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Voraussetzungen für Gewährung einer Erwerbsminderungsrente

Bayerisches Landessozialgericht – Az.: L 19 R 815/15 – Urteil vom 04.07.2018

I. Auf die Berufung der Beklagten hin wird das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 21.09.2015 aufgehoben und die Klage gegen den Bescheid vom 23.10.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24.02.2014 abgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Streitig ist zwischen den Beteiligten, ob der Kläger aufgrund seines Antrags vom 11.04.2012 gegen die Beklagte einen Anspruch auf Gewährung einer Erwerbsminderungsrente hat.

Der 1956 geborene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger und am 09.03.1996 in die Bundesrepublik Deutschland zugezogen. Er hat keine Berufsausbildung absolviert und war in verschiedenen Helfertätigkeiten bis 10.09.2009 mit Unterbrechungen versicherungspflichtig beschäftigt.

Am 11.04.2012 beantragte der Kläger zunächst formlos bei der Beklagten die Gewährung von Erwerbsminderungsrente. Im Formblattantrag vom 15.05.2012 gab er an, seit 11.09.2009 keine Beiträge mehr entrichtet zu haben, weil er „vom Arbeitsamt wegen zu großem Stress abgemeldet worden“ sei. Er halte sich wegen „psychischer Überbelastung“ seit August 2009 für erwerbsgemindert. Er könne „nichts an Stress vertragen“.

Die Beklagte holte ein sozialmedizinisches Gutachten von Dr. M. ein, der am 03.08.2012 zu dem Ergebnis gelangte, dass der Kläger die zuletzt ausgeübte Tätigkeit als Gas- und Wasserinstallateur-Helfer nur noch unter 3 Stunden, Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes aber noch mindestens 6 Stunden täglich unter Beachtung qualitativer Leistungseinschränkungen verrichten könne. Der Kläger habe als Hauptproblem psychische Probleme angegeben, sei aber bisher noch nicht bei einem Psychiater gewesen, lediglich zur neurologischen Untersuchung bei Dr. L. in B-Stadt. Dieser habe zuletzt am 23.07.2012 neurologische Ausfälle ausschließen können. Er beschreibe ein Sulcus-ulnaris-Syndrom beidseits neben einer Anpassungsstörung bei Problemen mit Arbeitslosigkeit und Partnerschaftsproblemen. Die deutsche Ehefrau stelle ihren Ehemann als schwer depressiv dar. Das Problem bei der Anamnese sei, dass der Versicherte unzureichend Deutsch könne und die Ehefrau kein Türkisch. Konkrete Fragen an den Versicherten könnten nicht gestellt werden. Zum Ausschluss einer schwerwiegenden psychiatrischen Erkrankung sollte der Kläger mit einem Dolmetscher durch den Psychiater Dr. N. begutachtet werden.

Die Beklagte holte ein psychiatrisches Gutachten von Dr. N. ein, der am 04.10.2012 zu dem Ergebnis gelangte, dass der Kläger aus nervenärztlicher Sicht Helfertätigkeiten und Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes noch mindestens 6 Stunden täglich unter Beachtung qualitativer Einschränkungen hinsichtlich der psychischen Belastbarkeit und des Halte- und Bewegungsapparates verrichten könne. Beim psychischen Befund sei der Kläger zumeist ausgeglichen gewesen, habe zeitweise auch gelächelt. Nur bei Ansprache auf den Tod seiner ersten Frau und dass seine Kinder in der Türkei leben würden, sei er vorübergehend für wenige Sekunden gedrückt gewesen. Er habe sich aber rasch distanzieren können. Das formale Denken sei geordnet, die Stimmlage gut moduliert, Konzentration und Mnestik seien regelrecht gewesen.

Die Beklagte lehnte daraufhin mit streitgegenständlichem Bescheid vom 23.10.2012 eine Rentengewährung ab, weil im Zeitpunkt der Antragstellung die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nicht mehr gegeben seien und außerdem die medizinischen Ermittlungen keine Erwerbsminderung des Klägers ergeben hätten.

Hiergegen legten die damaligen Prozessbevollmächtigten des Klägers am 07.11.2012 Widerspruch mit der Begründung ein, dass der Kläger mindestens seit August 2011 aufgrund des chronifizierten Zustandes der psychischen Erkrankungen, auch in Zusammenwirken mit seinen anderen Leiden, erwerbsgemindert sei. Nach Einholung einer prüfärztlichen Stellungnahme von Dr. H. zu den vorgelegten ärztlichen Unterlagen vom 11.12.2013 wies die Beklagte den Widerspruch gegen den Bescheid vom 23.10.2012 mit Widerspruchsbescheid vom 24.02.2014 als unbegründet zurück. Zwar lägen die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen bis längstens 31.10.2011 vor, eine quantitative Leistungsminderung könne aber gleichwohl nicht gesehen werden. Eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit nach § 240 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch – SGB VI – komme ebenfalls nicht in Betracht. Aufgrund seines beruflichen Werdeganges müsse sich der Kläger auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisen lassen.

Zur Begründung der hiergegen am 24.03.2014 zum Sozialgericht Würzburg (SG) erhobenen Klage haben die Prozessbevollmächtigten des Klägers mit Schriftsatz vom 26.05.2014 darauf hingewiesen, dass die von der Beklagten eingeholten Gutachten von Dr. M. und Dr. N. nicht verwertbar seien, weil die Untersuchung des Klägers ohne Beiziehung eines Dolmetschers erfolgt sei. Der Kläger könne nur unzureichend Deutsch, seine ihn begleitende Ehefrau könne kein Türkisch. Nach den Feststellungen des behandelnden Neurologen Dr. L. von Oktober 2008 sei bereits dort die Diagnose einer Anpassungsstörung bei Problemen mit Arbeitslosigkeit und Partnerschaftsproblemen gestellt worden. Prof Dr. Sch. habe am 12.09.2012 die Diagnose einer Anpassungsstörung und Somatisierungsstörung bei Migrationshintergrund gestellt. Der Kläger sei nicht mehr in den allgemeinen Arbeitsmarkt integrierbar, vielmehr sei er seit August 2011 nur noch unter 3 Stunden täglich einsetzbar.

