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Voraussetzungen für Rente wegen voller Erwerbsminderung

SG Gelsenkirchen – Az.: S 39 R 628/19 – Urteil vom 19.08.2021

Die Klage wird abgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

Der Kläger begehrt von der Beklagten die Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung.

Der XXXX geborene Kläger ist verheiratet und Vater von drei Kindern. Nach eigenen Angaben beendete er seine Tätigkeit als Bergmann im Jahre 1992. Mittlerweile wurden bei ihm ein Grad der Behinderung (GdB) i.H.v. 80 sowie die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleiches G festgestellt (Bescheid vom 31.08.2018).

Aktuell bezieht er Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende.

Am 31.10.2018 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung.

Daraufhin nahm die Beklagte medizinische Ermittlung zum Gesundheitszustand des Klägers – u.a. durch Einholung von Befundberichten – auf und ließ ihn zur Beurteilung seines Leistungsvermögens durch Dr. P am 18.12.2018 ambulant untersuchen.

Mit Bescheid vom 22.02.2019 lehnte die Beklagte den Rentenantrag insgesamt ab.

Zwar seien vor allem körperliche Minderbelastbarkeit bei chronisch obstruktiver Atemwegserkrankung im Stadium III nach Gold, Lungenüberblähung, langjähriger Nikotinkonsum, Minderbelastbarkeit und Minderbeweglichkeit der LWS (April 2005 Bandscheibenvorfalloperation) sowie ein chronisches Schmerzsyndrom festzustellen, allerdings würden die hiermit verbundenen Einschränkungen nicht zu einem Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung führen. Der Kläger könne noch mindestens sechs Stunden täglich unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes erwerbstätig sein.

Rente für Bergleute wegen verminderter Berufsfähigkeit im Bergbau komme nicht in Betracht, da die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nicht erfüllt seien.

Hiergegen erhob der Kläger über seinen Prozessbevollmächtigte Widerspruch. Zur Begründung verweist der Kläger auf die festgestellten Behinderungen und den Nachteilsausgleich G. Weiter meint er, dass die Auswirkungen der von Dr. P diagnostizierten Erkrankungen nicht ausreichend gewürdigt worden seien.

Mit Widerspruchsbescheid vom 09.07.2019 wies der Widerspruchsausschuss der Beklagten den Widerspruch im Wesentlichen unter Wiederholung der Argumentation aus dem Ablehnungsbescheid zurück.

Ergänzend wurde ausgeführt, dass nach dem Untersuchungsergebnis Einsatzfähigkeit für Tätigkeiten mit leichter körperlicher Beanspruchung mit der Möglichkeit des Wechsels zwischen Sitzen, Stehen und Gehen ohne Bück-, Hebe- und Tragebeanspruchungen, ohne kurzfristiges Heben und Tragen von Lasten bis 10 kg, ohne Benutzung von Gerüsten und Leitern und außerhalb von Hitze, Kälte und Nässe sowie inhalativen Stoffen vollschichtig, d. h. über sechs Stunden pro Arbeitsschicht, und zu den üblichen Betriebspausen bestehe.

Mit seiner – am 22.07.2019 erhobenen – Klage verfolgt der Kläger sein Rentenbegehren weiter. Er meint, dass seine Wirbelsäulenbeschwerden und die chronische Atemwegserkrankung die Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung rechtfertigen würden.

Im Termin zur mündlichen Verhandlung am 19.08.2021 hat der Kläger die Klage im Hinblick auf die Gewährung von Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit im Bergbau für erledigt erklärt.

Der Kläger beantragt, die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 22.02.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.07.2019 zu verurteilen, dem Kläger ab Antragstellung Rente wegen Erwerbsminderung, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung, nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Die Beklagte verteidigt ihre Entscheidung unter Bezugnahme auf den Inhalt des streitgegenständlichen Widerspruchsbescheides.

