines der oben zitierten Regelbeispiele, denn sie verfügt noch über sämtliche unteren Gliedmaßen. Eine Gleichstellung kommt auch deswegen nicht in Betracht, weil die Schwere der Beeinträchtigungen ihrer Mobilität trotz erheblicher Gehbeeinträchtigung offensichtlich nicht beispielsweise der eines Doppeloberschenkelamputierten entspricht, der von den VMG a.F. als Leitbild herangezogen wird. Vielmehr ist es der Klägerin im Jahr 2017 und früher noch möglich gewesen, sich mithilfe eines Rollators aus eigener Kraft über eine gewisse Strecke fortzubewegen.
Hinzu tritt in rechtlicher Hinsicht, dass bis zum 21. April 2015 lediglich ein Gesamt-GdB von 80 festgestellt war, der nicht allein auf Mobilitätseinschränkungen beruhte, sondern auch auf weitere Lebensbereiche. Damit fehlt es jedenfalls bis zu diesem Zeitpunkt an einer weiteren Voraussetzung für die Feststellung einer außergewöhnlichen Gehbehinderung.
Ausgehend vom Gutachtens des Dr. M1 war der Beklagte zunächst davon ausgegangen, dass die Voraussetzungen des gesundheitlichen Merkmals „aG“ mit Sicherheit ab Januar 2019 vorliegen, jedoch unter Berücksichtigung der Krankheitsentwicklung dieses möglicherweise bereits ab Januar 2018 der Fall gewesen sein könnte. Dies hat der Beklagte letztlich zugunsten der Klägerin gewertet und die Voraussetzungen des gesundheitlichen Merkmals „aG“ bereits mit Wirksamkeit ab Januar 2018 festgestellt. Das Sozialgericht hat sich dieser Auffassung angeschlossen. So tut es auch der Senat nach eigener Prüfung der Sach- und Rechtslage. Anhaltspunkte dafür, dass die Einschränkungen der Gehfähigkeit zu einem früheren Zeitpunkt, etwa bereits ab dem Datum der Antragstellung nachgewiesen wären, liegen nicht zur Überzeugung des Senats vor.
Auch durch die zuletzt eingereichten medizinischen Unterlagen – wovon annähernd sämtliche bereits in der Akte vorhanden waren – ändert sich nichts an der nachvollzieh- und belegbaren Beurteilung durch den Sachverständigen Dr. M1. Denn die Befundberichte und Atteste machen lediglich Ausführungen entweder rein anamnestischer Natur oder es wird die Zuerkennung eines Merkzeichens unter Angabe einer möglichen Wegstrecke geäußert, ohne dass ersichtlich wäre, aufgrund welcher gesundheitlichen Gegebenheiten die Einschränkung bestehe. Sofern letzteres angegeben wird, ist nicht ersichtlich, dass die mögliche Wegstrecke durch eine Testung validiert worden wäre. Angesichts der Kürze der angegebenen möglichen Wegstrecke hätte dies nahegelegen und wäre auch einer Arztpraxis zumutbar gewesen.
Aus der Zuerkennung einer Pflegestufe bzw. eines Pflegegrad kann nicht auf Mobilitätseinschränkungen im Sinne des SGB IX und insbesondere nicht auf das Vorliegen der medizinischen Voraussetzungen für das gesundheitliche Merkmal „aG“ geschlossen werden, da insoweit verschiedene gesetzliche Maßstäbe zugrunde liegen.
Aus dem Faktum, dass die Klägerin zur Fortbewegung ein Hilfsmittel – hier: einen ihr ärztlich verordneten elektrischen Rollstuhl – nutzt, ist nicht per se auf das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens „aG“ im Rahmen des Teilhaberechts zu schließen. Insoweit sind die unterschiedlichen Maßstäbe im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung bzw. der sozialen Pflegeversicherung und dem Schwerbehindertenrecht zu beachten. Während das System der gesetzlichen Krankenversicherung bzw. das der sozialen Pflegeversicherung primär der Linderung bestehender Gesundheitsstörungen dienen soll, ist das Teilhaberecht auf einen Nachteilsausgleich im gesamten täglichen Leben gerichtet und daher an anderen Maßstäben orientiert. Dies ist auch hier zu beachten und steht einer nicht modifizierten Übernahme der Wertungen entgegen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG und trägt dem Ausgang des Rechtsstreits in der Hauptsache Rechnung. Dabei war der Kostenausspruch der ersten Instanz im tenorierten Umfang zu ändern (vgl. allg. zu dieser Möglichkeit Evers in: Roos/Wahrendorf/M1, BeckOGK-SGG, 3. Aufl. 2023, § 193 Rn. 4), weil die Klägerin dort durch das Teilanerkenntnis des Beklagten mit einem Teil ihrer Klage hinsichtlich des gesundheitlichen Merkmals „aG“ erfolgreich war. Dem Teilanerkenntnis lag kein sofortiges Anerkenntnis zugrunde. Angesichts der Vielzahl weiterer geltend gemachter gesundheitlicher Merkmale sowie eines höheren GdB auch in früheren Zeiträumen, hinsichtlich derer die Klagerweiterung jedoch unzulässig war, kann der Kostenausspruch für die erste Instanz des gerichtlichen Verfahrens keinesfalls ein Viertel der notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin überschreiten. Im Übrigen ist die Klägerin unterlegen und sind ihr außergerichtliche Kosten nicht zu erstatten.
Die Revision war nicht zuzulassen, weil die gesetzlichen Voraussetzungen hierfür nicht vorliegen (vgl. § 160 SGG). im hier geführten Verfahren stellen sich keine Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung, hinsichtlich derer noch keine höchstrichterliche Rechtsprechung existiert oder die über eine Beurteilung des hier gegenständlichen Einzelfalls hinausgehen.