Das SG hat Befundberichte der behandelnden Ärzte, nämlich von der Fachärztin für Allgemeinmedizin Dr. K., der Internistin F., vom Facharzt für Psychiatrie, Psychotherapie und Neurologie Prof. Dr. Sch. und der Fachärztin für Psychosomatik und Psychotherapie, Psychoanalyse Dr. K. beigezogen und sodann ein neurologisch/psychiatrisches Sachverständigengutachten von Dr. K. und Dr. J. (Fachärztin für Neurologie) eingeholt. Diese sind unter Beiziehung eines Dolmetschers für die türkische Sprache nach Untersuchung des Klägers am 12.02.2015 in ihrem Gutachten vom 03.03.2015 zu folgenden Diagnosen gelangt:

1. Schwere depressive Episode

2. Posttraumatische Belastungsstörung Typ I

3. Leichtes polyneuropathisches Syndrom, mutmaßlich äthyltoxisch

4. Sulcus-ulnaris-Syndrom beidseits, elektrophysiologisch kompensiert, funktionell nicht relevant

5. Alkoholabhängigkeitssyndrom, gegenwärtig abstinent

Beim Kläger bestehe eine schwere depressive Episode mit Freudlosigkeit, Antriebsminderung und sozialem Rückzug. Diese sei bereits chronifiziert. Zusätzlich bestehe aufgrund des Suizids der ersten Ehefrau 1991 eine posttraumatische Belastungsstörung. Unter Beachtung der weiteren gesundheitlichen Einschränkungen bestehe beim Kläger ein aufgehobenes Leistungsvermögen auf Dauer. Aus den nervenärztlichen Diagnosen resultiere eine globale Fähigkeitsstörung, die einer willentlichen Steuerung nicht mehr zugänglich sei. Es sei davon auszugehen, dass das aufgehobene Leistungsvermögen bereits seit dem 31.10.2011 bestehe.

Zu dem Gutachten hat die Beklagte durch Dr. F. am 26.03.2015 prüfärztlich dahingehend Stellung genommen, dass mit der Leistungseinschätzung der Sachverständigen Einverständnis bestehe, allerdings nur dahingehend, dass das unter 3stündige Leistungsvermögen erst ab dem Zeitpunkt der Untersuchung durch Dr. K. am 12.02.2015 anzunehmen sei. Der Kläger leide an einer chronischen depressiven Entwicklung im Involutionsalter mit Ängsten. Gegenüber dem Gutachten von Dr. N. vom 04.10.2012 sei eine Verschlechterung eingetreten. Nach Hinweis der Prozessbevollmächtigten des Klägers, dass Dr. K. eindeutig einen Leistungsfall am 31.10.2011 bestätigt habe, hat die Beklagte durch Dr. H. am 02.06.2015 prüfärztlich dahingehend Stellung genommen, dass die Problematik der Erfüllung der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen letztmals am 31.10.2011 bereits im Verwaltungsverfahren bekannt gewesen sei. Vom behandelnden Hausarzt seien damals aber von Januar 2010 bis Dezember 2011 keine fachärztlichen Unterlagen zu erhalten gewesen. Die Behandlung bei Dr. L. im Jahr 2008 sei wegen eines Sulcus-Ulnaris-Syndroms erfolgt. Eine nervenärztliche Behandlung habe nicht stattgefunden, ebenfalls keine psychiatrische Behandlung. Die Diagnosen einer Anpassungs- und Somatisierungsstörung seien aus dem Jahr 2012. Bis November 2011 gäbe es praktisch keine validen Unterlagen.

Das SG hat hierzu eine ergänzende Stellungnahme von Dr. K. eingeholt, der am 30.06.2015 bei seinem gefundenen Ergebnis geblieben ist. Die Konfliktdynamik des Klägers sei der Suizid der Ehefrau im Jahr 1991. Hierauf seien die behandelnden Ärzte Dr. L. und Prof. Dr. Sch. überhaupt nicht eingegangen. Auch die übrigen behandelnden Ärzte des Klägers und die medizinischen Sachverständigen der Beklagten hätten das Ausmaß der psychischen Erkrankung des Klägers und auch die posttraumatische Belastungsstörung nicht erfasst. Beim Kläger bestehe ein jahrelanger Krankheitsverlauf. Es werde auf die umfangreiche Testung des Klägers unter Beiziehung des Dolmetschers verwiesen.

Hierzu hat die Beklagte durch Dr. H. am 16.07.2015 prüfärztlich Stellung genommen und darauf hingewiesen, dass ohne entsprechende ärztliche Befundunterlagen aus der Vergangenheit die Annahme einer Erwerbsminderung exakt ab dem 31.10.2011 durch den Gutachter Dr. K. vollkommen willkürlich erscheine und eben gerade nicht durch das Gutachten begründet sei.

Das SG hat sodann mit Urteil vom 21.09.2015 den Bescheid der Beklagten vom 23.10.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24.02.2014 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger unter Zugrundelegung eines Leistungsfalles am 31.10.2011 ab dem 01.04.2012 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Dauer in gesetzlicher Höhe zu gewähren. Dr. K. habe eindeutig bestätigt, dass bereits am 31.10.2011 eine volle Erwerbsminderung des Klägers vorgelegen habe. Aus der ergänzenden Stellungnahme des Dr. K. gehe für das Gericht hervor, dass der Sachverständige davon ausgegangen sei, dass die sich seit 2008 beim Kläger manifestierende psychiatrische Erkrankung stetig an Schwere zugenommen habe. Der Sachverständige habe somit gewissermaßen vom Ausgangspunkt des Jahres 2008 über den weiteren, zugegebenermaßen spärlich dokumentierten Krankheitsverlauf bis zur eigenen Untersuchung im Februar 2015 nachvollzogen, wie sich die psychische Erkrankung des Klägers weiterentwickelt habe. Der Einschätzung von Dr. H. sei zu widersprechen. Zwar sei ihm zuzugeben, dass psychiatrische Leiden häufig gewissen Schwankungen unterlägen, was ihren Schweregrad angehe. Dr. K. habe aber aus Sicht des Gerichts bestätigt, dass spätestens am 31.10.2011 von einer rentenrechtlich relevanten Einschränkung des Leistungsvermögens für Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes auf unter 3 Stunden täglich auszugehen sei. Es spreche für den Gerichtsgutachter, dass dieser nicht einen früheren Termin gewählt habe, sondern in Kenntnis des klägerischen Krankheitsverlaufs seit dem Jahr 2008 und in Ansehung der Lücken für die Jahre 2010 und 2011 bei der Dokumentation der Krankengeschichte den Eintritt des Leistungsfalls in die zeitliche Nähe der ab 2012 wieder vorliegenden ärztlichen Unterlagen gelegt habe.