Das Gericht hat Beweis erhoben über den Gesundheitszustand des Klägers durch Einholung von Befundberichten der behandelnden Ärzte (insbesondere von Dr. F, welcher in seinem Befundbericht vom 05.11.2019 einen unauffälligen Herz- und Lungenbefund erhob). Weiter ist zur Beurteilung des Leistungsvermögens im Erwerbsleben zunächst ein fachorthopädisches Gutachten von Dr. I eingeholt worden.

Der Sachverständige Dr. I hat den Kläger am 28.01.2020 untersucht und in seinem Gutachten selben Datums – auf dessen Inhalt Bezug genommen wird – auf orthopädisch-unfallchirurgischen und schmerzmedizinischem Fachgebiet im Wesentlichen ein Lendenwirbelsäulensyndrom mit Osteochondrose (betont L5/S1) nach stattgehabter Nukleotomie und Hemilaminektomie L5 links mit schmerzbedingt end- bis mittelgradiger Funktionseinschränkung diagnostiziert.

Er ist der Ansicht, dass der Kläger hiermit noch körperlich leichte Tätigkeiten im Wechsel zwischen Sitzen, Stehen und Umhergehen ohne monotone Zwangshaltung arbeitstäglich sechs Stunden und mehr an fünf Tagen in der Woche regelmäßig verrichten könne. Mitberücksichtigt sei eine chronifizierte Schmerzstörung.

Die volle Gebrauchsfähigkeit der Hände sei gegeben. Einschränkungen des geistigen Leistungsvermögens bestünden nicht. Bildschirmarbeit sei möglich. Zudem sei der Kläger in der Lage, nach rentenrechtlichen Maßstäben einen Arbeitsplatz zu erreichen. Weiter führt der Sachverständige aus, dass ausgehend von dem Befundbericht von Dr. F vom 05.11.2019 weitere Begutachtungen nicht erforderlich erscheinen würden. Anzuraten sei jedoch Nikotinkarenz.

Auf Antrag des Klägers ist weiter Beweis erhoben worden durch Einholung eines lungenfachärztlichen Gutachtens von Prof. Dr. U.

Der Vertrauensarzt hat den Kläger am 20.08.2020 ambulant untersucht und in seinem Gutachten im Wesentlichen eine obstruktive Atemwegserkrankung aus der Kombination einer tabakrauchinduzierten COPD und einer in der Funktionsanalyse führenden Asthma-Bronchiale-Erkrankung sowie ein chronisches LWS-Syndrom (Zustand nach Bandscheibenoperation Höhe L5/S1 im April 2005) mit chronischer Schmerzkrankheit diagnostiziert.

Er ist der Ansicht, dass der Kläger hiermit täglich weniger als drei Stunden regelmäßig arbeiten könne.

Dieses Leistungsvermögen bzw. die Schwere der Lungenerkrankung sei erst mit der Untersuchung am 20.08.2020 zu dokumentieren. Im Rahmen der durchgeführten Broncholyse – dies ist ein medikamentöses Testverfahren, das zum Beispiel in der Diagnostik von Asthma bronchiale eingesetzt wird und mit dem geprüft wird, ob sich die Lungenfunktion (insbesondere die Einsekundenkapazität FEV1) durch ein bronchienerweiterndes Medikament verbessern lässt – sei ein FEV1 Wert von unter 40 % festzustellen gewesen. Dagegen sei im Dezember 2018 noch eine deutlich bessere Lungenfunktion durch Dr. P festgestellt worden. Der Grund für die Verschlechterung lasse sich nicht genau ermitteln. Jedenfalls sei der fortgesetzte Tabakmissbrauch einer der Faktoren. Eine Verbesserung der bronchialen Obstruktion erscheine durchaus möglich, allerdings sei bei fortgesetztem Tabakmissbrauch eine Verschlechterung unter Umständen sehr schnell zu erwarten.

