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Voraussetzungen einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit

Bayerisches Landessozialgericht – Az.: L 6 R 825/09 – Urteil vom 17.03.2011

I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 23.07.2009 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Streitig ist der Rentenanspruch des Klägers wegen Erwerbsminderung.

Der 1969 in A./Westfalen geborene Kläger ist im Oktober 1984 in die gesetzliche Rentenversicherung eingetreten und war nach Abbruch einer Ausbildung zum Koch in verschiedenen Berufen beschäftigt. Eine Umschulung zum Kfz-Mechaniker brach er im Dezember 1993 ab; einen Lehrgang in Schweißtechnik beendete er im April 1994. Als Schweißer war er bis Ende 1998 tätig. Nach einer weiteren Umschulungsmaßnahme zum Informatikkaufmann, die er im Juli 2001 nach einem Unfall, der sich Anfang 2001 ereignet hatte, aus gesundheitlichen Gründen ohne Abschluss beendete, übte der Kläger keine beitragspflichtigen Beschäftigungen mehr aus.

Einen ersten Rentenantrag wegen Erwerbsminderung vom 30.04.2003 lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 03.07.2003 im Wesentlichen mit der Begründung ab, der Kläger könne bei einer „undifferenzierten Somatisierungsstörung, Rückenbeschwerden, ohne jegliches organisches Korrelat, ohne Funktionseinschränkung und ohne radikuläre Symptomatik“, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes noch mindestens sechs Stunden täglich arbeiten. Den hiergegen erhobenen Widerspruch wies die Widerspruchsstelle der Beklagten mit Widerspruchsbescheid vom 30.03.2004 mit entsprechender Begründung zurück.

Hiergegen erhob der Kläger am 20.04.2004 Klage zum Sozialgericht (SG) Augsburg, die nach Beiziehung von Befundberichten der behandelnden Ärzte, Dres. E. und H., sowie einer Untersuchung und Begutachtung im „Deutschen Zentrum für Fibromyalgie“ in Bad B. (am 03.02.2005) in der mündlichen Verhandlung der 14. Kammer des SG Augsburg vom 22.09.2005 zurückgenommen wurde. Als wesentliche Gesundheitsstörung wurden damals ein „Fibromyalgiesyndrom“, dem eine Somatisierungsstörung inklusive einer anhaltend somatoformen Schmerzstörung zugrunde lag, diagnostiziert, wodurch eine mindestens sechsstündige Leistungsfähigkeit aber nicht ausgeschlossen wurde (S 14 RJ 232/04).

Am 06.12.2005 stellte der Kläger den Rentenantrag, der mit dem angefochtenen Bescheid vom 26.01.2006 abgelehnt wurde. Zur Begründung führte die Beklagte aus, der Kläger könne – bei einer Schmerzfehlverarbeitung, Bluthochdruck und Erregungsleitungsstörung im EKG – noch mindestens sechs Stunden täglich arbeiten. Der hiergegen erhobene Widerspruch wurde vom Prozessbevollmächtigten des Klägers damit begründet, dass dieser „aufgrund eines Unfalls nachweislich unter einem Fibromyalgiesyndrom mit Somatisierungsstörungen und Arthrose beider Kniegelenke leide“. Nach Einholung eines weiteren Befundberichtes des behandelnden Facharztes für Allgemeinmedizin, Dr. E., wies die Widerspruchsstelle der Beklagten den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 04.10.2006 als unbegründet zurück: Der Kläger sei in der Lage, nach kurzfristiger Einarbeitungszeit und Unterweisung z. B. noch leichte Montier-, Sortier-, Verpacker- oder Maschinenarbeiten, unter den üblichen Arbeitsbedingungen, sechs Stunden täglich zu verrichten.

Die hiergegen am 07.11.2006 zum SG Augsburg erhobene Klage begründete der Prozessbevollmächtigte des Klägers wiederum mit einem Fibromyalgiesyndrom und Somatisierungsstörungen, mit ständigen Schmerzen im gesamten Körper, die zu einem kompletten Nachlassen von Konzentration und Arbeitsfähigkeit bereits nach ein bis zwei Stunden führten. Ferner leide er nach einem Sportunfall am 13.05.2005 unter einer Spondylarthrose der BWS sowie einem HWS-Syndrom.