Zur Begründung der hiergegen am 04.11.2015 zum Bayer. Landessozialgericht eingelegten Berufung weist die Beklagte mit Schriftsatz vom 18.04.2016 darauf hin, dass die Beklagte insoweit mit der Leistungseinschätzung von Dr. K. übereinstimme, dass das Leistungsvermögen des Klägers im Zeitpunkt der Untersuchung durch Dr. K. (12.02.2015) aufgehoben und eine Besserung nicht wahrscheinlich sei. Im Vordergrund stünden beim Kläger Gesundheitsstörungen auf psychiatrischem Fachgebiet mit der Diagnose einer schweren depressiven Episode bzw. einer posttraumatischen Belastungsstörung. Für die Annahme des Leistungsfalls 31.10.2011 lägen aber keine belastbaren ärztlichen Unterlagen vor. Die letzten dokumentierten Untersuchungen auf neurologisch/psychiatrischem Fachgebiet vor dem 31.10.2011 hätten bei Dr. L. am 30.04.2008 bzw. 09.10.2008 stattgefunden mit den Diagnosen eines Sulcus-Ulnaris-Syndroms beidseits sowie einer Anpassungsstörung bei Problemen mit Arbeitslosigkeit und Partnerschaftsproblem. Ein für die Verlaufsbeurteilung erforderlicher und verwertbarer psychiatrischer Befund sei nicht erstellt worden. Ein erheblich depressives Bild könne aus den Angaben des Dr. L. nicht herausgelesen oder abgeleitet werden. Für die Jahre 2010 und 2011 fehlten Befundberichte über eine nervenärztliche Erkrankung, so dass eine stetig zunehmende Schwere der psychiatrischen Erkrankung, wie von Dr. K. angenommen, retrospektiv nicht beweisbar sei. Psychische Störungen könnten im langjährigen Verlauf erheblichen Schwankungen unterliegen. Die rückblickende Beurteilung nervlicher Erkrankungen sei ohne entsprechende ärztliche Berichte praktisch nicht möglich. Die Zeitspanne von 2008 bis 2011 bleibe bei unzureichenden Vorbefunden sozialmedizinisch nicht beurteilbar, sämtliche Ausführungen für diesen Zeitraum blieben spekulativer Natur. Dr. L. beschreibe in seinem Befundbericht vom 1.09.2012 lediglich eine gedrückte Stimmung mit guter affektiver Schwingungsfähigkeit mit unverändertem Antrieb, so dass die von Dr. N. nur wenige Tage später am 04.10.2012 erstellte sozialmedizinische Leistungsbeurteilung nachvollziehbar sei. Auch Dr. K., die den Kläger seit 23.10.2012 behandelt habe, habe bei diesem lediglich eine Dysthymie und eine mittelgradige depressive Episode festgestellt. Der Nachweis einer vollen Erwerbsminderung sei damit erstmals durch die Untersuchung von Dr. K. am 12.02.2015 erbracht worden. Nach dem Grundsatz der objektiven Beweislast gehe die Nichterweislichkeit des Eintritts der Erwerbsminderung bereits zum 31.10.2011 zu Lasten des Klägers.

Dem gleichzeitig von der Beklagten gestellten Antrag auf Aussetzung der Vollstreckung aus dem Urteil des SG vom 21.09.2015 hat der Senat mit Beschluss vom 17.05.2016 entsprochen (Az L 19 R 266/16 ER).

Der Senat hat mit Beweisanordnung vom 15.09.2016 ein neurologisch/psychiatrisches Gutachten nach § 106 Sozialgerichtsgesetz – SGG – bei Dr. D. in Auftrag gegeben. Mit Schriftsatz vom 21.03.2017 hat die Prozessbevollmächtigte des Klägers mitgeteilt, dass der Kläger aufgrund seiner gesundheitlichen Verfassung nicht in der Lage sei, den ambulanten Untersuchungstermin wahrzunehmen. Eine Begutachtung belaste ihn wegen seiner schweren Depression und der posttraumatischen Belastungsstörung zu sehr. Auf telefonische Anfrage des Senats hat der Sachverständige Dr. D. mitgeteilt, dass die Ehefrau des Klägers ihn angerufen und davon informiert habe, dass der Kläger den Untersuchungstermin nicht wahrnehmen könne. Auch die Prozessbevollmächtigte des Klägers hat auf telefonische Anfrage des Senats mitgeteilt, dass auch sie nur telefonischen Kontakt mit der Ehefrau des Klägers gehabt habe. Diese habe sie informiert, dass es dem Kläger so schlecht gehe, dass er nicht zur Begutachtung könne. Er könne nicht über seine Erkrankung sprechen, es würde alles wieder hochkommen, wenn er sich nochmals einer Begutachtung unterziehen müsste. Mit Schriftsatz vom 19.04.2017 wurde dann ein Attest der behandelnden Internistin F. vom 13.04.2017 vorgelegt, in dem diese bestätigt, dass „der Kläger sich aufgrund seiner psychischen Erkrankungen nicht in der Lage fühle, eine weitere nervenärztliche Begutachtung durchführen zu lassen“. Der Senat hat daraufhin die Beweisanordnung mit Beschluss vom 25.04.2017 dahingehend abgeändert, dass das Gutachten durch Dr. D. nach Aktenlage zu erstellen ist.