Die Gehfähigkeit sei eingeschränkt, sodass nur bei sehr guter Einstellung viermal täglich 500 m zurückgelegt werden könnten. Der Kläger sei in der Lage, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen sowie ein Kfz zu führen.

Die Beklagte hat dem Gutachten des Vertrauensarztes die ärztliche Stellungnahme von Dr. J vom 16.10.2020 – auf deren Inhalt Bezug genommen wird – entgegengehalten.

Dr. J ist im Wesentlichen der Ansicht, dass die durchgeführte Bodyplethysmographie – hierbei sitzt man als Patient in einer geschlossenen gläsernen Kammer, deren Volumen bekannt ist und führt durch Ein- und Ausatmen über einen Schlauch verschiedene spirometrische Tests durch – sei aufgrund von Hustenartefakten und unzureichender Mitarbeit nur eingeschränkt verwertbar.

Eine Atemnotsymptomatik unter Ruhebedingungen oder akute Luftnotattacken mit der Notwendigkeit zur notärztlicher Behandlung oder Krankenhausaufenthalte aufgrund der Lungenerkrankung seien nicht dokumentiert. Weiter seien in den letzten Jahren stationäre Behandlungen wegen der Lungenerkrankung nicht aktenkundig.

Insgesamt sei anzunehmen, dass die Untersuchung durch den Vertrauensarzt eher in der Situation einer akuten Exazerbation – d.h. eines Wiederauflebens – einer Bronchitis und nicht in einem stabilisierten bzw. gut therapierten Zustand durchgeführt worden sei.

Schließlich hat das Gericht weiter Beweis erhoben durch Einholung eines fachinternistischen Gutachtens des Sachverständigen Dr. L.

Der Sachverständige Dr. L hat den Kläger am 13.01.2021 ambulant untersucht und in seinem Gutachten vom 15.01.2021 – auf dessen Inhalt insbesondere wegen des qualitativen Leistungsvermögens Bezug genommen wird – im Wesentlichen – folgende Gesundheitsstörungen erfasst:

1. chronisch obstruktive Lungenerkrankung mit asthmatischer Komponente mit Einschränkung der Lungenfunktion im Stadion Gold 3 (Ausschluss einer sekundären Herzschädigung),

2. anamnestisch zeitweiligen Herzrhythmusstörungen (nicht therapiebedürftig bei normaler Herzfunktion),

3. Brust- und Lendenwirbelsäulensyndrom auf dem Boden degenerativer Veränderung und Bandscheibenschäden sowie Fehlstatik der Brustwirbelsäule, Zustand nach Bandscheibenoperation mit mittelgradiger Funktionsstörung und ohne Nervenwurzelreiz- oder Ausfallerscheinungen und chronischem Schmerzsyndrom,

4. Fußfehlform (Senk-Spreiz-Fuß),

5. depressive Störung (medikamentös therapiert)

Der Sachverständige Dr. L ist der Ansicht, dass der Kläger hiermit noch körperlich leichte Arbeiten arbeitstäglich sechs Stunden und mehr regelmäßig fünf Tage in der Woche unter betriebsüblichen Bedingungen verrichten könne.

In zeitlicher Hinsicht führt der Sachverständige aus, dass bezüglich der Erkrankung des Achsorgans seit Antragstellung keine bedeutsamen Veränderungen bestünden. Im Hinblick auf die Lungenfunktion habe sich ab August 2020 zunächst eine Verschlechterung ergeben, die sich seitdem teilweise zurückgebildet habe. Die momentane Ausprägung sei erst seit dem Tag der Begutachtung dokumentiert.

Im Vergleich zum Gutachten des Vertrauensarztes sei eine Verbesserung der Parameter der Lungenfunktion einschließlich der belastungsabhängigen metabolischen Parameter und Blutgase – wegen des Messwertevergleiches im Einzelnen wird Bezug genommen auf S. 17 des Gutachtens vom 15.01.2021 – festzustellen. So erkläre sich die Bewertung des zeitlichen Leistungsvermögens ab Januar 2021.