Das SG hat aktuelle Befundberichte und zunächst von Amts wegen ein orthopädisches Gutachten durch den gerichtsärztlichen Sachverständigen Dr. Z. eingeholt. Auf das Gutachten von Dr. Z. vom 16.04.2007 und die hierin festgestellten Gesundheitsstörungen (insbesondere ein „generalisiertes Ganzkörperschmerzsyndrom“ im Wesentlichen deckungsgleich mit dem vormals diagnostizierten „Fibromyalgiesyndrom) wird verwiesen.

Unter Beachtung dieser Gesundheitsstörungen hat Dr. Z. zum Leistungsvermögen des Klägers ausgeführt, dass dieser leichte bis gelegentlich mittelschwere Tätigkeiten, mit einzeln aufgeführten qualitativen Einschränkungen, unter Einhaltung der gesetzlich vorgesehenen Arbeitspausen, vollschichtig, d. h. mindestens sechs Stunden täglich verrichten könne.

Nach Erörterung des Rechtsstreits am 03.04.2008 hat das SG weitere Befundberichte auf neurologisch-psychiatrischem sowie auf internistisch/kardiologischem Gebiet beigezogen, die im Wesentlichen die bereits bekannten Befunde bestätigt haben.

Auf Antrag des Klägers ist schließlich gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) vom Orthopäden und Rheumatologen Dr. H. ein weiteres Gutachten eingeholt worden. Dr. H. hat in seinem Gutachten vom 02.01.2009 im Wesentlichen ein „Fibromyalgiesyndrom und eine somatoforme Schmerzstörung“ festgestellt sowie zum Leistungsvermögen ausgeführt, dass dem Kläger Schwerarbeit, insbesondere Arbeiten überwiegend in Zwangshaltungen sowie Arbeiten mit häufigem Heben und Tragen von Lasten sowie unter Einwirkung von Kälte und Temperaturschwankungen und Zugluft nicht zumutbar seien. Unter Berücksichtigung dieser Einschränkungen könne er jedoch sechs Stunden und mehr täglich leichte bis gelegentlich mittelschwere Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ausüben.

Auf die mündliche Verhandlung vom 23.07.2009 hat die 14. Kammer des SG Augsburg die Klage hierauf mit der Begründung abgewiesen, nach dem Ergebnis der gerichtsärztlichen Begutachtung durch Dres. Z. und H. sei das berufliche Leistungsvermögen des Klägers qualitativ, nicht aber quantitativ eingeschränkt. Der Kläger leide nicht an einer spezifischen schwerwiegenden Leistungsbehinderung und sein Leistungsvermögen sei auch nicht durch eine Vielzahl ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen (im Sinne der BSG Rechtsprechung) gemindert. Damit gelte hier der allgemeine Erfahrungssatz des „offenen Arbeitsmarktes“. Für die Einholung eines berufskundlichen Gutachtens bestehe mithin keine Veranlassung. Das Urteil ist dem Klägerbevollmächtigten am 14.08.2009 zugestellt worden.

Die am 14.09.2009 eingelegte Berufung hat der Klägerbevollmächtigte damit begründet, dass durchaus eine „Summierung qualitativer Einschränkungen“ vorliege. Neben den entsprechenden Feststellungen im Gutachten von Dr. Z., sei noch zu berücksichtigen, dass der Kläger wegen Durchfalls vier- bis fünfmal täglich auf die Toilette gehen müsse und zudem derart schwitze, dass er mehrmals täglich die Kleidung wechseln müsse.

Der Senat hat von Amts wegen ein nervenärztliches Gutachten durch den Neurologen und Psychiater Dr. L. eingeholt. In seinem Gutachten vom 10.05.2010 hat dieser Sacherständige ein schmerzhaftes Wirbelsäulensyndrom mit ausstrahlenden Beschwerden und eine dysfunktionelle Myoarthropathie festgestellt. Auch Dr. L. hat eine Arbeit von wenigstens sechs Stunden täglich an fünf Tagen in der Woche mit qualitativen Einschränkungen für zumutbar erachtet.