Dr. D. ist in seinem Gutachten nach Aktenlage vom 17.03.2018 zu folgenden Diagnosen gelangt:

1. Chronifizierte depressive Störung im Sinne einer schweren chronifizierten depressiven Episode

2. Chronifizierte posttraumatische Belastungsstörung

3. In der Vergangenheit ein Alkoholabhängigkeitssyndrom bei gegenwärtiger Abstinenz

Es handele sich um echte psychiatrische Krankheitsbilder, die der Kläger weder durch eigene zumutbare Willensanstrengung noch mit ärztlicher oder therapeutischer Hilfe in absehbarer Zeit überwinden könne. Allerdings seien die Behandlungsmöglichkeiten in der Vergangenheit nicht ausgeschöpft worden. Ambulante und stationäre Behandlungsmaßnahmen seien dringend indiziert gewesen, z. B. als langandauernde Reha-Maßnahmen mit gegebenenfalls muttersprachlicher psychotherapeutischer Behandlungsmöglichkeit. Aus seiner Sicht bestehe immer noch die Notwendigkeit einer Behandlung jenseits der Frage der Berentung. Dies sollte der Kläger für sich gegebenenfalls mit Hilfe seiner Ehefrau klären und voranbringen. Durch eine Berentung würden die schweren Krankheitssymptome nicht gebessert. Unter Berücksichtigung der vorliegenden Gesundheitsstörungen seien dem Kläger keine regelmäßigen Tätigkeiten mehr zumutbar, auch nicht von weniger als 3stündiger Dauer. Es bestünden erhebliche Beschränkungen hinsichtlich der Leistungsmotivation des Klägers, des Reaktionsvermögens, der Umstellungsfähigkeit, der Ausdauer und Anpassungsfähigkeit. Es sei davon auszugehen, dass der beschriebene Zustand im Laufe des Jahres 2011, spätestens aber zum Ende Oktober 2011 eingetreten sei. „Im Prinzip so, wie es von den Gutachtern Dr. K. und Dr. J. eingeschätzt“ worden sei. Der Kläger könne öffentliche Verkehrsmittel nutzen und auch zu Fuß eine Wegstrecke von 4 x 500 m zurücklegen, was aber die gemachte Feststellung zur Leistungsminderung nicht einschränke.

Zum Gutachten von Dr. D. hat die Beklagte durch die Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. L. am 04.05.2018 dahingehend Stellung genommen, dass der Sachverständige sich selbst nicht sicher sei, ob überhaupt ein gemindertes Leistungsvermögen des Klägers vorliege. Im Aktenstudium habe der Sachverständige durchaus noch Ressourcen herausarbeiten können, wie die Hochzeit der Tochter, das Eingehen einer neuen Partnerschaft, die nur sporadisch erfolgte nervenärztliche Behandlung ab 2012. Am Ende habe der Gutachter auch noch die bestehenden Behandlungsoptionen herausgearbeitet. Es erscheine höchst fragwürdig, wenn ein Gutachten nach Aktenlage erstellt werde, nur, weil der Kläger nicht zur Untersuchung erscheine. Das vorliegende Gutachten beruhe letztendlich nur auf Spekulationen.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 21.09.2015 aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 23.10.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24.02.2014 abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 21.09.2015 zurückzuweisen.

Bezüglich der Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die beigezogenen Rentenakten der Beklagten sowie die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz verwiesen.

Entscheidungsgründe

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Beklagten ist zulässig (§§ 143, 144, 151 SGG).

Sie ist auch begründet. Das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 21.09.2015 ist rechtswidrig und deshalb aufzuheben. Der streitgegenständliche Bescheid der Beklagten vom 23.10.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24.02.2014 ist rechtlich nicht zu beanstanden. Der Nachweis eines spätestens am 31.10.2011 eingetretenen, auf Dauer bestehenden, zeitlich eingeschränkten Leistungsvermögens in rentenrechtlichem Sinne konnte vom Kläger nicht geführt werden.

Gemäß § 43 Abs 1 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung, wenn sie

1. teilweise erwerbsgemindert sind,

2. in den letzten 5 Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung 3 Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Tätigkeit oder Beschäftigung haben und

3. vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.

Teilweise erwerbsgemindert sind gemäß § 43 Abs 1 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes für mindestens 6 Stunden täglich erwerbstätig zu sein.

Einen Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung haben nach § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 3 Stunden täglich erwerbstätig zu sein.

Die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Erwerbsminderungsrente sind aufgrund der im Versicherungsverlauf des Klägers gespeicherten rentenrechtlichen Zeiten nur bis zum 31.10.2011 gegeben, nachdem der Versicherungsverlauf eine letzte Pflichtbeitragszeit des Klägers am 10.09.2009 aufweist, und zwar in Form des Bezuges von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch – SGB II -. Nach eigenen Angaben des Klägers bei Rentenantragstellung hat dieser sich am 11.09.2009 aus dem Leistungsbezug beim „Arbeitsamt“ wegen zu großem Stress abgemeldet und hat anschließend keine weiteren rentenrechtlichen Zeiten zurückgelegt. Er hat nach seinen Angaben bei den durchgeführten Begutachtungen vom Einkommen seiner dritten Ehefrau gelebt und ist über diese auch krankenversichert. Eine weitere Arbeitslosmeldung ist nicht mehr erfolgt, auch sonst werden keine weiteren rentenrechtlichen Zeiten geltend gemacht.