Mit Schriftsatz vom 03.02.2021 macht der Kläger im Wesentlichen geltend, dass der Sachverständige Dr. L eine Befundverbesserung erst ab Januar 2021 festgestellt habe.

Die Beklagte sieht sich durch das Gutachten des Sachverständigen Dr. L sowie die ärztliche Stellungnahme von Dr. J bestätigt.

Schließlich hat der Kläger mit Schriftsatz vom 30.04.2021 um Entscheidung des Rechtsstreits gebeten.

Wegen des Sach- und Streitstandes im Übrigen wird Bezug genommen auf die Inhalte der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsakte, welche Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage hat keinen Erfolg. Sie ist unbegründet.

Der Kläger ist durch den Bescheid vom 22.02.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.07.2019 nicht im Sinne von § 54 Abs. 2 S. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beschwert. Die angegriffene Entscheidung ist rechtmäßig. Die Voraussetzungen für die Gewährung von Rente wegen voller – bzw. teilweiser – Erwerbsminderung liegen nicht vor.

Die Beklagte hat die Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung zu Recht abgelehnt, da der Kläger weder voll noch teilweise erwerbsgemindert ist.

Anspruchsgrundlage für die Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung ist § 43 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Rentenversicherung – (SGB VI). Danach haben Versicherte bei Vorliegen der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen (§ 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und 3 bzw. § 43 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und 3 SGB VI) Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung, wenn sie teilweise erwerbsgemindert sind (§ 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI) bzw. auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie voll erwerbsgemindert sind (§ 43 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 SGB VI). Teilweise erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI). Voll erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI). Hingegen ist nicht erwerbsgemindert, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (§ 43 Abs. 3 SGB VI).

Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ist der Kläger zur Überzeugung des Gerichts in Ansehung seines Gesundheitszustandes sowie des hierdurch bedingten Leistungsvermögens weder voll noch teilweise erwerbsgemindert im Sinne der vorgenannten Vorschriften. Dies ergibt sich aus der Gesamtschau der Feststellungen der Sachverständigen Dr. I und Dr. L sowie des Vertrauensarztes Prof. Dr. U.

1. Ausgangspunkt für die Beurteilung der Erwerbsfähigkeit sind die dauerhaft gegebenen Krankheiten oder Behinderungen, welche die Erwerbsfähigkeit auf nicht absehbare Zeit – siehe zu dieser Voraussetzung unter 3. – einschränken (§ 43 Abs. 1 S. 2, Abs. 2 S. 2 SGB VI). Vorliegend ist der Gesundheitszustand des Klägers im Wesentlichen eingeschränkt durch die chronisch obstruktive Lungenerkrankung mit asthmatischer Komponente mit Einschränkung der Lungenfunktion im Stadion Gold 3 (Ausschluss einer sekundären Herzschädigung), zeitweilige Herzrhythmusstörungen (nicht therapiebedürftig bei normaler Herzfunktion), Brust- und Lendenwirbelsäulensyndrom auf dem Boden degenerativer Veränderungen und Bandscheibenschäden sowie Fehlstatik der Brustwirbelsäule, Zustand nach Bandscheibenoperation mit mittelgradiger Funktionsstörung (ohne Nervenwurzelreiz- oder Ausfallerscheinungen) und chronischem Schmerzsyndrom, Fußfehlform sowie eine begleitende depressive Störung (medikamentös therapiert). Führend ist dabei die chronisch obstruktive Lungenerkrankung.