Zu diesem Gutachten hat der Kläger – vertreten durch seinen Prozessbevollmächtigten – eingewandt, Dr. L. habe mit einer Bemerkung, dass er „die Rente vergessen könne“ den Eindruck erweckt, er sei von vornherein aus nicht nachvollziehbaren Gründen befangen gewesen. Die Notwendigkeit des häufigen Toilettenbesuches erfordere die Einholung eines berufskundlichen Sachverständigengutachtens zu der Frage, ob dies unter normalen Arbeitsbedingungen möglich sei. Die vom gerichtsärztlichen Sachverständigen benannten Verweisungstätigkeiten – wie Gärtnerdienste und Sortierarbeiten – könne der Kläger jedenfalls nicht mehr ausüben. Zudem liege bereits nach dem Gutachten von Dr. Z. eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen vor, so dass die Frage der konkreten Verweisbarkeit von einem berufskundigen Sachverständigen zu klären sei.

Der Kläger beantragt, die Beklagte, unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Augsburg vom 23.07.2009 und des Bescheides der Beklagten vom 26.01.2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.10.2006, zu verurteilen, ihm ab Antragstellung Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit zu gewähren.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Sie sieht die Rentenablehnung durch das Ergebnis der gerichtsärztlichen Begutachtung bestätigt und führt als konkret zumutbare Berufe die eines „Pförtners, Telefonisten, Parkplatzwächters oder Sichtkontrolleurs von Kleinteilen“ an.

Im Übrigen wird auf den Inhalt der Verwaltungsakten, der Akten des Sozialgerichts und auf die Berufungsakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die form- und fristgerecht (§ 151 Sozialgerichtsgesetz – SGG -) eingelegte Berufung ist auch im Übrigen zulässig (§§ 144,146,149 SGG), sachlich aber nicht begründet.

Das mit der Berufung angefochtene Urteil des SG Augsburg vom 23.07.2009 ist nicht zu beanstanden. Denn nach dem Ergebnis der medizinischen Begutachtungen steht fest, dass das Leistungsvermögen des Klägers weder in quantitativer noch qualitativer Hinsicht maßgeblich eingeschränkt ist. Die gesetzlichen Voraussetzungen für einen Rentenanspruch wegen Erwerbsminderung sind somit nicht erfüllt.

Versicherte haben gemäß § 43 Abs. 2 Satz 1 bzw. Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch, 6. Buch – SGB VI – bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze – Anspruch auf Rente wegen voller bzw. teilweiser Erwerbsminderung, wenn sie

1. voll bzw. teilweise erwerbsgemindert sind,

2. in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und

3. vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.

Voll erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Teilweise erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein.

Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung haben nach § 240 Abs.1 SGB VI bei Erfüllung der sonstigen Voraussetzungen bis zum Erreichen der Regelaltersrente auch Versicherte, die

1. vor dem 02.01.1961 geboren und

2. berufsunfähig sind.

Der Anspruch auf Rente gemäß §240 SGB VI scheidet hier bereits aufgrund des Geburtsdatums des Klägers aus, so dass sich die Frage des Berufsschutzes nicht stellt.

Nach dem Ergebnis der medizinischen Begutachtungen, die insbesondere im Klageverfahren und im Berufungsverfahren durchgeführt worden sind, kommt auch die Gewährung einer Rente nach § 43 SGB VI nicht in Betracht. Denn die Beurteilungen durch die Sachverständigen, die im Klage- und Berufungsverfahren herangezogen worden sind, bestätigen durchgehend eine mindestens 6-stündige Leistungsfähigkeit und schließen zudem „eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen“ bzw. „eine schwerwiegende spezifische Leistungseinschränkung“ des Klägers aus. Der Senat erachtet diese Einschätzungen des Leistungsvermögens für überzeugend und schließt sich diesen vollumfänglich an.

In seinem für das SG erstellten Gutachten vom 16.04.2007 hat Dr. Z. im Wesentlichen ein „generalisiertes Ganzkörperschmerzsyndrom ohne pathomorphologische Veränderungen bzw. entzündliche Ursachen, Zervikobrachialgie, rechtsbetont, bei Bandscheibenvorfall C 3/C 4, ohne neurologische Defizite, eine beginnende Gonarthrose bds. sowie ein fehlstatisches HWS-/LWS-Syndrom mit pseudoradikulärer Schmerzausstrahlung“ festgestellt. Das von ihm diagnostizierte „Ganzkörperschmerzsyndrom“ hat er als im Wesentlichen deckungsgleich mit dem vormals diagnostizierten „Fibromyalgiesyndrom“ erachtet.