Ausgehend von den versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente nach § 43 Abs. 1 Nr 2 bzw. Abs. 2 Nr 2 SGB VI, die letztmals am 31.10.2011 erfüllt wären, bedeutet dies, dass spätestens zu diesem Zeitpunkt eine zeitliche Minderung des Leistungsvermögens des Klägers für Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes nachgewiesen sein muss. Davon konnte sich der Senat trotz der eingeholten Befundberichte und ärztlichen Sachverständigengutachten nicht mit der nach § 128 SGG notwendigen, an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit überzeugen. Eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit ist erst dann anzunehmen, wenn die entscheidungserhebliche Tatsache – hier das Vorliegen einer quantitativen Leistungseinschränkung des Klägers auf Dauer – in so hohem Maße wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen (BSGE 103, 99, 104; BSGE 113, 205, 211; Keller, in: Meyer-Ladewig/Kel-ler/Leitherer/ Schmidt, Kommentar zum SGG, 12. Aufl., 2017, § 128 SGG, Rdnr 3 m.w.N.). Dies ist vorliegend nicht der Fall. Es sprechen nicht mehr Umstände für als gegen eine rentenrechtlich relevante Erwerbsminderung des Klägers spätestens am 31.10.2011.

Der Schwerpunkt der gesundheitlichen Einschränkungen des Klägers liegt ohne Zweifel im psychiatrischen Fachgebiet. Die weiteren im Verfahren geltend gemachten Erkrankungen auf orthopädischem und internistischem Fachgebiet spielen – zumindest bis Ende Oktober 2011 – nur eine untergeordnete Rolle und bedingen allenfalls qualitative Leistungseinschränkungen für Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes. Dies gilt sowohl für die orthopädischen als auch neurologischen Erkrankungen wie das HWS- und LWS-Syndrom und das Sulcus-ulnaris-Syndrom sowie die internistischen Erkrankungen, insbesondere die koronare Herzkrankheit. Bei entsprechenden Untersuchungen konnten nur geringe Auswirkungen auf die Belastbarkeit des Klägers festgestellt werden, nachdem der Kläger bis 150 Watt belastet werden konnte. Ein Abbruch der Belastung erfolgte aus muskulärer Erschöpfung, nicht jedoch wegen koronarer Störungen. Eine Behandlung erfolgte durch die Gabe von ASS 100 mg, einem CSE-Hemmer sowie regelmäßige Überwachung. Ansonsten befand sich der Kläger in der Zeit bis 2012 lediglich zur Krebsvorsorge oder berichtete über Mundgeruch unklarer Ursache oder Cerumen, das durch eine HNO-ärztliche Ohrenreinigung behandelt werden konnte.

Der Senat sieht den Nachweis eines auf Dauer quantitativ geminderten Leistungsvermögens des Klägers für Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes spätestens ab dem 31.10.2011 durch die gesundheitlichen Einschränkungen auf psychiatrischem Fachgebiet nicht als geführt an. Der Kläger befand sich bis Ende 2012 nicht in psychiatrischer ambulanter oder stationärer Behandlung, eine Psychotherapie hat nie stattgefunden. Erst im September 2012 wurde vom behandelnden Neurologen und Psychiater Prof. Dr. Sch. erstmals die Einnahme von Citalopram 20 mg, 1/2 Tablette beginnend vorgeschlagen (Bericht vom 12.09.2012), wobei der Kläger dort berichtet hat, dass er seit 25 Jahren eine psychische Störung habe. Die dokumentierten ärztlichen Behandlungen zwischen 2008 und 2012 berichten gerade nicht von einer psychiatrischen Behandlung, machen aber gleichzeitig deutlich, dass der Kläger durchaus in der Lage gewesen ist, bei bestehenden Erkrankungen ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen und ärztlichen Rat zu suchen. Eine möglicherweise krankheitsbedingte Meidung einer ärztlichen Behandlung ist nicht dokumentiert. Auch die vom Sachverständigen Dr. D. in seinem Gutachten vom 17.03.2018 unterstellte „in unserem Gesundheitssystem üblicherweise fehlende ausreichende ärztliche Unterstützung von Flüchtlingen und Migranten oder von Personen mit seelischen Traumata“ sieht der Senat nicht als tragfähiges Argument, um davon ausgehen zu können, dass gegebenenfalls der psychische Zustand des Klägers einer notwendigen leitliniengerechten Behandlung nicht hätte zugeführt werden können.

Aus den vorliegenden ärztlichen Befundberichten und durchgeführten Begutachtungen lässt sich nicht mit der an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit entnehmen, dass der Kläger am 31.10.2011 oder spätestens zu diesem Zeitpunkt in seinem zeitlichen Leistungsvermögen eingeschränkt gewesen sein könnte und auch nicht, dass er zu diesem Zeitpunkt ein Leistungsvermögen von unter 3 Stunden täglich bereits auf Dauer gehabt haben könnte.

Der Kläger hat im April 2012 einen Rentenantrag gestellt und angegeben, sich wegen psychischer Überbelastung seit August 2009 für erwerbsgemindert zu halten. Aus den bei Antragstellung vorgelegten ärztlichen Befunden hat sich lediglich im Jahr 2008 eine neurologische Behandlung des Klägers wegen des Sulcus-ulnaris-Syndroms ergeben. Vergleichbare Symptome finden sich 2010 (Bericht Dr. L.) und auch im Jahr 2012. Im Befundbericht von Dr. L. vom 09.10.2008 an die behandelnde Hausärztin des Klägers ist festgehalten, dass der Kläger derzeit eine berufliche Weiterbildung beim bfz mache, er sei arbeitslos und berichte von einem Partnerschaftsproblem mit Trennung. Es handele sich um reale Konflikte, die gelöst werden müssten. Eventuell bedürfe es einer weitergehenden Exploration, inwieweit psychotherapeutische Beratung sinnvoll sei. Es fehle aber die nötige zeitliche Kapazität. Eventuell sollten schlafanstoßende Medikamente verordnet werden. Eine weitere Behandlung oder psychotherapeutische Exploration ist anschließend nicht in die Wege geleitet worden. Im Bericht zuvor von Dr. L. vom 30.04.2008 findet sich außer der neurologischen Symptomatik keinerlei Hinweis auf eine psychische Komponente, ebenso wenig im Bericht von Dr. L. vom 23.07.2012. Erst in dem Befundbericht vom 18.09.2012 findet sich eine „Anmerkung“, wonach der Kläger – neben der neurologischen Behandlung – noch eine Behandlung wegen „psychischer Probleme“ gewollt habe und von Dr. L. an entsprechend tätige Kollegen verwiesen wurde. Er habe gedrückt gewirkt, aber affektiv gut schwingungsfähig, im Antrieb nicht gemindert, so dass von chronischen psychosozialen Belastungen ausgegangen werde, die auch von der Ehefrau zu erfahren seien, einschließlich interkulturell und durch Migration bedingte Konflikte.