2. Für die Zeit ab Stellung des Rentenantrages bis zum 20.08.2020 – Untersuchung durch den Vertrauensarzt Prof. Dr. U- ist der Kläger nicht erwerbsgemindert im Sinne des Gesetzes. Nach den insoweit übereinstimmenden Schlussfolgerungen der Sachverständigen, welche der Vertrauensarzt Prof. Dr. U jedenfalls bis August 2020 bestätigt, ist der Kläger ab Antragstellung bis zum 20.08.2020 in der Lage, jedenfalls körperlich leichte Tätigkeiten im Gehen, Stehen und/oder Sitzen in geschlossenen Räumen arbeitstäglich sechs Stunden und mehr fünf Tage in der Woche regelmäßig zu verrichten. In diesem zeitlichen Umfang sind auch geistig mittelschwierige Arbeiten und Tätigkeiten mit durchschnittlichen Anforderungen an Konzentration, Aufmerksamkeit, Übersicht und Reaktion sowie an das Seh- und Hörvermögen möglich. Weiter ist die volle Gebrauchsfähigkeit der Hände gegeben und der Kläger nach rentenrechtlichen Maßstäben in der Lage, einen Arbeitsplatz zu erreichen.

3. Darüber hinaus ist auch für die Zeit ab dem 20.08.2020 Erwerbsminderung im Sinne des Gesetzes nicht anzunehmen. Nach § 43 Abs. 1 S. 2 bzw. Abs. 2 S. 2 SGB VI muss die Erwerbsminderung auf nicht absehbare Zeit bestehen. Dies ist anzunehmen, wenn sie voraussichtlich über einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten andauert. Das ergibt sich im Rückschluss aus § 101 Abs. 1 SGB VI. Hiernach sind (befristete) Renten wegen verminderter Erwerbsminderung nicht vor Beginn des siebten Monats nach Eintritt der Erwerbsminderung zu leisten. Dauert die Erwerbsminderung voraussichtlich kürzer, greifen andere Sicherungsmechanismen, insbesondere die Zahlung von Krankengeld, ein. Maßgeblich ist dabei eine rückschauende Betrachtung der Zeit seit Beginn der Erwerbsminderung (zusammenfassend Freudenberg in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VI, 3. Aufl., § 43 SGB VI (Stand: 01.04.2021), § 43 Rn. 103, 104 mit weiteren Nachweisen aus der Rspr.). Nach diesen Grundsätzen ist eine dauerhafte Einschränkung der Erwerbsfähigkeit nicht gegeben. Denn die Zeitspanne, in der ein unter dreistündiges Leistungsvermögen anzunehmen ist, beträgt lediglich fünf Monate.

Zwar geht der Vertrauensarzt ab dem 20.08.2020 von einem zeitlichen Leistungsvermögen von unter drei Stunden täglich aus. Begründet wird dies mit einer Verschlechterung der Lungenfunktion bzw. der obstruktiven Lungenerkrankung. Mitursächlich hierfür sei jedenfalls auch der fortbestehende Tabakmissbrauch. Der Vertrauensarzt stellte einen FEV1-Wert von unter 40 % des Sollwertes im Untersuchungszeitpunkt – 30 % vor und 31 % nach Broncholyse – fest. Dies sei bei der in der Vergangenheit gemessenen Lungenfunktion noch besser gewesen.

Allerdings hat der weiter beauftragte Sachverständige Dr. L im Rahmen der Untersuchung am 13.01.2021 wieder eine verbesserte Lungenfunktion festgestellt. Im Unterschied zu den Broncholysewerten im August 2020 ergab die Untersuchung im Januar einen FEV1-Wert von 41% vor und nach Broncholyse (s. Seite 15 des Gutachtens vom 15.01.2021). Auch werden eine verbesserte Vitalkapazität und eine rückläufige Lungenüberblähung festgestellt. Insgesamt ist eine Verbesserung der Lungenfunktion sowie metabolischer Messwerte im Vergleich zu August 2020 festzustellen. Der FEV1-Wert unter 40% war jedoch für den Vertrauensarzt noch maßgeblich für die Annahme eines aufgehobenen Leistungsvermögens. Nicht unwahrscheinlich dürfte die verbesserte Lungenfunktion wohl auch durch die in den letzten sechs Monaten erfolgte Reduzierung des Nikotinkonsums bedingt sein. Denn in seinem solchen Fall kommt es nicht selten zu einer Teilrückbildung der durch das Rauchen bedingten Schäden (vgl. S. 18/19 des Gutachtens vom 15.01.2021).