Unter Beachtung dieser Gesundheitsstörungen (sowie der Beurteilungskriterien der „Deutschen Gesellschaft für Rheumatologie“) hat Dr. Z. zum Leistungsvermögen des Klägers ausgeführt, dass dieser leichte bis gelegentlich mittelschwere Tätigkeiten, vollschichtig, d. h. mindestens sechs Stunden, unter Einhaltung der gesetzlich vorgesehenen Arbeitspausen verrichten könne. Keine Leistungsfähigkeit bestehe für Arbeiten, die mit einer erhöhten Notwendigkeit der geistigen Aufmerksamkeit (sofern die Arbeitsanteile mehr als 1/3 der Tagesarbeit umfassten), mit psycho-physischen Stressoren, klimatischen Stressoren, Lärm, Hitze, Kälte, irritativen Gasen und Dämpfen sowie Stäuben verbunden seien. Schicht- und Nachtarbeit, Akkord und akkordähnliche Tätigkeiten seien ebenfalls ausgeschlossen. Gesundheitsfördernd sei eine Arbeit möglichst in Gleitzeit, mit selbstbestimmtem Arbeitsrhythmus, in gut klimatisierten Räumen, mit ausreichender Luftfeuchtigkeit und angenehmen Lichtverhältnissen sowie unter ergonomischer Arbeitsplatzzurichtung. Entsprechende Tätigkeiten könnten sowohl im Stehen, Sitzen wie im Gehen durchgeführt werden; die noch zumutbaren Arbeiten könnten unter Einhaltung der üblichen Arbeitspausen erbracht werden. Eine maßgebliche Beschränkung des Gehweges verneint Dr. Z..

Auch der gemäß § 109 SGG im Klageverfahren gehörte Gutachter Dr. H. ist zu einem „mehr als sechsstündigen Leistungsvermögen“ des Klägers gelangt. Dr. H. hat in seinem Gutachten vom 02.01.2009 ein „Fibromyalgiesyndrom, ein chronisches pseudo-radikuläres cervikalbetontes Wirbelsäulensyndrom, bei kleinem Bandscheibenvorfall C 3/4, ohne wesentliche Funktionseinschränkungen, Chondropathia patellae bds., ohne wesentliche Funktionseinschränkung und eine somatoforme Schmerzstörung“ festgestellt. Zum Leistungsvermögen hat Dr. H. ausgeführt, dass dem Kläger Schwerarbeiten, insbesondere Arbeiten überwiegend in Zwangshaltungen sowie Arbeiten mit häufigem Heben und Tragen von Lasten sowie unter Einwirkung von Kälte und Temperaturschwankungen und Zugluft, nicht zumutbar seien. Unter Berücksichtigung dieser Einschränkungen könne er jedoch sechs Stunden und mehr täglich leichte bis gelegentlich mittelschwere Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ausüben. Dr. H. hat ebenfalls maßgebliche Beschränkungen der Gehfähigkeit des Klägers sowie ein Erfordernis weiterer Begutachtungen verneint.

Diese Leistungsbeurteilung ist durch den Arzt für Neurologie und Psychiatrie, Dr. L., im Berufungsverfahren in vollem Umfange bestätigt worden.

Dr. L. hat als Diagnosen „ein schmerzhaftes Wirbelsäulensyndrom mit ausstrahlenden Beschwerden (mit vertebragenen Kopfschmerzen und Cervicobrachialgien) sowie eine disfunktionelle Myoartropathie beidseits“ festgestellt.

Dieser Diagnosestellung liegen u.a. die Angaben des Klägers zu Grunde, der seine Beschwerden als „Schmerzen am ganzen Körper, am gesamten Muskelapparat, im Gesicht, hauptsächlich vor dem Ohr, in der Nacken- und Hinterkopfregion, bis zur Stirn“ beschrieben hat. Ferner hat der Kläger angegeben, dass ihm vorwiegend nachts rechtsseitig die Hände einschlafen würden. Medikamente nehme er allerdings keine und er sei auch nicht in hausärztlicher Behandlung, da ihm ohnehin niemand helfen werde. Er rauche 20 Zigaretten täglich.