Vor dem 18.09.2012 ist der Kläger im Rentenverfahren durch Dr. M. sozialmedizinisch begutachtet worden, der in seinem sozialmedizinischen Gutachten vom 03.08.2012 als Hauptdiagnose chronisch wiederkehrende Beschwerden der HWS und LWS, derzeit ohne auffallende Funktionseinschränkung und Wurzelreizsyndrom, sowie Verdacht auf Anpassungsstörung, Coronare Herzkrankheit mit geringer Einengung der rechten Herzkranzarterie, Feststoffwechselstörung und früherem Alkoholmissbrauch gelangte. Er kam zu dem Ergebnis, dass der Kläger unter Beachtung von qualitativen Einschränkungen hinsichtlich des Bewegungs- und Haltungsapparates Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes noch mindestens 6 Stunden täglich verrichten könne. Weil die bei der Untersuchung anwesende Ehefrau den Kläger als schwer depressiv beschrieb, regte er eine psychiatrische Begutachtung durch Dr. N. an, um eine schwerwiegende psychiatrische Erkrankung des Klägers auszuschließen. Bei Dr. M. hatte der Kläger angegeben, dass ihm alles zu viel sei. Selbst die Gespräche mit seiner Ehefrau seien ihm zu schwierig. Er habe sich zurückgezogen, habe nur noch wenig Kontakte, manchmal habe er noch Kontakt zu ehemaligen Arbeitskollegen. „Ich brauche meine Ruhe“. Neben den Gedanken, die er sich über den Selbstmord seiner ersten Ehefrau mache, mache er sich auch Gedanken darüber, dass er kein eigenes Einkommen habe. Er lebe von der Rente seiner Ehefrau. Diese gab gegenüber Dr. M. an, dass sich der Kläger seit 2009 sehr zurückgezogen habe. Er habe praktisch keine Besuche mehr, versuche immer, wenn er sich mit Bekannten treffe, sich als gesund und stark hinzustellen. Er habe Zukunftsängste. Die Initiative zur Rentenantragstellung sei von der Ehefrau ausgegangen.

Bei der nachfolgenden psychiatrischen Begutachtung durch Dr. N. am 04.10.2012 wird ein weitgehend unauffälliger psychischer Befund des Klägers beschrieben, der sich nur bei Ansprache auf den Tod der ersten Ehefrau und die in der Türkei lebenden Kinder eintrübe. Dr. N. diagnostizierte aus psychiatrischer Sicht eine chronifizierte depressive Störung. Gleichwohl sah Dr. N. ein mindestens 6stündiges Leistungsvermögen für Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes unter Beachtung qualitativer Einschränkungen der geistig/psychischen Belastbarkeit sowie des Halte- und Bewegungsapparates.

In dem im sozialgerichtlichen Verfahren vorgelegten Befundbericht der Fachärztin für Psychosomatik und Psychotherapie Dr. K. vom 14.12.2012 ist festgehalten, dass der Kläger hier auf Überweisung seiner Hausärztin vorstellig geworden ist, zusammen mit seiner Ehefrau, die „den Hauptteil der Rede“ übernommen und von bedrohlichen Erfahrungen des Klägers in seiner Kindheit und Jugend sowie im Erwachsenenalter berichtet habe. Der Suizid seiner ersten Ehefrau habe ihn schwer belastet und belaste ihn immer noch. Laut Dr. K. sei es wahrscheinlich, dass der Kläger aus diesen Ereignissen Traumafolgestörungen entwickelt habe. Zu klären sei allerdings, inwieweit sich hier ein therapeutischer Ansatz ergebe (was ja auch immer einen Veränderungswunsch des Patienten beinhalten würde). Zu klären wäre ferner, was den Kläger in erster Linie heute belaste, wie er sich ein für ihn befriedigenderes Leben in der Gegenwart vorstelle und welche Art von Therapie er sich eigentlich wünsche. Der zurückhaltende, aber aufmerksame und schwingungsfähig wirkende Patient scheine auch genügend Deutsch zu können, um ein Gespräch mit ihm alleine möglich zu machen.

Die behandelnde Hausärztin Dr. K. berichtete unter dem 26.06.2014 von einem Patientenkontakt mit dem Kläger von Mai 2012 bis Oktober 2013. Eine Arbeitsunfähigkeit wurde nicht bescheinigt. An Diagnosen wurden u.a. eine mittelgradige depressive Episode, eine Anpassungsstörung und ein Verdacht auf posttraumatische Belastungsstörung genannt und auf die Behandlung durch Dr. K. verwiesen. Beim Prof. Dr. Sch. war der Kläger nur am 12.09. und 25.10.2012 in Behandlung. Die Internistin F. beschreibt im Befundbericht vom 08.07.2014, dass der Kläger bei ihr wegen der koronaren Herzerkrankung in Behandlung gewesen sei. Psychische Probleme seien angesprochen worden, allerdings laufe die Therapie bei Dr. K.. Diese berichtete dem SG unter dem 08.08.2014, dass der Kläger seit 23.10.2012 in Behandlung gewesen sei. Festgestellt worden sei eine Dysthymie und eine mittelgradige depressive Episode. Vorbekannt sei eine koronare Herzkrankheit, ein HWS- und Lumbalsyndrom sowie ein ektopisches Ekzem an Hals und Oberschenkel rechts. Der Kläger klage über Durchschlafstörungen, niedergedrückte Stimmung, Grübelneigung, eingeschränkte Merkfähigkeit, Schulterschmerz rechts und Sulcus-ulnaris-Syndrom. Im Arztbrief von Dr. L. vom 18.09.2012 sei die Rede von chronischen psychosozialen Belastungen und dort liege auch das Hauptgewicht der gesundheitlichen Beeinträchtigungen.