Dieses Ergebnis knüpft an die Feststellung des Vertrauensarztes an, welcher eine Besserung der Obstruktion nicht ausschließt, sondern bei Reduzierung des Tabakmissbrauches für möglich hält. Gestützt wird die Möglichkeit einer Verbesserung letztlich auch durch die sozialmedizinische Stellungnahme von Dr. J vom 16.10.2020, welcher davon ausgeht, dass die Untersuchung durch den Vertrauensarzt in der Situation einer Exazerbation einer Bronchitis bzw. einer akuten Verschlimmerung und nicht in einer stabilisierten Situation erfolgte.

Ausgehend von den verbesserten Messwerten im Januar 2021 erscheint daher auch die Annahme eines mehr als sechsstünden Leistungsvermögens für leichte körperliche Tätigkeiten plausibel. Überdies kann die inhalative Therapie der Bronchialerkrankung durchaus auch noch weiter intensiviert werden. Ferner sind stationäre oder notfallmäßige Behandlungen bislang nicht erfolgt.

4. Schließlich bestehen nach dem Gesamtergebnis der Beweisaufnahme auch keine ernstlichen Zweifel an der Einsatzfähigkeit des Klägers unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes. Zwar können Lasten über 5 kg nicht mehr bewegt werden und Arbeiten in monotoner Zwangshaltung, auf Gerüsten und Leitern, mit besonderer Exposition gegen Nässe, Kälte, Hitze, Zugluft, Dämpfe, Rauch und starken Temperaturschwankungen, mit Nachtschicht oder mit besonderem Zeitdruck sind nicht mehr leidensgerecht. Allerdings steht das unter 1. festgestellte positive Leistungsvermögen der Ausübung von körperlich einfachen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt anfallenden Arbeiten (z.B. Zureichen, Abnehmen, Transportieren, Reinigen, Bedienen von Maschinen, Kleben, Sortieren, Verpacken, Zusammensetzen von Teilen usw.) sowie geistig einfachen Tätigkeiten nicht entgegen. Weiter ist die Gebrauchsfähigkeit der Hände nicht eingeschränkt. Vor diesem Hintergrund bestehen in der gebotenen Gesamtschau keinerlei Zweifel an der Einsatzfähigkeit des Klägers auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter betriebsüblichen Bedingungen (vgl. Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 09.05.2012 – B 5 R 68/11 – juris Rn. 17 ff. sowie Urteil vom 11.12.2019 – B 13 R 7/18 R – juris Rn. 26 ff. zur regelmäßigen Vermutung des offenen Arbeitsmarktes). Ferner ist der Kläger – nach dem insoweit übereinstimmenden Beweisergebnis – auch auf verschiedene Art und Weise in der Lage, einen Arbeitsplatz in zumutbarer Weise zu erreichen. Anderes folgt auch nicht aus den festgestellten Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleiches G (vgl. Kolakowski, in: Kreikebohm/Roßbach, SGB VI (6. Aufl. 2021), § 43 Rn. 5). Zwar knüpft dieser Nachteilsausgleich an die Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit an, allerdings ist insoweit entscheidend, ob eine Wegstrecke von bis zu 2 Km noch in ca. 30 Minuten zurückgele gt werden kann. Dies ist nicht mit der im Rentenrecht maßgeblichen Betrachtung – Wegstrecke von ca. 200 Metern in jeweils 20 Minuten – identisch.

Da die Beklagte nicht unterliegt, kommt eine Kostenerstattung nicht in Betracht (§§ 183, 193 SGG).

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