Unter Beachtung der festgestellten Gesundheitsstörungen und Angaben des Klägers ist Dr. L. zu dem Ergebnis gelangt, dass schweres Heben und Tragen von Lasten, Überkopfarbeiten, Arbeiten in Nässe und Kälte und in Zwangshaltungen vermieden werden sollten. Im Hinblick auf ein möglicherweise beginnendes Carpaltunnelsyndrom sei auch der schwere Gebrauch der Hände zu vermeiden. Leichte bis gelegentlich mittelschwere Arbeiten seien dagegen möglich, selbst unter Zeitdruck und im Akkord. Zusätzliche Arbeitspausen, arbeitsunübliche Pausen seien nicht notwendig. Ein vollschichtiges Arbeiten (wenigstens sechs Stunden) sei täglich an fünf Tagen in der Woche möglich. Auch Dr. L. verneint eine Einschränkung der Wegefähigkeit; er hält weitergehende fachärztliche Gutachten im Übrigen für nicht notwendig.

Eine „Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen“ liegt damit nicht vor.

Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung (u.a. Beschluss des Großen Senats des BSG vom 19.12.1996 – GS 2/95) ist die Benennung konkreter Verweisungsberufe für Versicherte, die – wie der Kläger – keinen Berufsschutz genießen, nur unter wesentlich engeren Voraussetzungen erforderlich, als aufgrund der konkret bestätigten qualitativen Einschränkungen. Denn die festgestellten Leistungseinschränkungen, im Wesentlichen also der Ausschluss von schwerem Heben und Tragen von Lasten, Überkopfarbeiten, Arbeiten in Nässe, Kälte und in Zwangshaltungen sowie unter besonderen Kraftanforderungen an die Hände, sind weder hinsichtlich der Art noch des Umfangs der Behinderungen als atypisch zu bezeichnen. Auch soweit der Kläger im Berufungsverfahren seinen häufigen Stuhlgang und sein ungewöhnliches Schwitzen als „besondere spezifische Leistungseinschränkungen“ reklamiert, vermögen diese nicht den Rentenanspruch zu begründen. Ungeachtet der Objektivierbarkeit der angegebenen Stuhlfrequenz (laut Angaben gegenüber Dr. Z. litt er seinerzeit, also im April 2007, „öfters an Durchfall“), ist die Erreichbarkeit sowie die Möglichkeit der Benutzung von Toiletten regelmäßig gesetzlich (durch § 6 Abs. 2 ArbStättV und durch tarifvertragliche Regelungen) garantiert. Die Notwendigkeit, häufig eine Toilette aufsuchen zu müssen (hohe Stuhlfrequenz) rechtfertigt somit nicht die Annahme, dass der Versicherte nur noch unter „betriebsunüblichen Bedingungen“ arbeiten könne (vgl. Urteil des 11. Senats des LSG Baden-Württemberg vom 26.10.2010, L 11 R 5203/09). Ebenso wenig begründet das geltend gemachte „Schwitzen“ das Erfordernis einer Benennung konkreter Einsatzmöglichkeiten (vgl. Urteil des 13. Senats des Bayer. LSG vom 27.01.2010, L 13 R 300/09 ).

Die sogenannten „Seltenheitsfälle“, die eine konkrete Benennung von Verweisungstätigkeiten erforderlich machen, sind durch langjährige höchstrichterliche Rechtsprechung hinreichend erfasst. Wenngleich nach Feststellung des 5. Senats des BSG im Urteil vom 20.10.2004 (B 5 RJ 48/03 R) kein abschließender Fallkatalog zur Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen existiert, fallen die festgestellten Einschränkungen des qualitativen Leistungsvermögens des Klägers definitiv nicht hierunter. Ebenso ist auszuschließen, dass der Kläger nur noch eine Tätigkeit ausüben könne, die „regelmäßig leistungsgeminderten Angehörigen des eigenen Betriebes“ vorbehalten bleiben, er also nur noch einen sogenannten „Schonarbeitsplatz“ einnehmen könne (vgl. z. B. Urteil des 5b Senats des BSG vom 09.09.1986, 5b RJ 50/84= SozR 2200 § 1246 RVO Nr.139). Denn die anerkannten „Seltenheits- oder Katalogfälle“ (siehe z.B. Auflistung im Urteil des 5. Senats des BSG vom 05.10.1995,5 RJ 30/95) unterscheiden sich wesentlich in ihren Tätigkeitsmerkmalen von den hier zumutbaren sogenannten „leichten Arbeiten“. Diese Abgrenzung obliegt ausschließlich der rechtlichen Beurteilung durch das Gericht und entzieht sich demgemäß – ungeachtet der unzureichenden Antragstellung des Klägers – einer Beweiserhebung durch Einholung eines Sachverständigengutachtens.