Für den Senat wird damit deutlich, dass jedenfalls bis zum Ende des Jahres 2012 von den behandelnden Ärzten des Klägers eine schwerwiegende psychiatrische Erkrankung des Klägers nicht beschrieben wird und auch keine entsprechende Behandlung des Klägers auf nervenärztlichem Fachgebiet erfolgt ist und dass insoweit die Einschätzungen des Leistungsvermögens durch die Sachverständigen Dr. M. und Dr. N. hierzu nicht widersprüchlich erscheinen.

Erst im Gutachten von Dr. K. und Dr. J. vom 03.03.2015 wurde dem Kläger ein dauerhaft auf unter 3 Stunden abgesunkenes Leistungsvermögen bescheinigt und dann zur Frage des Eintritts dieser Leistungsminderung „aufgrund der exakten Analyse des komplexen Krankheitsbildes gewichtige Argumente gesehen, dass bereits zum 31.10.2011 ein aufgehobenes Leistungsvermögen existiert“ habe. In der ergänzenden Stellungnahme vom 30.06.2015 haben die Sachverständigen darauf hingewiesen, dass die behandelnden Ärzte des Klägers und letztlich auch die beiden Sachverständigen des Rentenverfahrens die Schwere der psychischen Erkrankung nicht erkannt hätten, insbesondere, dass es sich um eine schwere depressive Episode und eine posttraumatische Belastungsstörung handele. Eine engmaschige nervenärztliche Behandlung sei erst ab September 2012 bei Prof. Dr. Sch. dokumentiert, so dass man sich zur Beurteilung auf die Psychopathologie des Klägers habe stützen müssen, die bei der aktuellen Begutachtung unter Zuhilfenahme eines Dolmetschers erfolgt sei. Auch im Rahmen der testpsychologischen Untersuchung, im CAPS-Test sei versucht worden, die Entwicklung der schweren seelischen Störungen des Klägers retrospektiv zu analysieren. Gerade im Rahmen dieser trauma-psychologischen Evaluation sei deutlich geworden, dass der Suizid der Ehefrau im Jahr 1991 ein ganz entscheidender Auslöser für die Entwicklung der schweren seelischen Störung geworden sei.

Zu beachten ist hierbei, dass sich die Schilderungen des Klägers im Zusammenhang mit dem Suizid der Ehefrau im Laufe des Verfahrens deutlich verändert haben. Während er bei Dr. M. angegeben hatte, durch den Suizid seiner ersten Frau, aber auch durch seine Arbeitslosigkeit und das fehlende eigene Einkommen belastet zu sein, gab er bei Dr. N. eine Belastung durch den Suizid sowie den Umstand an, dass er seine Heimat Ostanatolien 1990 habe verlassen müssen, zuletzt auch durch die Arbeitslosigkeit. Bei Prof. Dr. Sch. hatte der Kläger wohl angegeben, dass sich die erste Ehefrau 1990 in Ostanatolien suizidiert habe, während er im Ausland gewesen sei. Bei Dr. K. hat der Kläger erstmals angegeben, dass er Albträume habe, bei denen er oft tote Menschen sehe, Köpfe toter Menschen. Er hätte das Gefühl von einem Menschen gelenkt zu werden. Er habe Träume von seiner Ehefrau, in denen sie ihn rufe und sage: „komm zu mir und hilf mir“. Albträume bezüglich des Auffindens seiner suizidierten Ehefrau habe er nicht. Immer präsent seien seine Gedanken an sie. Er habe anhaltende Schuldgefühle, weil er sie mit nach Europa genommen habe. Auch seine Kinder sähen in ihm die schuldige Person. Die Schwiegereltern hätten den Kontakt abgebrochen. Sie würden das Geschehene nicht vergessen. Man habe ihm, als er den Leichnam seiner Frau in die Türkei zurückgebracht habe, den Vorwurf gemacht, dass er ihre Tochter umgebracht habe. Er habe nicht bleiben können. Er sei schwarz ausgereist. Die Kinder, im Alter von 5, 7 und 10 Jahren seien bei seinen Schwestern und seiner Mutter geblieben.

Der Senat vermag der Einschätzung der Drs K. und J bereits deshalb nicht zu folgen, weil im Gutachten keine Anknüpfungstatsachen genannt werden, die einen Leistungsfall in dem letztmöglichen Zeitpunkt 31.10.2011 zu begründen vermögen, selbst wenn davon ausgegangen würde, dass die behandelnden Ärzte des Klägers und die Sachverständigen der Beklagten das Vorliegen der posttraumatischen Belastungsstörung und die Schwere der daraus resultierenden Folgen nicht gesehen hätten. Auch in der ergänzenden Stellungnahme von Dr. K. vom 30.06.2015 wird dies nicht ausreichend begründet, obwohl die Beklagte in ihren prüfärztlichen Stellungnahmen auf die Diskrepanz zu den Behandlungsberichten hingewiesen hatte. Darüber hinaus findet sich im Gutachten der Drs K. und J durchaus die Beschreibung eines geordneten Tagesablaufes, der erkennen lässt, dass der Kläger keinesfalls strukturlos in den Tag hineinlebt. Er kümmert sich um den Garten, schneidet Bäume, mäht den Rasen, er geht mit der Frau zusammen zum Einkaufen und kocht mit ihr zusammen. Er hilft auch Nachbarn bei Gartenarbeiten. 15 Monate vor der Begutachtung ist der Kläger ohne seine Ehefrau für 3 Wochen in die Türkei geflogen, um die Hochzeit seiner Tochter mitzuerleben, auch wenn ihn die Hochzeitsfeierlichkeiten traurig gestimmt hätten, weil er an seine verstorbene Frau habe denken müssen. Gleichwohl war er in der Lage, diese Reise zu unternehmen und wieder Kontakt zur Familie zu haben, die ihn für den Suizid der ersten Ehefrau verantwortlich machten und den Kontakt abgebrochen hätten.

Der vom Senat beauftragte Sachverständige Dr. D. weist in seinem Gutachten vom 17.03.2018 darauf hin, dass das Gutachten von Dr. K. an sich nicht tragfähig sei, nachdem wesentliche Grundsätze der Gutachtenserstellung, insbesondere im Hinblick auf die retrospektive Leistungseinschätzung, nicht beachtet worden seien. Dr. D. stellt sich sogar die Frage, ob überhaupt aktuell oder zumindest für den Zeitpunkt 2015, also der Begutachtung durch Drs K. und J, eine quantitative Leistungseinschränkung des Klägers gesehen werden könne. Dr. D. hat aus den vorliegenden Akten erhebliche Ressourcen des Klägers dokumentiert, die einer schwerwiegenden, auf Dauer seit vielen Jahren bestehenden psychischen Erkrankung eigentlich entgegenstehen. Er verweist auf den Umstand, dass der Kläger nach seiner zweiten gescheiterten Ehe (1996 – 2008) eine neue Partnerschaft eingehen konnte und 2009 erneut die Ehe einging. Der Kläger konnte zur Hochzeit seiner Tochter nach Istanbul reisen und dort an den Hochzeitsfeierlichkeiten teilnehmen. Er hat 2010 – 2011 keine nervenärztlichen Behandlungen gesucht und ab 2012 nur sehr zögerlich. Die geschilderten traumatischen Erlebnisse des Klägers blieben ausgesprochen vage, nicht objektivierbar und beruhten überwiegend auf Schilderungen der 3. Ehefrau, die bei den Ereignissen nicht dabei gewesen ist. Gleiches gilt für die gegenüber den Sachverständigen geschilderten traumatischen Ereignisse, die der Kläger im Laufe seines Lebens erlebt haben will. Dr. D. beschreibt diese Schilderungen als offensichtlich vage, wenig präzise und in ihrem Schweregrad kaum einzuordnen (z. B. Umstände der Heirat mit 14 Jahren, Flucht vor militanten Kämpfern, Arbeitsunfälle etc.) Eine Objektivierung dieser Ereignisse bzw. Erlebnisse ist nicht möglich. Dies wird von Dr. K. und Dr. J. wohl ebenso bemerkt, ohne dass dies bei der Begutachtung eine entsprechende Gewichtung erfahren hätte.

Andererseits kann auch dem Gutachten von Dr. D. nicht gefolgt werden, nachdem dieser von einer Art „Einigung“ der Beklagten und der Prozessbevollmächtigten des Klägers im Sinne einer verbindlichen Annahme ausgeht, nämlich dahingehend, dass sich die Beklagte und die Prozessbevollmächtigten einig seien, dass zumindest im Zeitpunkt der Untersuchung des Klägers bei Dr. K. am 12.02.2015 von einem unter 3stündigen Leistungsvermögen des Klägers auf Dauer auszugehen sei. Dr. D. wertet sodann nach einem abgestuften Maß an Wahrscheinlichkeit, ob rückwirkend bis vor Oktober 2011 ein gemindertes Leistungsvermögen des Klägers anzunehmen sei und führt aus, dass für 2015 mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit ein aufgehobenes Leistungsvermögen anzunehmen sei. Im Jahr 2012 habe dieser Zustand schon mit hoher Wahrscheinlichkeit und bereits vor dem Jahr 2012, also auch am 31.10.2011 mit überwiegender Wahrscheinlichkeit vorgelegen. Diese Einschätzung ergebe sich nicht nur aus den einzelnen vorgelegten Befunden, sondern aus der Gesamtschau der Entwicklung der psychischen Erkrankung des Klägers und aufgrund seiner Erfahrungen mit Therapieverläufen und Begutachtungen. Die Annahme einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit, die auf allgemeine Erfahrungen mit Therapieverläufen und Begutachtungen gestützt wird, reicht aber gerade nicht aus, um die notwendige Überzeugung des Senats im Sinne einer an Gewissheit grenzenden Wahrscheinlichkeit für den Eintritt eines Leistungsfalles am 31.10.2011 zu begründen.

Dr. D. folgert des Weiteren, dass der Kläger seinen Rentenantrag im Jahr 2012 gestellt habe, nachdem er zu der Einschätzung gekommen sein müsse, nicht mehr gesund werden zu können. Dieser Umstand spreche für eine gewisse Symptomsteigerung in den Jahren 2010 und 2011. Dies seien aber Annahmen, die nicht mit Sicherheit zu belegen seien. Tatsächlich ist die Initiative zur Rentenantragstellung aber nicht vom Kläger, sondern von seiner 3. Ehefrau ausgegangen, mit der er erst seit 2009 verheiratet war und mit der auch Partnerschaftsprobleme („schwierige Gespräche“) bestanden. Ein sozialer Rückzug wurde zwar von der Ehefrau des Klägers seit 2009 berichtet, wobei im Gutachten von Dr. K. angegeben ist, dass sie seit 1 – 2 Jahren nicht mehr fortgehen würden. Dass daraus eine die Lebensqualität auf Dauer schwer einschränkende psychische Erkrankung des Klägers folgen soll, die bereits im Oktober 2011 nicht mehr behandelbar gewesen wäre, erschließt sich dem Senat nicht.

Der Senat sieht auch keine Möglichkeit, den Umfang und die Schwere der psychischen Erkrankung des Klägers zum Zeitpunkt des letztmaligen Vorliegens der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen auf andere Weise aufzuklären. Der Kläger trägt die objektive Darlegungs- und Beweislast für den Eintritt des Leistungsfalles der vollen oder teilweisen Erwerbsminderung am 31.10.2011.

Nach alledem ist auf die Berufung der Beklagten hin das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 21.09.2015 aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 23.10.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24.02.2014 als unbegründet abzuweisen.

Die Gewährung einer Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit wurde erstinstanzlich zuletzt nicht beantragt. Das SG hat aber auch im Ergebnis zutreffend darauf hingewiesen, dass die Voraussetzungen dieses Rentenanspruches nicht vorliegen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe, die Revision gemäß § 160 Abs 2 Nrn. 1 und 2 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.

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