Zweifelsohne liegt beim Kläger eine langjährige Arbeitsentwöhnung vor, so dass die Rehabilitation und Reintegration in den Arbeitsprozess durchaus mit psychischen Problemen einhergehen wird. Seelische Störungen bzw. neurotische Hemmungen sind jedoch nur dann eine „erwerbsmindernde“ Krankheit, wenn sie der Versicherte – auch bei zumutbarer Willensanspannung – aus eigener Kraft nicht überwinden kann (vgl. Urteil des 11. Senats des BSG vom 01.07.1964, 11/1 RA 158/61 = BSGE 21, 189). Der im Berufungsverfahren gehörte gerichtsärztliche Sachverständige, Dr. L., hat auf neurologisch- psychiatrischem Gebiet eine entsprechende krankheitswertige seelische Einschränkung nicht diagnostiziert. Neben den eigenen Angaben des Klägers spricht auch die fehlende Medikamenteneinnahme und fachärztliche Behandlung gegen die Annahme maßgeblicher psychischer Hemmungen. Im Vordergrund imponiert hier das langjährige Rentenbegehren, das sich offensichtlich verselbständigt hat und das für den Kläger im Mittelpunkt seiner Bestrebungen steht. Nach den angewandten Testverfahren weist sein Verhalten sogar auf eine Simulation hin, um dieses Ziel zu realisieren. Unter diesem Gesichtspunkt sind selbstverständlich auch die eigenen Angaben des Klägers, insbesondere zur Schmerzsymptomatik, kritisch zu hinterfragen. Eine „sichere und verwertbare Selbstauskunft“ hat jedenfalls der gerichtsärztliche Sachverständige Dr. L. eher für unwahrscheinlich erachtet.

Gegen die Verwertbarkeit des Gutachtens von Dr. L. bestehen keine Bedenken:

Dass der Kläger mit diesem Gutachtensergebnis subjektiv nicht einverstanden sein kann, überrascht nicht. Seine Angabe, Dr. L. habe schon vor der Begutachtung erklärt „er könne eine Rente vergessen“ erscheint unter diesen Voraussetzungen nicht glaubwürdig. Zudem hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers auch darauf verzichtet, einen ausdrücklichen Ablehnungsantrag gegen den gerichtsärztlichen Sachverständigen zu stellen und lediglich in den Raum gestellt, dass dieser Gutachter „aus nicht nachvollziehbaren Gründen“ befangen gewesen sein könnte. Dieser Einwand ist außerdem, wie es für einen wirksamen Ablehnungsantrag zunächst erforderlich gewesen wäre, nicht unverzüglich nach der Untersuchung durch Dr. L. vorgebracht worden ( vgl. Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Komm. zum SGG, 9. Aufl.,§ 118 Rn. 12 l).

Die anderen gemäß § 106 und auch gemäß § 109 SGG bestellten Gutachter hatten das Leistungsvermögen des Klägers zudem im Ergebnis wie Dr. L. beurteilt. Unerheblich ist hierbei, dass Dr. L. in die Leistungsbeurteilung nicht – mehr – die Diagnose „Fibromyalgie“ einbezogen hat. Denn Dr. L. hat auf Bl. 13 seines Gutachtens durchaus plausibel dargelegt, wieso er die (ohnehin wissenschaftlich sehr umstrittene und mittlerweile stark relativierte) Diagnose einer „Fibromyalgie“ nicht weiter stützt.

Nach alledem war der Berufung der Erfolg zu versagen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Von der Verhängung von Verschuldenskosten nach § 192 Abs.1 Nr.2 SGG hat der Senat nur im Hinblick auf die Einkommenssituation des Klägers und das Vollstreckungsrisiko Abstand genommen.

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 SGG sind nicht ersichtlich.

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